Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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Söll, der seine theoretischen Überlegungen zwar prinzipiell allgemein verstanden haben will, aber diese rein anhand des Französischen konzipiert, stellt im Folgenden die sich überlagernden Differenzierungen zwischen code phonique vs. code graphique und code/langue parlé vs. code/langue écrit in einer Matrix dar. Bedingt durch den seit der Normierungsphase des 16./17. Jh. großen Normdruck im Französischen und die dadurch historisch gewachsene große Diskrepanz zwischen konzeptionell gesprochener und konzeptionell geschriebener Sprache, lassen sich die Unterschiede im Modell besonders gut illustrieren.
Koch/Oesterreicher (2011:3) übernehmen von Söll – unter Auslassung zahlreicher weiterer interessanter dort diskutierter Ansätze26 – genau diesem Aspekt und betonen dabei vor allem die absolute Dichotomie der medialen Opposition im Sinne einer Entweder/Oder-Relation und das Kontinuum im Bereich der konzeptionellen Differenzierung von ‚geschrieben‘ vs. ‚gesprochen‘. In der von Koch/Oesterreicher übernommenen Matrix von Söll, die sie je um ein italienisches und spanisches Beispiel ergänzen wird ein grundsätzliches Problem offenbar, nämlich, daß einerseits die Relation von konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit je Sprache eine andere ist und andererseits die mediale Repräsentation eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.27 So sollte nach Hunnius (2012:38–41) dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, grundsätzlich mehr Gewicht beigemessen werden, da die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist. Gerade in Bezug auf die neuere Kommunikation und ihre Formen (v. infra E-Mails, Chats, Online-Foren etc.) wird dies auch von Krefeld (2015a) kritisch gesehen und von Massicot (2015:112, 149–150, 190–191) empirisch gestützt, die ebenfalls die größere Abhängigkeit vom Medium hervorhebt.
Ein wesentlicher Verdienst von Koch/Oesterreicher ist es nun, mithilfe der Ergebnisse der bisherigen Forschung zu den je unterschiedlichen Implikationen von gesprochener und geschriebener Sprache sowie, damit zusammenhängend, bestimmten Kommunikationsmustern bzw. Versprachlichungsstrategien,28 ein Modell entwickelt zu haben, welches das von Söll postulierte konzeptionelle Kontinuum in Bezug auf spezifische Faktoren näher erfaßbar machen soll. Um den Grad konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit einer Äußerung zu bestimmen, schlagen sie zehn Parameter vor, die die Kommunikationsbedingungen einer konkreten Äußerungssituation beschreiben sollen: Grad der Öffentlichkeit, Grad der Vertrautheit (der Kommunikationspartner), Grad der emotionalen Beteiligung, Grad der Situations- und Handlungseinbindung, Referenzbezug (Bestimmung der Sprecher-origo), Grad der physischen Nähe (der Kommunikationspartner), Grad der Kooperation (Mitwirkungsmöglichkeiten), Grad der Dialogizität, Grad der Spontaneität, Grad der Themenfixierung (Koch/Oesterreicher 2011:7). Mit Hilfe dieser Parameter ist nun für sie jede Äußerung innerhalb des von ihnen so genannten Kontinuums zwischen kommunikativer Nähe und kommunikativer Distanz exakt zu verorten.29
Nichtsdestoweniger wurden mit dieser Zusammenstellung wichtige Anhaltspunkte zur Einordnung von Gesprächssituationen geliefert, die dann die beiden Autoren in Korrelation zu bestimmten Versprachlichungsstrategien setzen, dargestellt in der inzwischen bekannten Graphik eines Parallelogramms, in der die mediale Differenzierung der Sprache (graphisch/phonisch) und das konzeptionellen Nähe-Distanz-Kontinuum verknüpft werden. Der Grad von Nähe bzw. Distanz wird dabei durch die genannten Kommunikationsbedingungen determiniert und äußert sich in Form von bestimmten Sprachphänomenen und Versprachlichungsstrategien in einer konkreten Äußerung in einer bestimmten Sprache (cf. Nähesprechen vs. Distanzsprechen). Im Zuge dieser Korrelierung wird auch deutlich, daß es zwischen dem graphischen Code und der Distanzsprache sowie zwischen dem phonische Code und der Nähesprache eine bestimmte Affinität gibt (Koch/Oesterreicher 2011:12). Hierbei sei noch darauf verwiesen, daß die Parameter der Versprachlichungsstrategien – aufgeführt sind nur Art der Kontextpräferenz, hoher/niedriger Planungsgrad, Vorläufigkeit/Endgültigkeit, Aggregation/Integration – noch kürzer als die Kommunikationsbedingungen abgehandelt werden (weitere Erläuterungen u. Parameter in Koch/Oesterreicher 1985:21–23), obwohl angesichts der dort durchgeführten Anwendung auf die drei romanischen Sprachen eigentlich das Gegenteil der Fall sein müßte.30
Indem Koch/Oesterreicher (2011:14) noch auf den Begriff ‚Diskurstradition‘ rekurrieren und diesen ebenfalls zu einem wichtigen Pfeiler ihres Gesamtmodells machen, vervollständigen sie zum einen das Erklärungsmuster, wieso Mündlichkeit anderen Regeln unterworfen ist als Schriftlichkeit, und können zum anderen gleichzeitig argumentieren, inwiefern jedwede Äußerung bestimmten Traditionen und Normen unterworfen ist.31
Das Konzept der Diskurstradition geht prinzipiell auf Coseriu (1980) zurück, doch wurde es auch durch Arbeiten von Schlieben-Lange (1983) und anderen maßgeblich mitgeprägt, bis schließlich Koch (1988) den eigentlichen Begriff ‚Diskurstradition‘ einführte und näher bestimmte. Im Weiteren entstanden dann prägende Arbeiten von Koch (1997), Oesterreicher (1997) sowie Aschenberg/Wilhelm (2003), Wilhelm (2001) und Kabatek (2011) zu diesem wichtigen Konzept, welches auch in vorliegender Arbeit eine tragende Rolle einnehmen wird.
Mit ‚Diskurstradition‘ wird ein wichtiger Aspekt des Coseriu’schen Diasystems charakterisiert, insofern eine historische Einzelsprache von bestimmten Traditionen des Sprechens bzw. Schreibens geprägt ist. Im Zuge seiner Textlinguistik exemplifiziert Coseriu, wie die Produktion von (schriftlichen) Äußerungen nicht nur der Norm einer Sprache unterliegt, sondern auch gewissen historisch gewachsenen Traditionen der Versprachlichung:
Einen Text aufgrund der Kenntnis einer besonderen Texttradition („Sonett“, „Roman“) und aufgrund einer einmaligen Intuition als Gefüge von individuellen Redeakten produzieren. (Coseriu 1994:46)
Im Hinblick auf die Frage nach der Angemessenheit einer Äußerung bzw. eines Diskurses nimmt Koch die Coseriu’sche Frage nach einer spezifischen Norm für einen Diskurs auf und beantwortet diese damit, daß hierbei gewisse Regeln wirksam werden, die zusätzlich zur allgemeinen Sprachnorm einer bestimmten Einzelsprache funktionieren.
Doch orientiert sich die Angemessenheit nicht nur an den idiosynkratischen Parametern des je individuellen Diskurses, sondern auch an den Traditionen, in denen er steht. Dies sind einerseits natürlich die Sprachnormen, und andererseits aber – gewissermaßen querliegend dazu – bestimmte Diskurstraditionen, die offensichtlich als Diskursnormen intersubjektiv gültig sind und den jeweiligen Sinn eines Diskurses mitkonstruieren: Textsorten, Gattungen, Stile etc. (Koch 1988:341–342)
Im Weiteren verweist Koch (1988:342) auf bestimmte Diskursregeln, die zwar auf Sprachregeln basieren, aber nicht unbedingt einzelsprachlich gebunden sind; sie sind konventionell und historisch gewachsen und damit konstitutiv für eine bestimmte Art des Diskurses.
Zu ergänzen ist dazu noch, daß Diskurstraditionen mehr sind als Textsorten, literarische Gattungen oder Stile, denn Diskurstraditionen sind nicht nur auf die Schriftlichkeit beschränkt, im Gegenteil, das gesamte Spektrum menschlicher Äußerungen, im Sinne eines Textes (in weitester Auslegung) bzw. Diskurses ist durch bestimmte historisch gewachsene Traditionen strukturiert. Das schließlich von Wilhelm (2001) synthetisierte Verständnis von Diskurstradition ist zentral für das von Koch/Oesterreicher entworfene Gesamt-Modell, denn einzelsprachliche Phänomene sind prinzipiell immer auch im Kontext ihrer diskurstraditionellen Verankerung zu untersuchen, damit sie varietätenlinguistisch zu verorten sind.
Jeder Text/Diskurs steht in einer bestimmten Diskurstradition, er befolgt die Regeln einer bestimmten Textgattung. So wie der Sprecher für seinen Äußerungsakt eine bestimmte Einzelsprache oder ein einzelsprachliches Register auswählt […], so muß er sich auch für eine bestimmte Diskurstradition […] entscheiden. So wie es keine sprachliche Äußerung ‚außerhalb‘ einer historischen Einzelsprache geben kann […], so kann es auch kein Sprechen ‚außerhalb‘ einer bereits etablierten Diskurstradition geben: Unser Sprechen bedient sich notwendig der Form des Grußes, der Gedichtsammlung, des Telephongesprächs, des Briefes usw. Jede Rede ist einzelsprachlich, und sie ist gattungshaft, diskurstraditionell geprägt (Wilhelm 2001:467).
Im Rahmen ihrer theoretischen Überlegungen, die letztlich darauf abzielen, sprachliche Variation und Varietäten adäquat beschreiben zu können, insbesondere im Bereich der Mündlichkeit, versuchen nun Koch/Oesterreicher aus den bisher beschriebenen Grundpfeiler – d.h. Konzeption/Medium (Söll), Diasystem (Coseriu), Diskurstraditionen (Koch et al.), Nähe/Distanz (Koch/Oesterreicher) – eine Synthese, indem sie die Parameter ,Mündlichkeit/Schriftlichkeit‘ und Nähe/Distanz in das Coseriu’sche Diasystem integrieren und dabei eine vierte Dimension erschaffen (cf. Koch/Oesterreicher 2011:16).
In ihrem System des Varietätenraums gibt es – ganz analog zu Coseriu – die Dimensionen diatopisch, diastratisch, diaphasisch, die als markiert apostrophiert werden und die Dimension der nicht-markierten Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit. Diese neue Ebene ,gesprochen/geschrieben‘ (im konzeptionellen Sinn) verfügt nun über die Pole ‚Nähe‘ vs. ‚Distanz‘ und ist in sich wiederum in zwei Ebenen gegliedert, wobei die erste innerhalb des Nähe-Distanz-Kontinuums auf den universalen Aspekt rekurriert und die zweite auf spezifisch einzelsprachliche Phänomene Bezug nimmt. Die Strukturierung der einzelnen Ebenen des Varietätenraums ergibt sich aus dem von Coseriu entlehnten Konzept der Varietätenkette,32 die in der Interpretation von Koch/Oesterreicher (2011:16) besagt, daß bestimmte sprachliche Phänomene im Zuge einer Veränderung ihrer Funktion innerhalb einer Sprache prinzipiell entlang der Dimensionen diatopisch → diastratisch → diaphasisch → unmarkierte Nähesprache/Distanzsprache aufrücken können, und zwar unidirektional allein in dieser Abfolge (und ggf. auf einer „Teilstrecke“ davon).33
Das unbestreitbare Verdienst des in zahlreichen Publikationen immer wieder mit neuen Nuancen bedachten Modells von Koch/Oesterreicher liegt sicherlich darin, wichtige Aspekte und Bedingungen im komplexen Gefüge von mündlicher und schriftlicher Kommunikation sichtbar und faßbarer gemacht zu haben. Dazu gehört vor allem die konsequente Weiterentwicklung der Söll’schen Dichotomie von Medium vs. Konzeption und die Etablierung des Nähe-Distanz-Kontinuums mit den sie konstituierenden Parametern sowie die Entwicklung des Konzeptes der Diskurstraditionen. Obwohl prinzipiell zunächst zur Erfassung des aktuellen synchronen Varietätenraums einer Sprache konzipiert, eignet sich das Modell auch zur Erfassung von historischen Sprachsituationen.34 Dabei kommt neben den Diskurstraditionen auch den im Rahmen ihrer Theorie entwickelten Begrifflichkeiten zur Kennzeichnung der Transferprozesse eine wichtige Bedeutung zu. So wird strikt zwischen der medialen Verschriftung (phonisch → graphisch) bzw. Verlautlichung (graphisch → phonisch) und der konzeptionellen Verschriftlichung (gesprochen → geschrieben) bzw. Vermündlichung (geschrieben → gesprochen) unterschieden, wobei der konzeptionelle Bereich als Kontinuum zu verstehen ist (cf. Oesterreicher 1993:271–272; Koch/Oesterreicher 1993:587; 2001:587).35
Das Koch/Oesterreicher-Modell mit all den hier geschilderten Facetten ist im weiteren einerseits auf große Akzeptanz gestoßen und wurde immer wieder rezipiert,36 andererseits gab es im Zuge dieser vertieften Auseinandersetzung mit dieser Theorie auch zahlreiche kritische Hinweise auf inhärente Probleme. Kabatek (2003:203–204), Schöntag (2014:512–519) und Krefeld (2015a:265–268) fassen einige der wichtigsten Kritikpunkte zusammen, wobei der Hauptaspekt die Streitfrage ist, ob es zwingend notwendig ist, den unmarkierten Nähe/Distanz-Bereich als eine vierte Dimension zu eröffnen.37 Wie bei Kabatek zurecht vermerkt, gerät dabei die Bedeutung des medialen Aspektes, z.B. bei der Herausbildung einer Distanzsprache in einer Schriftkultur, ins Hintertreffen und vor allem ist es ganz prinzipiell kontrovers, ob diese – diamesischen Unterschiede, wie es Mioni (1983:508–509) ohne die Differenzierung von Konzeption und Medium nennt – nicht Teil der Diaphasik sind.38 In der Kritik stehen auch die Überschneidung von Diaphasik und Diastatik, die Varietätenkette bzw. ihre Unidirektionalität sowie die Vermischung von universalen und einzelsprachlichen Kriterien.39
Merkwürdig allein in der Graphik zum Varietätenraum erscheint m.E. aber auch, daß hier eine wohl eher nicht beabsichtigte Affinität von ‚Nähe‘ und ‚niedrig‘ suggeriert wird, denn im Zuge der Darstellung des Kontinuums innerhalb der einzelnen Ebenen (diatopisch stark/schwach, diastratisch niedrig/hoch, diaphasisch niedrig/hoch) wird explizit die linke Seite des gesamten Spektrums als ‚gesprochene Sprache‘ im weiteren Sinne gefaßt (cf. Koch/Oesterreicher 2011:17). Unzweifelhaft ist es jedoch möglich ein stilistisch als eher ‚hoch‘ einzuordnendes Gespräch/Rede noch dem Bereich der konzeptionellen Mündlichkeit und damit der Nähesprache zuzurechnen – man kann sich durchaus elaboriert ausdrücken (z.B. im Rahmen eines Seminars) und trotzdem sind Merkmale wie Hesitationen, Anakoluthe etc. zu registrieren.
Eine damit verknüpfte Fragestellung ist die der Verankerung der Standard- oder Normvarietät einer Sprache in diesem Modell oder neutraler formuliert die Referenzvarietät.40 Wie Dufter (2018:67–69) zu Recht festestellt ist es nicht unproblematisch, die üblicherweise als diatopisch ,neutral/unmarkiert‘, diastratisch ,höhere Gesellschaftsschicht‘, diaphasisch ‚höheres Register‘ verstandene variété zéro (ibid. 2018:67) eindeutig zu verorten, zumal wenn es sich um nicht-standardisierte Sprachen – das sind die meisten der Welt – oder plurizentrische Sprachen handelt.
Weitere Probleme des Modells ergeben sich vor allem im Bereich der konkreten Anwendung wie am empirischen Teil von Koch/Oesterreicher (2011) selbst deutlich wird.
So beginnt das Kapitel zur Italienischen Nähesprache im weiteren Sinne, in welchem diastratische und diaphasische Merkmale zusammen untersucht werden, mit einer Apologetik:
Dass wir diese Mittelzone im folgenden Abschnitt zusammenfassen, heißt nicht, dass wir den bedeutsamen Unterschied zwischen der diastratischen und der diaphasischen Varietätendimension verwischen wollen. (Koch/Oesterreicher 2011:208)
Dies mag theoretisch glaubhaft und begründet sein, aber die weiteren Ausführungen zu den einzelnen Stilregistern (Diaphasik) und den einzelnen schichtengebundenen Varietäten (Diastratik) zeigen, genauso wie die angesprochenen einzelnen Merkmale, daß die Unterscheidung tatsächlich nicht ohne weiteres aufrechtzuerhalten ist. Exemplifizieren läßt sich das an der Behandlung des italiano popolare, welches sie als eine genuin diastratische Varietät (ibid. 2011:208) bezeichnen, und zwar im Gegensatz zum français populaire, welches strikt diaphasisch wäre. Dann sind sie jedoch gezwungen zu konstatieren, daß es generell im Italienischen keine lautlichen Merkmale gibt, die „genuin diastratisch oder diaphasisch markiert“ (ibid. 2011:2009) wären. Im Bereich der Morphosyntax wiederum gäbe es wiederum „praktisch keine morphosyntaktischen Erscheinungen, die genuin diaphasisch niedrig markiert sind“ (ibid. 2011:210). Zwischenresümee wäre dann, daß in der Lautung aus diastratischer und diaphasischer Perspektive keine Merkmale vorhanden sind (nur sekundäre aus der Diatopik) und in der Morphosyntax nur diastratische, also solche des italiano popolare. Was die Lexik anbelangt, so ist die Diastratik hier im Prinzip auf Gruppensprachen beschränkt (gerghi) (ibid. 2011:211), es sind also keine bzw. kaum Merkmale festzustellen, die dem italiano popolare im Sinne einer schichtenspezifischen Sprache zuzurechnen wären. Aus ihrer eigenen Argumentation, nach der ja prinzipiell Phänomene von der diastratischen Dimension in die diaphasische aufrücken können, wäre an dieser Stelle doch eigentlich die Schlußfolgerung nötig, daß das italiano popolare im Italienischen, offensichtlich auch auf der diaphasischen Ebene funktioniert.41 Zudem wird offensichtlich, daß beide Dimensionen, zumindest für das Italienische, kaum zu trennen sind, sonst gäbe es zahlreichere und salientere Unterscheidungsmerkmale. Weiterhin wird ebenfalls deutlich, daß innerhalb der Diastratik – von Gruppensprachen abgesehen – keine weiteren Schichten des Substandards faßbar sind und in der Diaphasik die verwendeten Begrifflichkeiten kaum zuzuordnen sind, wie sie selbst eingestehen.42
Was die Italienische Nähesprache im engeren Sinne anbelangt, d.h. die Dimension der unmarkierten Mündlichkeit, so konzentrieren sich die herausgefilterten Merkmale im Wesentlichen auf die Morphosyntax (ibid. 2011:213). Gerade bei so manchem der hier aufgelisteten sprachlichen Charakteristika stellt sich jedoch unweigerlich die bereits von zahlreichen Kritikern angesprochene Frage, ob dies nicht doch eher eine Frage des Registers ist. Betrachtet man beispielsweise das System der Demonstrativa, in dem zwischen dem dreistufigen im Schriftlichen und dem zweistufigen im Mündlichen unterschieden wird, so ist zumindest zu bezweifeln, ob das Modell der präskriptiven Norm in konzeptionell und medial schriftlichen Texten noch durchgehalten wird. Über aller Differenzierung schwebt zudem im Italienischen immer die Frage nach der diatopischen Prägung, was eine Einordnung in die Dimensionen der Diastratik/Diaphasik und erst recht in die vierte der Unmarkiertheit erheblich erschwert. Koch/Oesterreicher (2011:213–214) gestehen für die Nähesprache im engeren Sinne ein, daß aufgrund der diatopischen Implikationen für das Italienische hier keine Aussage für den lautlichen Bereich getroffen werden kann, woran sich jedoch unweigerlich die Frage anschließt, wieso dies dann ohne weiteres für andere Bereiche möglich sei.
Damit soll nicht etwa das Modell per se in Frage gestellt werden, sondern lediglich, daß unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Varietätenräume haben, die je auf eine andere Art und Weise funktionieren. Es hat wohl durchaus seine Berechtigung, daß Söll einst seine begrifflichen Unterscheidungen am Französischen entwickelte, da in dieser Sprache der Abstand zwischen gesprochener und geschriebener Sprache enorm groß ist. Dies ist auf die starke Normierungsphase, die das Französische durchlief, zurückzuführen und die noch immer starke Präsenz einer präskriptiven Norm, die wohl auch dazu beitrug, daß sich ein dezidiertes Bewußtsein für Stilregister herausgebildet hat.43 Zudem hat sich das Französische – zumindest in Frankreich – zu einer Sprache mit sehr schwacher diatopischer Ausprägung entwickelt.44 Mit anderen Worten: Wenn eine Sprache in das Koch/Oesterreicher-Modell paßt, dann am ehesten das Französische. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist vor allem, daß man das Coseriu-Koch/Oesterreicher-Modell flexibler handhabt und nicht der Versuchung erliegt, alle „Leerstellen“ mit sprachlichen Merkmalen und Kategorien auffüllen zu müssen.
Das Problem der „Enge“ des Modells, und zwar schon des ursprünglichen bei Coseriu, wird genau an der besprochenen Schnittstelle zwischen Diaphasik und Diastratik virulent, wie sich in der umfangreichen Forschung zu varietätenlinguistischen Fragestellungen auf der Basis des Diasystems zeigt.45 Problematisch erscheint vor allem die Frage, wie die diastratische Ebene in modernen Gesellschaften zu verstehen ist, in denen es keine ausgeprägten Schichten mehr gibt, bei denen durch ein entsprechendes Standes- oder Klassenbewußstein auch die Art der sprachlichen Äußerung eben an diese Gesellschaftsschicht (lat. stratum) gebunden ist. Andererseits sind die (post)modernen Gesellschaften nach wie vor in verschiedene Gruppen gegliedert, aber zum Teil eben in anderer Form, wobei stärker als zu früheren Zeiten ein Individuum oft an vielen verschiedenen sozialen (und sprachlichen) Gruppen partizipiert. Letztlich hat es sich in weiten Teilen der Forschung eingebürgert den Begriff ‚diastratisch‘ sowohl für bestimmte an Schichten gebundene Varietäten zu verwenden, als auch im Sinne von Gruppen-, Sonder- und Fachsprachen.46 Das mag unter Umständen vertretbar sein, wenn man eine Gesellschaftsschicht im Sinne einer großen Gruppe interpretiert, aber wirklich schlüssig ist diese Vermengung von Ebenen nicht. Hinzu kommt, daß innerhalb von einzelnen Gruppensprachen – zu bestimmen nach Parametern wie Alter, Geschlecht, Beruf etc. – wiederum eine große Heterogenität festzustellen ist.47
Der Versuch, diese im Zuge weiterer Forschung vermehrt in den Fokus geratenen Bereiche gruppensprachlich bedingter Kommunikation zu klassifizieren, mündete vor allem in der Romanistik in eine Explosion der dia-Begrifflichkeiten. Eine erste Erweiterung erfuhr dabei das Coseriu’sche Dreierschema durch die Auseinandersetzung mit der metalexikographischen Forschung (cf. Hausmann 1977, 1989) und wurde bis hin zu einer extremen Ausprägung bei Schmidt-Radefeldt (1999)48 oder Thun (2000) betrieben. Die Blickweise schwankt letztendlich zwischen einer Gleichberechtigung aller neu konzipierten dia-Ebenen und der Unterordnung aller neuen unter das Dach der Diastratik. In beiden Fälle stößt das zunächst kompakte Modell – das ja auch schon von Anfang an umstritten war – an die Grenzen seiner Belastbarkeit.49
Vergessen wird dabei oft, daß die Qualität der einzelnen Varietäten bzw. Ebenen im Modell sehr heterogen ist und letztlich nur die diatopische Ebene den Anspruch erheben kann, ein vollwertiges in sich geschlossenes Sprachsystem zu sein, wie bereits Coseriu konstatierte (cf. Coseriu 1988:51).
In allen anderen Fällen stellt sich die unweigerlich die Frage: wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät sprechen zu können? Oder anders ausgedrückt: wieviele sprachliche Merkmale, im Sinne der Abweichung von einer Norm, sind nötig,50 damit man sinnvollerweise annehmen kann, daß hierbei eine eigene Varietät vorliegt?51
Die Frage läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten, auch deshalb nicht, weil es nicht nur auf die Anzahl der Charakteristika ankommt, die konstitutiv für eine Varietät sein sollen, sondern auch auf die Verankerung einer solchen im Sprecherbewußtsein.52 Unter Umständen reicht ein einziges Merkmal im Sinne eines Schibboleths, wie beispielsweise ein uvularer Vibrant oder Frikativ [ʀ, ʁ], bereits aus, um einen Italophonen regiolektal zu verorten, weil es sich um ein salientes Merkmal einer bestimmten Region handelt (wenn auch nicht ausschließlich)53 – oder eine jede noch so geringe diatopisch markierte Veränderung vom entdialektalisierten Pariser Becken erweist sich bereits als äußerst auffällig.54 Hingegen sind Merkmale, wie sie Endruschat/Schmidt-Radefeldt (2008:222–226) unter dianormativ oder diaplanerisch aufführen, nicht als eigentliche Varietät zu verstehen, sondern Teil der Sprachpolitik oder eines historischen Normierungsprozesses und das, was sie unter diaevaluative Varietät subsumieren, Teil eines Stilregisters, genauso wie unter Umständen Elemente der als diafrequent bezeichneten Dimension.55
Es sei hier tabellarisch noch einmal die Vielfalt der heutzutage existierenden dia-Begriffe zusammengestellt und dabei gleichzeitig die Frage gestellt, wie sinnvoll diese dia-Proliferation sein kann?
Coseriu (1958) Koch/Oesterreicher (1990) Hausmann (1979, 1989) Schmidt-Radefeldt (1999) Thun (2000) diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch diaphasisch diaphasisch diaphasisch diasexuell diasexuell Nähe-Distanz (diamesisch) diamedial diagenerationell diagenerationell diaevaluativ diaphasisch diaphasisch diatextuell diamedial dialingual diakonnotativ diakonzeptionell diatopisch-kinetisch dianormativ diatechnisch diareferentiell diaintegrativ diasituativ diatechnisch diatextuell diafrequent diaevaluativ diachronisch diafrequentativ diaintegrativ dianormativ diaplanerischAbb. 1: Übersicht zu den dia-Begriffen










