Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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Anschließend an diese kursorischen Ausführungen zur Hermeneutik, die in erster Linie dem Traditionsstrang der traditionell verstandenen Philologie zuzurechnen ist, aber auch in anderen Disziplinen gewinnbringend Anwendung findet,138 sollen nun die disiecta membra der Literatur- und Sprachwissenschaft wieder zusammengeführt werden und zusätzlich Aspekte der Nützlichkeit dieser Vorgehensweise auch für die linguistische Analyse herausgestellt werden.139
Auf bestimmte Konvergenzen beider Fachdisziplinen hat auch Leo Spitzer (1887–1960) hingewiesen, der sich in seinen Schriften oft sowohl mit literaturwissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hat als auch mit solchen der schwer einzuordnenden Stilistik. In seinem erstmals auf Englisch erschienen Buch Linguistics and Literary History (1948) gibt er in seinem einleitenden Aufsatz einige wichtige, eher praxisorientierte Leitgedanken zum Umgang mit literarischen Texten.
Warum behaupte ich so nachdrücklich, daß es unmöglich ist, dem Leser eine schrittweise Anleitung zum Verständnis eines Kunstwerks an die Hand zu geben? In erster Linie, weil der erste Schritt, von dem alles abhängen kann, nie im Vorhinein geplant werden kann: er muß schon stattgefunden haben. (Spitzer 1969:31)
Im Weiteren präzisiert Spitzer (1969:31) diesen ersten Schritt, der darin bestehen sollte, daß man über ein bestimmtes Detail eine Erkenntnis gewinnt, sodann diese mit dem gesamten literarischen (Kunst)Werk in Relation setzt, dazu eine Theorie konzipiert und aus dieser Konstellation heraus eine bestimmte Fragestellung an den Text heranträgt. Voraussetzung ist dabei nicht nur eine gewisse Erfahrung, Begabung und ein methodisches Vorgehen, sondern auch ein wiederholtes Lesen. Die Untersuchung eines Textes ist dabei von einer gewissen Zirkularität geprägt, denn erst wenn für einen bereits einen Zugang besteht, kann man weiteren bzw. tieferen Zugang erlangen, was er tautologisch dahingehend synthetisiert, „daß Lesen wirklich bedeutet, gelesen zu haben, und daß Verstehen bedeutet, verstanden zu haben“ (Spitzer 1969:32).140
Ein anderer wichtiger Hinweis Spitzers in Bezug auf das hermeneutische Vorgehen ist in der Mahnung zur Vorsicht bei der Analyse verschiedener Kunstwerke zu sehen, da die Verschlüsselung durch die Sprache eine je spezifische darstellt.
Der Grund dafür, daß der Schlüssel zum Verständnis nicht mechanisch von einem Kunstwerk auf das andere übertragen werden kann, liegt in der künstlerischen Ausdrucksweise selbst. (Spitzer 1969:33)
Dieser Gedanke ist insofern von Belang, als bei einer Analyse jeder Text und vor allem Texte verschiedener Produzenten immer wieder auf die Art ihrer Zugänglichkeit hin befragt werden müssen oder konkreter ausgedrückt: Ist die applizierte Methode in vorliegendem Fall noch valide oder womöglich zu variieren?
Spitzers Ausführungen sind dabei unabhängig davon zu sehen, ob die Frage einen eher literaturwissenschaftlichen oder sprachwissenschaftlichen Hintergrund hat, und somit für vorliegende Untersuchung in jedem Fall von Relevanz. Die Erarbeitung einer Fragestellung, die nicht ohne vorheriges Sich-Auseinander-Setzen mit dem schriftlichen, künstlerischen Produkt – dazu zählt auch ein Traktat – möglich ist, soll hier genauso Beachtung finden wie die Berücksichtigung der sprachlichen (bzw. stilistischen) Implikationen der je einzelnen Texte, die unter Umständen eine andere Herangehensweise erfordern könnten.
Zuletzt sei nun auf den bereits mehrfach formulierten (cf. Kap. 1) zentralen Aspekt der hier geplanten analytischen Methode eingegangen, nämlich auf die Rekontextualisierung. Diesen Terminus verwendet Oesterreicher (1998:21–22) mit Rückgriff auf Fleischman (1990:37) als Schlüsselbegriff,141 um auf die Bedeutung der notwendigen Rekonstruktion des Kommunikationsraumes (bzw. des Produktions- und Rezeptionskontextes), in dem ein historischer Text einst funktionierte, hinzuweisen. Seine Herangehensweise ist vor dem Hintergrund des von ihm mitentwickelten Konzeptes von Nähe-Distanz zu sehen (cf. Koch/Oesterreicher 2011), so daß für ihn die zentrale Frage zunächst lautet, welche Kommunikationsbedingungen bei einem bestimmten Text anzusetzen sind (cf. Kap. 3.1.1). Jeder Diskurs und jeder Text ist eingebettet in einen bestimmten Handlungszusammenhang mit wiederum spezifischen Kommunikationsbedingungen wie ‚Grad der Öffentlichkeit‘, ‚Grad der Vertrautheit der Partner‘, ‚Grad der emotionalen Beteiligung‘ und ’physischen Nähe der Kommunikationspartner‘, ‚Grad der Kooperation‘, ‚Grad der Dialogizität‘142 oder ‚Grad der Themenfixierung‘.143 Während (mündliche) Nähediskurse im Allgemeinen stark von einer außersprachlichen Situations- und Handlungseinbettung gekennzeichnet sind, so daß deren Bedeutung nur unter Kenntnis dieses Kotextes rekonstruierbar ist, sind (schriftliche) Distanzdiskurse prinzipiell mit expliziteren Referenzbezügen ausgestattet. Handelt es sich jedoch um Schriftprodukte, deren Entstehungszeit nicht mehr ohne weiteres mit den aktuellen Parametern bestimmt werden kann, so kann sich die adäquate Einordnung – insbesondere von literarischen Texten, aber auch von juristischen, historiographischen, theologischen und anderen komplexen Gebrauchstexten – deutlich schwieriger gestalten.144 Dies liegt unter anderem daran, daß vor allem bei historisch weiter zurückliegenden Kommunikationssituationen, in denen einst ein bestimmter Text eingebettet war, die Beleglage für die Zeit womöglich lückenhaft ist – sicherlich jedoch in irgendeiner Weise defizitär. Ganz prinzipiell ist es jedoch auch der Tatsache geschuldet, daß es bei schriftlich niedergelegten Diskursen immer zu einer, wie es Oesterreicher (1998:22) nennt, „raum-zeitliche[n] Entkoppelung der Kommunikationssituation“ kommt oder, wie es Ehlich (2010:542) ausdrückt, zu einer „zerdehnten Sprechsituation“. Aus dieser Konstellation heraus plädiert Oesterreicher für eine umso größere Notwendigkeit, diachrone Schriftzeugnisse in ihre ursprüngliche Kommunikationssituation zu rekontextualisieren:
Die texthermeneutische Frage stellt sich jedoch insofern verschärft, als sich unter Umständen keine oder nur unvollständige oder einfach zu wenig historische Informationen zum jeweiligen kommunikativen Geschehen beibringen lassen. Trotzdem sind diese Texte grundsätzlich daraufhin zu befragen, wie sich ihre uns vorliegende schriftlich fixierte Form zu einem originären kommunikativen Geschehen verhält, das in der Regel zumindest in seiner Grundstruktur rekonstruiert werden kann. Den allgemein hermeneutisch zu konzipierenden Prozeß dieser Rekonstruktion der verschiedenen semiotischen Bezüge der Texte durch den Betrachter bezeichne ich im folgenden als Rekontextualisierung, die teilweise auch als eine Re-Inszenierung von Texten verstanden werden kann. (Oesterreicher 1998:22–23)
Im Zuge dieses hermeneutischen Vorgehens sind sowohl Implikationen, die aus der jeweiligen diskurstraditionellen Verankerung eines Textes resultieren, zu berücksichtigen, als auch solche, die sich durch den Verschriftungs- und Verschriftlichungsprozeß ergeben.145 Ziel ist es dabei, letztendlich die „Verluste“ des kommunikativen Rahmens einer historischen Konstellation soweit als möglich auszugleichen und die einstige „diskursive Einbettung“ wiederherzustellen (Oesterreicher 1998:24).146
Im Zuge seiner Überlegungen zur Problematik historischer Schrifterzeugnisse führt Oesterreicher (1998:26–27) noch einen weiteren Begriff ein, nämlich den der Textzentrierung. Darunter versteht er einen „schriftkulturelle[n] Prozeß, bei dem die ‚Ausblendung‘ der mit Diskursen ursprünglich verbundenen Vielfalt semiotischer Ausdrucksmodalitäten sich historisch sukzessive fixieren und diskurstraditionell festschreiben kann“ (Oesterreicher 1988:26). Dabei geht es vor allem um die beispielsweise in der mittelalterlichen Dichtung sichtbar werdenden Verfahren bei der Herausbildung von schriftlichen Diskurstraditionen, die zum Teil auf mündlichen Vorläufern basieren. In diesem Prozeß der Neukonstituierung treten bestimmte semiotische Verfahren eines Nähediskurses in den Hintergrund, während andererseits Textualitätsanteile zunehmen (Oesterreicher 1998:27).
Ohne prinzipiell diesen Prozeß und die damit verbundenen Veränderungen in der Kommunikation in Abrede stellen zu wollen, erscheint doch der wesentlichere Aspekt dieser beiden, die Oesterreicher (1998:27) „wohlunterschieden“ wissen möchte, derjenige der Rekontextualisierung zu sein. Aus diesem Grund soll dieses Prinzip, welches wichtige hermeneutische Verfahren impliziert, auch in vorliegender Untersuchung zentraler Bestandteil sein und als „Gegengewicht“ zu einer rein nach modernen linguistischen Termini ausgerichteten Textinterpretation (cf. Kap. 3.1) fungieren.
Im Rahmen der in der einleitenden Zielsetzung beschriebenen Methodik des Vorgehens in Bezug auf die Analyse der frühneuzeitlichen Texte (cf. Kap. 1.4) bildet die Herangehensweise mittels aktueller varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Begrifflichkeiten, deren Grundlagen bereits erläutert wurden (cf. Kap. 3.1), den Fokus vorliegender Untersuchung. Eine rein auf dieser Methode fußende Analyse würde jedoch Gefahr laufen, voreilige oder ganz allgemein zu kurz greifende Ergebnisse zu folgern, vor allem im Hinblick auf eine womöglich überinterpretierte Modernität – im Sinne eines aktuellen linguistischen Verständnisses – der untersuchten Texte. Daher ist die hier vorgestellte Rekontextualisierung, im Sinne einer adäquaten zeitgeschichtlichen Verortung – und diese impliziert allgemein historische Epochenbezüge genauso wie spezifisch literarische –, unabdingbar, um eine geistesgeschichtliche Entwicklung, wie hier geplant, nachzuzeichnen. Diese Rekontextualisierung, wie sie von Oesterreicher (1998) im Hinblick auf eine sprachwissenschaftliche Nutzbarkeit hin konzipiert wurde, ist dabei nicht denkbar ohne die Tradition der klassischen Hermeneutik, spricht er doch selbst von der „Hermeneutik der Rekontextualisierung“ (Oesterreicher 1998:21).147
Unabhängig von den bei Oesterreicher nur kursorisch angesprochenen Bezügen zu dieser Disziplin, schien es daher notwendig, einige entscheidende Aspekte der hermeneutischen Analyse aufzugreifen. Dabei ging es nicht darum, sich dezidiert einem der großen Klassiker (Schleiermacher et al.) anzuschließen, sondern Überlegungen herauszustellen, die ganz konkreten Nutzen für die vorliegende diachrone Konstellation der Textinterpretation haben und als methodische Grundpfeiler fungieren können.
Die Arbeit mit Texten einer vergangenen Epoche zwingt einen somit unter Beachtung grundlegender hermeneutischer Prinzipien dazu, Relationen wie Vorstellungen bzw. Denkprozesse, Schriftzeugnisse, sprachliche Realisierung und zeitgenössischen Diskurs nur mit äußerster Vorsicht in Bezug zueinander zu setzen bzw. immer wieder neu zu überdenken und zu hinterfragen. Dieser Versuch einer Verankerung und Verortung der Korpustexte soll aus diesem Grund den zweiten methodischen Pfeiler vorliegender Untersuchung bilden und unter dem Schlagwort der Rekontextualisierung figurieren.
Das konkrete Vorgehen im Einzelnen ist dabei natürlich abhängig von der Art des Textes, seiner Strukturierung, seiner Intentionalität und seiner Bedeutung innerhalb des Diskurses. Ganz allgemein besteht das Ziel darin, jeden Text des Korpus in seinem zeitgeschichtlichen Kontext adäquat zu verorten. Bei dieser Vorgehensweise, die eine exakte Lektüre und eine umsichtige, aber dennoch dezidierte Interpretation beinhaltet, sollen die vorgestellten hermeneutischen Verfahren eine methodisch wichtige Grundlage bilden. Es geht letztendlich darum, den gegebenen Text so zu interpretieren, daß alle für die vorliegende Fragestellung relevanten Bezüge aufgedeckt werden, d.h. das untersuchte Traktat ist daraufhin zu bestimmen, welchen Platz es in der geschilderten Debatte um das Latein der Antike einnimmt, in welcher Relation es zu den anderen an diesem Disput involvierten Texten (und Autoren) steht, welche historische gesellschaftspolitische Implikationen hierbei zum Tragen kommen, welche grundlegende Zielsetzung bzw. Intentionalität ermittelt werden kann, im Rahmen welcher Diskurstradition es verfaßt wurde bzw. welche Textsorte oder Textgattung vorliegt und welche Versprachlichungsstrategien damit verbunden sind bzw. welcher stilistische Duktus damit einhergeht. Dies sei nur beispielhaft dafür angeführt, was es zu beachten gilt, wenn es darum geht, die Aufgabe der Rekontextualisierung durchzuführen. Dabei soll allerdings nicht eine Analyse der aufgezeigten Aspekte in vollem Umfang angestrebt, also z.B. alle intra- und intertextuellen Bezüge aufgezeigt werden, sondern nur solche die für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellung von Relevanz sind und die dabei helfen, den untersuchten Text in seiner Entstehungszeit und seinen historischen Kommunikationsraum angemessen einzuordnen und ihn damit so zu verstehen, wie er intendiert wurde.
4. Die Architektur des Lateins
Nachdem im vorherigen Kapitel zur Methodik der Vorgehensweise die beiden Untersuchungsebenen für die vorliegende Analyse der frühneuzeitlichen Traktatliteratur vorgestellt wurden (cf. Kap. 3) und dabei im Rahmen der varietäten- und soziolinguistischen Theorie auch ein Entwurf für ein allgemein applizierbares diasystematisches Beschreibungsmodell ausgearbeitet wurde (Kap. 3.1.3), soll nun im Folgenden eine Bestandsaufnahme der Architektur des Lateins geleistet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch, die Varietätenvielfalt des Lateins in der Antike aus moderner linguistischer Perspektive so adäquat wie möglich zu erfassen und zu beschreiben.
Der Fokus sei dabei auf das Latein der Antike gerichtet, also aus soziolinguistischer Perspektive auf seine Entwicklung bezüglich des Ausbaus als lingua viva und sein Verhältnis zu den Kontaktsprachen (Diglossie, Mehrsprachigkeit) sowie aus varietätenlinguistischer Perspektive auf seine Architektur. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht wie in der Literaturgeschichte auf der Zeit des Klassischen und Nachklassischen Lateins, sondern auf der Entstehungsphase, in der die Herausbildung von bestimmten schriftsprachlichen Diskurstraditionen und der damit zusammenhängende erste Ausbau der Sprache stattfindet (cf. Kap. 4.1).148
Weieterhin soll aber auch ein Ausblick gegeben werden auf die weitere Geschichte – d.h. in erster Linie externe – des Lateinischen im Mittelalter, seinen Übergang von einer lebendigen Sprache zu einer immer weiter erstarrenden, d.h. seine Transformation von einer lingua viva in eine lingua morta viva bzw. später in eine lingua morta (cf. Kap. 4.2).149
Im Rahmen dieses Versuches, die aktuellen sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frage der Differenziertheit des Lateins auf verschiedenen diasystematischen Ebenen zu synthetisieren, soll schließlich zur Verdeutlichung der zuvor entworfene Beschreibungsrahmen, der auf der Basis der Modelle von Coseriu und Koch/Oesterreicher beruht (cf. Kap. 3.1.3), auf die Situation des antiken Lateins angewandt werden (cf. Kap. 4.3).
4.1 Lingua viva: Latein in der Antike
Die lateinische Sprache ist Teil des italischen Sprachzweigs der indogermanischen Sprachfamilie, der sich weiter in eine latino-faliskische und eine osko-umbrische (sabellische) Untergruppe aufgliedern läßt. Die Sprachen der Italiker, die im Zuge der sukzessiven Landnahme der Indoeuropäer den geographischen Raum der italienischen Halbinsel besiedelten und die bereits bestehenden altmediterranen Sprachen und Kulturen marginalisierten, differenzierten sich vermutlich zwischen dem 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. aus (cf. Haarmann 2010:65), werden aber erst durch ihre ersten schriftlichen Zeugnisse wirklich faßbar und kategorisierbar: Das Venetische ist ab dem 6. Jh. v. Chr. in Inschriften dokumentiert,150 das Oskische ab dem 3. Jh. v. Chr, das Umbrische ab dem 3.–2. Jh. v. Chr, das Südpikenische ab dem 6. Jh. v. Chr., das Faliskische ebenso wie das Latein in gleicher Weise ab dem 6. Jh. v. Chr. (cf. Meier-Brügger 2002:32–34; E 427–430).151 Alle weiteren italischen Sprachen und Varietäten bleiben (weitgehend) schriftlos.152
Das Lateinische hat zu Beginn seiner für uns faßbaren Sprachgeschichte eine äußerst begrenzte Reichweite, fungiert es doch im Wesentlichen allein als Muttersprache einer relativ kleinen Sprechergruppe, den Latinern (lat. Latini), die den Namen der ihnen zugehörigen Landschaft Latium tragen,153 doch diese nur zu einem Teil besiedeln. Im Süden sind sie begrenzt durch die Rutiler (lat. Rutili), Volsker (lat. Volsci) und Aurunker (lat. Aurunci), dahinter im Südosten durch die Samniten (lat. Samnites), im Osten durch die Sabiner (lat. Sabini), Äquer (lat. Aequi), Marser (lat. Marsi) und Herniker (lat. Hernici), im Norden durch die Falisker (lat. Falisci) und vor allem die Etrusker (lat. Etrusci, Tusci), die militärisch wie kulturell in Mittelitalien dominierend waren (8.–4. Jh. v. Chr.) und bei der Stadtwerdung von Rom (etrusk. Ruma) einen entscheidenden Anteil hatten.154
Im Zentrum des Interesses soll hier jedoch nicht die Diskussion um die Anfänge des Lateinischen oder die Datierung einer Ausgliederung aus dem Indogermanischen stehen, sondern es soll damit vielmehr auf die ungeheure Dynamik des Lateinischen verwiesen werden, welches sich von einer begrenzten Lokalvarietät weniger Sprecher zu einer vollausgebauten Schriftsprache entwickelt hat, zu einer Herrschaftssprache, die im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche andere Sprachen und Varietäten überdacht hat und nach der koiné des Griechischen zur wichtigsten lingua franca des sogenannten klassischen Altertums wurde. Neben der Entwicklung hinsichtlich ihres Ausbaugrades und der Zunahme der Sprecher – sowohl der native speakers als auch solcher, die es als Verkehrssprache verwendeten – sei auch auf den Zeitraum des Aufstiegs verwiesen. Dabei deckt sich die sprachliche Entwicklungszeitspanne weitgehend mit der politischen, ganz nach dem Diktum Nebrijas (2011:3) „que siempre la lengua fue compañera del imperio“:
Fundiert man das mythische Gründungsdatum Roms (753 v. Chr.) archäologisch, so bekommt man ein ab urbe condita, welches ca. im 8./7. Jh. v. Chr. anzusetzen ist;155 die Expansion beginnt ab dem 5. Jh. v. Chr. und ist bis ins 3./2. Jh. v. Chr. zunächst auf Italien beschränkt, bevor dann vor allem auf Herrschaftsgebiete rund um das spätere mare nostrum ausgegriffen wird. Die größte Ausdehnung erreicht das Imperium Romanum in den Jahren 115–117 n. Chr. unter Trajan (Nerva Traianus Augustus, 98–117 n. Chr.), der durch weitreichende Eroberungen die Provinzen Dacia (106), Arabia (106), Armenia (114–117), Mesoptomia (115–117) und Assyria (115–117) einrichten konnte.156 Wichtige Etappen bzgl. sozio-politischer Veränderungen sind im Folgenden vor allem die Reichsreform (Tetrarchie, Dominat) unter Diokletian (Marcus Aurelius Gaius Valerius Diocletianus, 284–305 n. Chr.) und Konstantin (Flavius Valerius Aurelius Constantinus, 306–337 n. Chr.) sowie die Reichsteilung nach Theodosius (Flavius Theodosius, 379–395 n. Chr.) im Jahre 395 n. Chr. mit je entsprechender neuer Provinzialordnung. Sein formales Ende findet das weströmische, lateinisch geprägte Reich, welches ab dem 3./4. Jh. n. Chr. der beginnenden Völkerwanderung und zunehmenden innenpolitischen Wirren ausgesetzt ist, schließlich im Jahre 476 n. Chr. mit der Abdankung des letzten Kaisers Romulus Augustulus (475–476 n. Chr.).
Die sprachliche Parallele besteht darin, daß die ersten schriftlichen Zeugnisse bereits kurze Zeit nach der Stadtgründung auftreten (7./6. Jh. v. Chr.), erste längere Inschriften ab dem 5./4. Jh. v. Chr., literarische Texte ab dem 3. Jh. v. Chr. und das Latein seinen vermutlich größten Ausbaugrad in der klassischen und nachklassischen Periode der lateinischen Literatur erreichte (ca. 1. Jh. v. Chr.-2. Jh. n. Chr.). Der Prozeß der Romanisierung und Latinisierung, also die kulturelle und sprachliche Durchdringung der eroberten Gesellschaften, der in Italien selbst bis ins 1. Jh. v. Chr. dauerte,157 intensivierte sich in den anderen Provinzen oft erst ab dem 2./3. Jh. und war in manchen Regionen hingegen erst gegen Ende des Imperium abgeschlossen ist (3.–5. Jh.).158
Hiermit soll deutlich gemacht werden, daß man der internen Variabilität und der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Lateins der Antike nicht gerecht würde, es als eine synchrone Einheit darzustellen – dies wäre höchstens in Bezug auf das klassische Latein denkbar, welches sich innerhalb einer relativ kurzen Periode zu einer Norm- und Standardsprache entwickelte (ca. 100 Jahre).159 Das Lateinische umfaßt schließlich eine Zeitspanne von wenigstens 1200 Jahren, in der sich die Sprache sowohl in Bezug auf ihre Natur (Struktur, Lexikon, Stratifikation) als auch hinsichtlich ihres Platzes in der Gesellschaft maßgeblich gewandelt hat.
4.1.1 Die Periodisierung
Bevor nun die hier zentrale Frage nach den Varietätendimensionen des Lateins aufgegriffen wird, sei zuvor noch kurz ein Überblick über die Periodisierung der Sprache in historischer Zeit gegeben und damit auch gleichzeitig die historische Dimension des Lateinischen hervorgehoben. Die verschiedenen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte seien mit geringen Abweichungen im Wesentlichen nach dem verbreiteten Periodisierungsmodell von Meiser (2010:2, § 2) dargestellt (cf. Steinbauer 2003:509–514; Michel 2005:183–184; Müller-Lancé 2006; 21–45; Willms 2013:223), welches zwar vor allem auf syntaktischen und stilistischen Veränderungen basiert (cf. Willms 2013:223), sich damit aber auch mit den traditionellen literarischen Epochen in Einklang befindet, so daß hier kanoniserte Periodisierung mit einigen linguistischen Fakten untermauert wird. Bei anderen mehr oder weniger stark davon abweichenden Modellen ist meist insbesondere die Periode des klassischen Lateins zeitlich divergierend verortet, d.h. über das augusteische Zeitalter hinaus bis ins 3./4. Jh. n. Chr. (cf. Weiss 2009:23) oder gar bis um 400 n. Chr. (cf. Dietrich/Geckeler 2007:130 bzw. Coseriu 1987:264) ausgedehnt.
Die Frage, ab wann das Spätlatein einerseits in das Romanische und andererseits ins Mittellatein überging, ist wiederum eher Gegenstand einer anderen Diskussion, die vornehmlich die Romanistik und Vulgärlateinforschung beschäftigt (cf. Kap. 4.2).
4.1.1.1 Frühlatein
Die erste Phase der lateinischen Sprachgeschichte wird meistens als ‚Frühlatein‘160 bezeichnet und umfaßt die Zeit von den ersten schriftlichen Zeugnissen bis zum Beginn der literarischen Textproduktion, woraus sich eine Datierung vom ca. 7./6. Jh. – 240 v. Chr. ergibt. Voraussetzung für die Verschriftung des Lateins war die Übernahme der Alphabetschrift von den Etruskern, deren Schriftsystem wiederum auf ein westgriechisches zurückgeht, nämlich das euböisch-chalkidische (cf. Aigner-Foresti 2003:18; Haarmann 2004:66). Die Übernahme des etruskischen Alphabets durch die Römer und dessen Weiterentwicklung auch unter direktem griechischen Einfluß (cf. Brekle 1994:185) zu einem eigenen lateinischen Alphabet, welches der zu verschriftenden Sprache möglichst gerecht wird, ist dabei eine kaum zu unterschätzende Kulturleistung für die westliche Welt, wenn man aus einer ex post-Perspektive die heutige Verbreitung dieser Alphabetschrift und die damit geschaffene Literatur und ihre Verwendung bei Gebrauchstexten betrachtet.
Die ersten Inschriften sind oft in scriptio continua, links- oder rechtsläufig, verfaßt – manche auch boustrophedon – und zeugen von einer Entstehungsphase vor der orthographischen Normierung, d.h. z.B. Verwendung von Buchstaben wie z oder k und Schriftzeichen, die eher als griechisch oder etruskisch zu klassifizieren sind (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:191–192; Brekle 1994:185). Zu den wichtigsten frühen Dokumenten in lateinischer Sprache werden mit stark schwankender Datierung üblicherweise die folgenden gerechnet: die Manios-Spange (Fibula Praenestina, 7. Jh. v. Chr.),161 die Duenos-Inschrift (2. Viertel 6. Jh. v. Chr.) auf einem Drillingsgefäß, der Lapis Satricanus (6. Jh. v. Chr.), die Altarbasis von Tibur (6. Jh. v. Chr.), die Madonetta von Lavinium (Bronzeplatte, 6. Jh. v. Chr.), das Gefäß von Ardea (2. Hälfte 6. Jh. v. Chr.), der Lapis Niger (ca. 1. Viertel 6. Jh. v. Chr.),162 die Cista Ficoroni (cista aus Bronze, 315 v. Chr.) und das Scipionenelogium (Grabinschrift der Scipionen, Ende 3. Jh. v. Chr.) (Schmidt 1996:3; Meiser 2010:2–9, § 2–5).163










