Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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Ein wichtiges, aber nicht unproblematisches Zeugnis des Frühlateins ist das Zwölftafelgesetz (Leges duodecim tabularum), der erste längere zusammenhängende Text des Lateinischen. Ursprünglich auf Bronzetafeln festgehalten, die auf der Rednerbühne (rostra) vor dem Senatsgebäude (curia) am Forum Romanum aufgestellt waren, wurden sie womöglich im Zuge der Gallierkatastrophe (dies ater von 387 o. 390 v. Chr.) zerstört. Die uns überlieferten Textpassagen (Paraphrase oder Zitat), wie sie beispielsweise in Werken Ciceros (Marcus Tullius Cicero, 106–43 v. Chr.; De re publica, De legibus) und anderen Autoren zu finden sind, wurden partiell „modernisiert“, d.h. dem jeweiligen Sprachstand angepaßt, wodurch sie als Referenz für die Frühzeit nur eingeschränkten Wert haben (cf. Palmer 1990:67; Steinbauer 2003:511).
Ebenfalls nur indirekt überliefert sind die rituellen Gesänge der carmina salinaria und des carmen arvale. Letzteres ist ein altes Kultlied, welches die Priesterkooperation der fratres Arvales zu Ehren des Kultes der Dea Dia am 2. Festtag sang bzw. aufführte (Tanz mit Dreischritt). Überliefert ist es dank des Brauches der Bruderschaft (12 Mitglieder), Acta zu führen, so daß es in einer Inschrift auf Marmor aus dem Jahre 218 v. Chr. erhalten ist, die wahrscheinlich aber eine Kopie einer älteren Vorlage darstellt; die Sprache ist so archaisch, daß sie in historischer Zeit bereits nicht mehr verstanden wurde (cf. Kleiner Pauly IV:1511). In gleicher Weise unverständlich, auch den Priestern selbst, waren die carmina salinaria (cf. Quintilian, Inst. orat. I, 6, 40; 2001 I:180), die von den salii zu Ehren des Mars und Quirinus gesungen wurden und nur in verschiedenen späteren Fragmenten erhalten sind (cf. z.B. Varro, De ling. lat. VII, 26, 27; 1958 I:292–294).164
Das für uns in Dokumenten faßbare Latein der Frühzeit und die Umstände seiner Entstehung sind vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt und des Austausches innerhalb der italienischen Halbinsel bzw. kleinräumiger gesehen am Unterlauf des Tibers zu betrachten. Hier entsteht eine pluriethnische Gesellschaft, bestehend aus zu dieser Zeit autochthonen Elementen wie der faliskischen Kultur, der sabinischen, etruskischen und schließlich der latinischen sowie aus kolonialen wie der griechischen und phönizischen Kultur. In diesem Umfeld entsteht und formt sich die lateinische Sprache im Sprachkontakt mit ihren Nachbarn, bevor sie sich zur koiné Italiens und der westlichen Welt entwickelt:
Die ‚Herausbildung‘ des Lateins der Stadt Rom (so wie parallel dazu der verschiedenen lokalen Varietäten des Lateins außerhalb Roms) schon in archaischer Zeit ist daher das Ergebnis eines sprachlich-kulturellen Pluralismus […]. (Poccetti/Poli/Santini 2005:65)
Diese Durchdringung der einzelnen Kultur- und Sprachgemeinschaften zeigt sich beispielsweise daran, daß man sowohl etruskische Inschriften auf latinischem Gebiet gefunden hat (in Roma, Praeneste, Satricum), als auch lateinische (Tita Vendia-Vase in Caere) und altitalische (Setums-Krater in Tolfa) auf etruskischem Territorium sowie griechische (Gabii) und phönizische (Caere-Pyrgi) in beiden Regionen.165 Weitere Indizien für die Kohabitation der Kulturen sind z.B. die etruskische tessera hospitalis aus Rom (6. Jh. v. Chr.) sowie im Bereich der Anthroponomastik die sabinischen und etruskischen Namen (sab. Titus Tatius, Numa Pompilius; etrusk. Tarquinius, Servius Tullius) der stadtrömischen Geschichte (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:64–68). Die wie Meier-Brügger (2002:32, E426) es formuliert „kulturelle Koine“ unter Beteiligung der Etrusker, Latiner, Falisker und Sabeller ist dadurch charakterisiert, daß es sich um plurilinguale Gesellschaften handelt, Mehrsprachigkeit war also der Normalfall und nicht die Ausnahme.166
Poccetti/Poli/Santini (2005:66) gehen demgemäß davon aus, daß in Rom sowohl eine sabinische167 Varietät gesprochen wurde als auch eine etruskische Varietät. Dies ist vor dem Hintergrund der „Homogenisierung“ der wichtigsten Sprachräume Mittelitaliens zu sehen (mit entsprechenden Konvergenzen), dem des Etruskischen, dem des Latinischen und dem des Sabinischen (Oskischen) sowie in Zusammenhang mit den damit verbundenen gemeinsamen Akkulturationsprozessen, wie z.B. der Alphabetisierung (ibid.:76).
Dabei besteht insofern ein wichtiger Unterschied zwischen den beteiligten Kontaktsprachen, als aufgrund der engen Verwandtschaft die gegenseitigen Interferenzen zwischen dem Sabinischen und Lateinischen recht groß waren und im Zuge der Expansion des Lateinischen das Sabinische wie auch das Faliskische Teil des lateinischen Diasystems wurden. Die sich herausbildende Standardsprache selegiert dabei aus allen Varietäten dieses erweiterten Sprachsystems. Das Etruskische hingegen, dessen Andersartigkeit auch im Sprachbewußtsein der Latiner verankert war, hatte in Rom noch längere Zeit den Status einer wichtigen Prestigesprache bis ins 4. Jh. v. Chr., dokumentiert bei Livius (IX, 36), der davon berichtet, daß der Nachwuchs der Oberschicht in den etruskischen litterae unterwiesen wird (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:67).
Versucht man die Sprachsituation im Rom der Frühzeit im Lichte des sozio-linguistischen Modells von Ferguson (1959) und Fishman (1967) zu erfassen, so ergeben sich mehrere low-varieties mit dem wohl mehrheitlich verwendeten Latein sowie weiteren italischen Sprachen (Faliskisch, Sabinisch bevor sie vom Latein absorbiert wurden) und einem „umgangssprachlichen Etruskisch“, während auf der Seite der high-varieties wohl vor allem zwei Sprachen zu verorten sind, nämlich Etruskisch als lokale Distanzsprache in Etrurien sowie Griechisch als quasi omnipräsente Adstratsprache und Distanzsprache von „internationaler“ Reichweite mit einem übergeordneten Prestige. Hinzu kommt nun an dieser Bruchstelle der Sprachgeschichte das nun nach und nach verschriftete Latein, welches sich aber wohl letztlich erst mit Beginn der literarischen Periode (Altlatein) und einer konzeptionell elaborierten Verschriftlichung den Status einer vollgültigen Distanz- und Prestigesprache erarbeiten kann.
Betrachtet man nun die Frage nach dem Ausbaugrad des Lateins im Zuge der Konzeption von Kloss (1978, 1987), so ist zu konstatieren, daß sich das Latein, was die Schriftlichkeit anbelangt, zunächst nur in wenigen Diskurstraditionen bewegt, dort aber bereits einen beachtlichen Grad an sprachlicher Elaboriertheit aufweist. Steinbauer (1996:510–511), der das komplexe Bedingungssatzgefüge der Duenos-Inschrift analysiert,168 charakterisiert diese Tatsache sogar als „verblüffend“ und erklärt den scheinbar ebenfalls ex nihilo entstandenen komplexen juristischen Text des Zwölftafelgesetzes aus einer „vorhistorischen“ Fähigkeit,169 derartige Rechtsinhalte adäquat auszudrücken.
Bei genauerer Betrachtung läßt sich jedoch relativ klar nachzeichnen, daß die ersten Schriftprodukte des Lateinischen im Rahmen von verschiedenen bereits etablierten Diskurstraditionen entstanden sind, es sich dabei jedoch um eine Verschiebung der Sprache und/oder von der Mündlichkeit zur konzeptionellen Schriftlichkeit vollzogen hat.
Die wichtigsten Diskurstraditionen werden dabei von der im östlichen Mittelmeer und Vorderen Orient dominierenden griechischen Kultur übernommen, und zwar bereits vor der Zeit des Hellenismus, in der griechische Staaten politische Großmächte wurden. Es scheint wohl kein Zufall, daß der Beginn der griechischen Kolonisation (ab ca. 750 v. Chr.) mit dem Beginn der Schriftlichkeit in Italien zusammenfällt, denn der daraus entstehende Kultur- und Sprachkontakt ist in dieser Hinsicht entscheidend. Im Bewußtsein der Römer sind die Griechen nicht nur Nachbarn in der Magna Graecia (Μεγάλη ʾΕλλάς),170 sondern übergeordnete Referenzkultur mit dem Zentrum in Griechenland selbst; aber auch die Griechen selbst vereinnahmen Rom als πόλις ʾΕλληνίς (Herakleides Pontikos, Fr. 102) und sehen die Völker Italiens als Teil ihres Kosmos.
Die Übernahme von Diskurstraditionen durch die Römer bzw. Latiner sei dabei zunächst anhand von zwei Beispielen der frühesten Schriftlichkeit illustriert: So zeitigt ein Tonkrug (Ende 7. Jh. v. Chr.) aus der latinischen Stadt Gabii die lateinische Inschrift salvetod Tita (‚zum Wohl/auf das Wohl von Tita‘), was im Zuge eines convivium wohl als an eine Frau gerichtetes Hochzeitsgeschenk zu interpretieren ist. Der Brauch des wohlmeinenden Grußes auf einem Trinkgefäß ist auch durch ähnliche griechische Funde in Lavinium und Rom dokumentiert, wobei die Aufschrift hier χαῖρε (‚seid gegrüßt‘) lautet. Auch wenn hier die Diskurstradition in ihrer konkreten sprachlichen Realisierung nur aus ein bis zwei Lexemen besteht, ist sie doch als eine solche anzusehen, da hier eine gewisse nicht zufällige Formelhaftigkeit im Sinne einer Wiedergebrauchsrede dokumentiert ist.
Auch im Text der Inschrift des Duenos-Gefäßes, eines der ältesten Dokumente des Lateinischen, finden sich sprachliche Elemente, die auf eine griechische Vorlage deuten, und zwar gemahnt einerseits das duenos (lat. bonus) an die griechische Formel171 καλός καὶ ἀγαθός und die Zweigliedrigkeit der Konstruktion mit duenos …duenoi entspricht Verschriftungen auf griechischen Gefäßen mit καλός …καλῷ, und andererseits ist auch die Schlußformel ne med malos tatod an eine ähnliche apotropäische bei griechischen Funden angelehnt (zu den Exempla cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:97–98).
Bezüglich des ersten längeren und bereits elaborierten Text, des Zwölftafelgesetzes, verweist die römische Tradition der Entstehung selbst explizit darauf, daß man sich bei der Konzeption von Gesetzestexten verschiedener griechischer poleis hat inspirieren lassen, insbesondere von denen Solons in Athen, zu welchem Zweck vom Senat eine Zehnmännerkollegium (decemviri) ausgesandt wurde. Auch sprachlicher Einfluß wie die lexikalischen Entlehnungen dolus (δόλος) oder poena (ποινή) sowie syntaktische Übereinstimmungen dokumentieren das diskurstraditionelle Vorbildmodell im griechischen Kulturraum.
Da es sich bei den genannten Beispielen, auch denen aus den frühen Inschriften, keinesfalls um zufällige sprachliche Übereinstimmungen handelt, sondern um tragende Versprachlichungsstrategien bestimmter Kommunikationsformen (cf. die Exempla supra), ist es hier durchaus legitim, von der Übernahme von Diskurstraditionen zu sprechen. Der dafür notwendige Kultur- und Sprachkontakt im Sinne einer Prämisse für die Tradierung von Diskurstraditionen läßt sich insofern belegen, als das Griechische nicht nur an sich früher verschriftet (und verschriftlicht) wurde, sondern auch in Latium die griechischen Schriftzeugnisse vor den lateinischen nachweisbar sind, so z.B. in Gabii (1. Hälfte 8. Jh. v. Chr.) und auch in Rom selbst (7. Jh. v. Chr.), aber auch rein sprachlich gesehen an den Gräzismen, die schon in der ersten lateinischen Dokumenten auftreten (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:98–99).172
Ein anderer Entstehungsstrang der frühen lateinischen Zeugnisse ist auf italische bzw. italisch-etruskische Diskurstraditionen zurückzuführen. Für den Bereich des Rechts, der erstmals in den genannten 12 leges seinen Niederschlag fand, ist eine von Rechtsformeln- und -verfahren bestimmte mündliche Diskurstradition zu konstatieren, die lateinischen bzw. italischen Ursprung hat. Dies ist u.a. an der Etymologie und Verwendungsweise einzelner Fachtermini ersichtlich. Das mündliche Element der lateinischen Rechtsprechung schwingt in Lexemen und Ausdrücken wie ius dicere, testamentum nuncupare, provocatio, appellatio oder advocatus mit sowie in solchen, die die Gestik zum Gegenstand haben, wie z.B. manu missio. Diese „versteckte“ Mündlichkeit läßt auf eine Rechtstradition mit festgelegten Verfahren und sprachlichen Formeln schließen, die bereits vor der Schriftlichkeit existiert haben, dann aber in den Verschriftlichungsprozeß miteingeflossen sind (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:205–206).
Eine weitere Art der diskurstraditionellen origo der lateinischen Schriftlichkeit ist im religiös-rituellen Bereich der italischen Kultur zu verorten, und zwar im carmen. Diese Art des Gebets besteht üblicherweise aus einem rezitativ-rhythmischen Gesang, der mit einer Prozession oder Tanzdarbietung einhergeht. Auch hier liegen die Wurzeln in der Mündlichkeit, wobei hier von einer „distanzsprachlichen, elaborierten Mündlichkeit“ (Koch/Oesterreicher 1985:31) auszugehen ist,173 die einerseits fortgeführt wird, andererseits aber auch der schriftlichen Fixierung unterliegen kann (cf. carmen Arvale, carmina salinaria, carmen von Livius Andronicus an Iuno regina, v. infra) (cf. Gärtner 1990:101; Poccetti/Poli/Santini 2005:215–217).174
Ebenfalls im religiösen Bereich anzusiedeln ist der im etruskischen, samnitischen und römischen Umfeld anzutreffende Brauch der libri lintei (nicht erhalten), listenartige Zusammenstellungen der Amtspersonen sowie weitere kurze Ausführungen, die die Grundlage der späteren Annalistik bildeten. Die tabulae Iguvinae (6.–1. Jh. v. Chr.)175 enthalten Sühne- und Reinigungsformeln, stehen also auch in einem Kontext einer etruskisch-italischen Diskurstradition bezüglich religiöser, ritualisierter Texte, die zunächst mündlich (z.B. pompa funebris), später schriftlich konzeptionalisiert wurden (zu den Exempla cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:219; Albrecht 2012 I:314–315).176
Resümiert man nun noch einmal die Frage nach dem Ausbau des Frühlateins, so ist festzustellen, daß die ersten Zeugnisse zum einen nur bestimmte Bereiche mit spezifischen Textsorten abdecken (Jus: Gesetztestexte; Religion: Weihegeschenke, Grabinschriften, Kultlieder), andererseits dort aber partiell bereits einen gewissen Grad an Elaboriertheit erreicht haben, der sich auf der Übernahme von schon vorhandenen Diskurstraditionen gründet, und zwar mündlichen wie schriftlichen, etruskisch-italischen und auch griechischen.
Charakteristisch für die Frühzeit ist also parallel zu den Prozessen die Koch/Oesterreicher (2011:136) in Anlehnung an Kloss für die romanischen Sprachen herausgearbeitet haben, die Erarbeitung erster Distanzdiskurstraditionen im Rahmen eines extensiven Ausbaus der Sprache und dem damit verbundenen intensiven Ausbau, d.h. der Erweiterung der Ausdrucksmittel. Bezüglich des Ausbaugrades ist zunächst noch von einem insgesamt eher niedrigen auszugehen, auch wenn bereits gewisse Ansätze sprachlicher Elaboriertheit in bestimmten Kontexten auftreten. In Anlehnung an die bei Krefeld (1988:749–750) beschriebene „Vorausbaustufe“ und die bei Kloss (1987:304) für die deutschen Varietäten beschriebenen Phasen muß man das Lateinische dieser Epoche entsprechend der Art der auftretenden Schriftlichkeit zwischen zunächst Vorausbau und dann erster Ausbauphase situieren.
4.1.1.2 Altlatein
Der Beginn der zweite Periode, die des Altlateins (240 v. Chr-80 v. Chr.), wird durch die Konfrontation mit der auf literarischem Gebiet bis dahin dominierenden griechischen Kultur markiert, und zwar insofern für das „Epochenjahr“ (Albrecht 2012 I:45) 240 v. Chr. anläßlich der ludi Romani die erste Aufführung eines Dramas in lateinischer Sprache nachgewiesen ist, welches auf einer griechischen Vorlage beruhte, die durch den ersten namentlich bekannten lateinischen Dichter Livius (Livius Andronicus, 3./2. Jh. v. Chr.) umgearbeitet wurde.
Vermutlich als griechischer Kriegsgefangener im Zuge des Krieges gegen Tarent nach Rom verschleppt, wirkte Livius zunächst als grammaticus, hatte somit im Haus seines Herrn die Aufgabe, die griechischen Literatur zu übersetzen und zu erläutern (interpretari) sowie vorzutragen (praelegere). Als Dichter schuf er unter anderem eine lateinische Adaption der homerischen Odyssee (Odusia), das wohl erste römische Epos, wobei er die griechischen Hexameter in das Versmaß des Saturnier übertrug, dazu Tragödien – vor allem Cothurnatae, aber auch Palliatae – (z.B. Danae, Equos Troianus, Achilles, Aegisthus) und zumindest eine Komödie (Gladiolus) sowie ein nicht erhaltenes carmen (207 v. Chr.) zu Ehren der Iuno Regina.
Hervorzuheben ist in diesem Kontext, daß die Aufführung des Theaterstückes (fabula) in lateinischer Sprache auf eine staatliche Anordnung eines römischen Magistrats (Ädil) zurückgeht. Hintergrund ist die Tatsache, daß Rom als aufstrebende Herrschaftsmacht nach dem Gewinn des 1. Punischen Krieges (264–241 v. Chr.) und der Einrichtung der ersten Provinzen (Sicilia, 241 v. Chr; Corsica et Sardinia, 238 v. Chr.) als neuer politischer Machtfaktor beargwöhnt wurde und man den Römern vor allem von Seiten der hellenistischen Staatenwelt kulturelle Rückständigkeit vorwarf (cf. Baier 2010:7–11).177
Diesen Vorwurf zu entkräften war Teil einer Staatspolitik, die damit auch gleichzeitig sprachpolitische Implikationen hatte. Modell und Maßstab mußte dabei das Griechische sein, zum einen um die Gleichwertigkeit nachzuweisen, zum anderen weil keine andere Sprache in diesem Kulturraum ein vergleichbares Spektrum an literarischen Gattungen und Diskurstraditionen bot und damit auch die entsprechende sprachliche Elaboriertheit bzw. den hohen Grad an Ausbau.
Die römische Literatur ist demgemäß von der griechischen inspiriert, wobei – wie Baier (2010:8) hervorhebt – die römische Originalität jedoch nicht der modernen Vorstellung einer absoluten Neuschöpfung verpflichtet ist, sondern unter dem Leitgedanken einer interpretatio Romana funktioniert. Hierbei gelten die Prinzipien der imitatio (‚Nachahmung‘) und aemulatio (‚wettbewerbsmäßige Nacheiferung‘), d.h. der zugrundeliegende Gedanke besteht darin, es dem Vorbild gleichzutun bzw. es eventuell sogar zu übertreffen.178
Übersetzungen bzw. mehr oder weniger freie Übertragungen spielen zu Beginn der Verschriftlichungsphase bzw. in der literarischen Frühphase einer Sprache ganz typischerweise eine wichtige Rolle, geht es doch meist darum, die in einer Modellsprache bereits abgefaßten Texte mit etablierten Diskurstraditionen zu übernehmen und den eigenen sprachlichen Ausbau mit Hilfe eben dieser Prestige-Sprache voranzutreiben, wobei dies sowohl bewußt im Sinne einer Sprachpolitik geschehen kann als auch eher unbewußt mangels Alternativen bzw. vor dem Hintergrund des in diesem Kulturraum einzig funktionierenden und anerkannten Modells.
Man vergleiche dazu beispielsweise auch ähnliche Prozesse bei der Herausbildung von literarischen Diskurstraditionen in den romanischen Sprachen. Man spricht auch von „vertikaler“ Übersetzung, im Mittelalter und der Frühen Neuzeit als descensus verstanden, d.h. vom Lateinischen (und später Griechischen) in die jeweiligen Volkssprachen. In Bezug auf das Italienische spricht man von volgarizzamento, d.h. die Übersetzung bzw. Übertragung lateinischer Texte (wissenschaftliche, sakrale, literarische) in die italienische Volkssprache (volgare), im Spanischen von romanceamiento, d.h. von einer Übersetzung ins romance (hispánico) und im Französischen von vulgarisation (cf. Giovanardi 2006:2198–2199; Endruschat/Schäfer-Prieß/Schöntag 2006:1416–1419; Albrecht/Plack 2018:43).
In diesem Sinne der oben angesprochenen imitatio ist auch die Nachdichtung der Römer in Bezug auf die griechische Tragödie zu werten und die Charakterisierung Ciceros („non verba sed vim“, Ac. post. I, 10) ein schönes Dokument für diesen Prozeß sowie der reflektierten Selbstwahrnehmung.
Als weitere frühe Vertreter der lateinischen Literatur sind der Dichter Naevius (Gnaeus Naevius, 3. Jh.-nach 204 v. Chr.), dessen Werk – Komödien (z.B. Tarentilla, Hariolus), Tragödien (z.B. Lycurgus), Praetextae (Clastidium/Marcellus, Romulus/Lupus) und ein Epos (Bellum Poenicum) – allerdings nur in wenigen Fragmenten überliefert ist, sowie die Komödiendichter Plautus (Titus Maccius Plautus, ca. 250–184 v. Chr.) und Terenz (Publius Terentius Afer, ca. 195/185–159 v. Chr.) zu nennen. Von beiden letzteren sind zahlreiche Theaterstücke erhalten (von Plautus 21: z.B. Aulularia, Bacchides, Stichus, Mercator, Amphitruo, Miles Gloriosus (tragicocomoedia), Asinaria, Menaechmi; von Terenz 6: Hecyra, Andria, Adelphoi, Phormio, Eunuchus, Heautontimorumenos), die zudem eine wichtige Quelle des zeitgenössischen Lateins darstellen, da sie gattungsbedingt auch viele Elemente eines niedrigen Registers enthalten und sie somit im Spiegel einer fingierten Mündlichkeit vorsichtige Rückschlüsse auf die mutmaßlich gesprochenen Varietäten der Zeit zulassen. Während Plautus und Terenz die römische Komödie in griechischem Gewand pflegten, die Palliata (fabula palliata), transponierten ihre Epigonen Titinius179 (2. Jh. v. Chr.) und Afranius (Lucius Afranius, 2./1. Jh. v. Chr.) die Handlung ins römische Milieu und schufen die Togata (fabula togata) (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:309–310; Baier 2010:47–54).
Prägend für die frühe lateinische Literatur und damit auch wichtige Protagonisten im Prozeß des Sprachausbaus sind Ennius (Quintus Ennius, 239–169 v. Chr.),180 der, fragmentarisch überliefert, zwanzig Tragödien (z.B. Eumenides, Achilles, Andromacha aechmalotis, Iphigenia, Medea exul), Satiren (Saturae), zwei Prätextae (Sabinae, Ambracia) und ein Geschichtsepos (Annales) hinterlassen hat, sowie Cato d.Ä. (Marcus Porcius Cato Censorius, 234–149 v. Chr.), bekannt als prägender Staatsmann, Historiker (Origines) und Verfasser einer Abhandlung zur Landwirtschaft (De agri cultura) (Baier 2010:40–43, 119).
Insbesondere Cato ist hierzu als wegweisend zu betrachten, insofern er als Begründer der römischen Prosaliteratur gilt und bereits zahlreiche Textgattungen bedient, und zwar neben der Rhetorik und Geschichtsschreibung eine Reihe weiterer fachwissenschaftlicher Subdisziplinen erstmals auf Latein behandelt (cf. Fuhrmann 1999:100–102).
In die altlateinische Periode fallen auch noch einige Inschriften, die normalerweise im Zuge der ersten schriftlichen Zeugnisse genannt werden (cf. z.B. Meiser 2010:5, § 4), die aber aufgrund ihrer Sprachlichkeit nicht mehr zum Frühlatein zu rechnen sind, so z.B. der Senatus Consultum de Bacchanalibus (Bronzetafel, 186 v. Chr.), der im Zuge des sog. Bacchanalienskandals entstand.
Betrachtet man nun die sprachliche Situation in Rom und auf der italienischen Halbinsel in dieser Epoche, so ist ein tiefgreifender Wandel festzustellen. Zu Beginn der altlateinischen Zeit war die Eroberung bis zur Grenze des Po zwar abgeschlossen, doch eine tiefgreifende Romanisierung und damit einhergehende Latinisierung setzte erst in den folgenden Jahrhunderten ein. Aus dem Stadtstaat Rom wird dabei kein Flächenstaat, aber eine polis mit einem ausgedehnten Territorium, welches zunächst Italien und seine Inseln umfaßt, bis zu Beginn des 1. Jh. v. Chr. dann schließlich auch weitere Mittelmeerregionen in Ost und West vereinnahmt (Gallia Cisalpina, 222–197 v. Chr.; Hispania citerior, Hispania ulterior, 197 v. Chr; Macedonia, Illyricum, 168 v. Chr.; Achaia, Asia Minor, 146 v. Chr.; Gallia Narbonensis, 121 v. Chr.). Diese politische Expansion bleibt nicht ohne Auswirkung auf Sprache und Gesellschaft. Aus dem Stadtdialekt einer Kleinstadt in Latium wird eine internationale Verkehrssprache und es wird nach und nach die Muttersprache zahlreicher bis dato anderssprachiger Ethnien. Die Akkulturation und Latinisierung vollzieht sich in den verschiedenen Regionen unterschiedlich schnell, auch abhängig vom Grad der Verwandtschaft der jeweils betroffenen Sprache sowie von ihrem Prestige und der reinen Anzahl der Sprecher.
So ist das am nächsten verwandte Faliskische relativ bald ausgestorben (ca. 2.–1. Jh. v. Chr.) bzw. nicht mehr vom Latein zu differenzieren.181 Auch das kaum dokumentierte Sabinische, welches in Rom und vor den Toren Roms gesprochen wurde und maßgeblichen Einfluß ausübte, hörte vermutlich im 2.–1. Jh. v. Chr. auf zu existieren bzw. wurde zunehmend latinisiert (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:67).182 Ähnlich erging es anderen angrenzenden Völkern wie den Volskern, Äquern oder Aurunkern. Für diese Nachbarn kann man eine Phase des Bilingualismus postulieren, der zumindest teilweise diglossischen Charakter hatte, insofern Latein mit zunehmenden Prestige als high-variety funktionierte.










