Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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Ein wenig anders gelagert ist die Situation für das Oskische, welches ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Kultursprache war (z.B. Atellane, v. infra). So sind Inschriften aus Pompeji und Herculaneum belegt, woraus man eine Vitalität der Sprache zumindestens bis ins 1. Jh. n. Chr. postulieren kann. Von Ennius ist überliefert, daß er Oskisch, Latein und Griechisch sprach (cf. Knobloch 1996:25).183 In Süditalien waren dabei alle drei Idiome beheimatet und damit auch Sprachen des täglichen Gebrauchs, wobei schriftsprachlich Griechisch zusätzlich als high-variety einzustufen ist, und zwar deshalb, weil sie als Sprache des Handels, der Kultur sowie allgemein als meist verbreitete Schriftsprache fungierte.
Eine Kultursprache war auch das Etruskische, welches in der Frühphase Roms aufgrund seiner politischen und kulturellen Dominanz ein wichtiges Element in der römischen Kultur wurde und auch sprachlich vielfältige Spuren (Lexikon, Akzentsetzung) im Lateinischen hinterlassen hat (cf. Knobloch 1996:27). Nichtsdestoweniger wurde das Etruskische durch das Lateinische abgelöst, in Resten existierte es wohl bis ins 1. Jh. n. Chr. (cf. Willms 2013:212) – letzte Inschriften ca. 1. Jh. v. Chr. (cf. Haarmann 2004:66) –, so daß eine relativ lange Phase der Zweisprachigkeit anzusetzen ist.184 Das Etruskische weist zwar nachweislich einige Entlehnungen aus dem Griechischen auf und die Übernahme der Schrift deutet auf eine zumindest in der Oberschicht verbreitete Kenntnis des Griechischen; es scheint aber zweifelhaft, ob die gleiche Art der Diglossie wie für die Kontaktkonstellation Latein-Griechisch anzusetzen ist.185
Die anderen Sprachen Italiens wie das Keltische, das Umbrische, das Messapische oder das Venetische sterben wohl im 1. Jh. v. Chr. aus. Auch für diese Substratsprachen ist eine gewisse Phase des Bilingualismus anzunehmen, bis sich der Sprachwechsel zum Latein vollzogen hat; wie dieser im Detail verlaufen ist, läßt sich mangels Belegen jedoch nur schwer nachvollziehen.
Dabei besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen den italischen Substratsprachen und den vorindogermanischen Substraten. Insbesondere das nah verwandte Faliskisch, aber auch die relativ nah verwandten Sprachen Oskisch, Umbrisch oder Sabinisch wurden in den Varietätenraum des Lateinischen integriert, d.h. dialektisiert. Inwieweit das auf entfernter verwandte indogermanische Sprachen wie Keltisch, Venetisch oder Messapisch zutreffen würde, sei dahingestellt (cf. Krefeld 2003:558).186 Sicherlich nicht möglich ist diese Form der sprachlichen Vereinnahmung beim Etruskischen, Ligurischen oder anderen altmediterranen Sprachen.
Die Phase des Altlateins ist auch die Periode, in der das Latein nach und nach zur high-variety wird, zumindest für weite Teile der Bevölkerung Italiens. Dieser Status ist zunächst vor allem auf die politische Expansion zurückzuführen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Dominanz der römischen Verwaltung und Kultur.
Im Bereich der Schriftlichkeit mußte sich das Latein erst nach und nach den Status einer Ausbau- und Literatursprache erarbeiten und war in der Anfangsphase stark vom übermächtigen griechischen Vorbild abhängig. Erst allmählich zeitigte der Ausbau des Lateinischen Wirkung und das Lateinische konnte sich zumindest partiell emanzipieren, brachte eigene Diskurstraditionen hervor bzw. deckte zunehmend verschiedene Bereiche der distanzsprachlichen Kommunikation (schriftlich wie mündlich) ab.
Am Beginn der lateinischen Literatur im engeren Sinne stand der Wille, sich aus staats- und kulturpolitischer Räson zu positionieren, und so griff man auf das prestigereichste Vorbild zurück und dies war zu jener Zeit die griechische Literatur. Was die Textgattung anbelangt, so wählte man zunächst das Genus mit der höchsten Dignität, nämlich das Epos, und formte es nach eigenen Zwecken um (v. supra Livius Andronicus). Die nicht viel minder geschätzte Tragödie wurde nach dem gleichen Prinzip vereinnahmt (v. supra Livius Andronicus, Naevius, Ennius), findet jedoch insbesondere in der Form der Prätexta (fabula praetexta), in der die eigene römische Historie thematisiert wird, ihre eigene Ausprägung. Die Gattung der Komödie (cf. Caecilius Statius (†168), Plautus, Terenz) hingegen speist sich aus verschiedenen Vorläufern. Neben der klassischen griechischen Komödie (z.B. Aristophanes) und vor allem der Neuen Komödie, der Néa (cf. Menander, Μένανδρος, 342/341–290 v. Chr.), die in ihrer spezifisch römischen Ausformung, aber mit griechischem Bezug, zur Palliata führte, standen der aus der dorischen Volksposse entstandene sizilische Mimus mit Stegreifscherzen (paígnia) Pate sowie in Unteritalien die Phylakenposse (Götterburlesken, Mythentravestien) und die oskische Atellane (fabula Atellana, cf. Atella bei Neapel). Aus diesen komödiantischen Elementen sowie aus Spottliedern bei Triumphzügen (carmina triumphalia) aus heimischen Scherz- und Scheltreden (iocularia fundere), aus obszönen falisikischen Wechselgesängen (fescennina, cf. Fescennium in Etrurien), die ebenfalls zur Entstehung der Komödie, teilweise auch des Dramas beitrugen, begründet sich aber auch die bei den Römern hochgeschätzte Satire (satura), wie sie in der Frühzeit Lucilius (Gaius Lucilius, 180/157–103/102 v. Chr.) vertritt (cf. Baier 2010:37–39, 45–47).
Hebt man nun diese Anfänge römischer Literaturproduktion auf die diskurstraditionelle Ebene, so ist deutlich nachzuvollziehen, wie das Lateinische in für diese Sprache neue Diskurstraditionen vordringt, diese besetzt und dabei variiert bzw. auch neue ausbildet (z.B. Satire, Palliata). Neben den dominierenden griechischen Diskurstraditionen tragen dabei auch indigen latinische, faliskische, oskische und womöglich auch etruskische187 dazu bei (v. supra), daß bestimmte römische Genera entstehen und das Lateinische dort wie auch in den bereits für andere Sprachen etablierten seinen Platz findet. Durch die Übernahme dieser Diskurstraditionen und die steigende Textproduktion im Rahmen derselben wird zweifelsohne auch der sprachliche Ausbau vorangetrieben, da es gilt, neue Formen und Inhalte zu versprachlichen.188
Eine weitere Diskurstradition, in der das Lateinische Fuß faßt, ist die der Geschichtsschreibung. Hierbei sind im Wesentlichen zwei Entstehungsstränge auszumachen, und zwar einerseits die ca. ab dem 4. Jh. in Rom übliche Praxis, daß der pontifex maximus die wichtigsten Ereignisse (z.B. Amtsinhaber, Prodigien, Getreidepreis, Mond- u. Sonnenfinsternis) jahreschronologisch aufzeichnen ließ und auf Tafeln in der regia ausstellte sowie andererseits die bereits in vielen Facetten etablierte griechischen Historiographie. Aus der Tradition der Annales entstand somit die annalistische Geschichtsschreibung, deren Werke nach Amtsjahren der einzelnen Konsuln von Beginn der Stadtgründung bis zur Abfassungszeit geordnet war (cf. Ogilivie 1983:18–19; Brodersen/Zimmermann 2000:33). Die Umsetzung der römischen Chronologie – gesammelt als 80 Bücher in den Annales Maximi bis 133 v. Chr. – in ein Geschichtswerk wurde jedoch zu Beginn auf Griechisch geleistet, um einen größeren Leserkreis zu erreichen, so beim ersten Annalisten Fabius Pictor (Quintus Fabius Pictor, ca. 254–201 v. Chr.) in seinem Werk Rhomaíon Práxeis. Erst danach setzt sich in der sogenannten Älteren Annalistik das Lateinische durch und wird wie bei C. Hemina (Lucius Cassius Hemina, 2. Jh. v. Chr., Annales), Cn. Gellius (Gnaeus Gellius, 2. Jh. v. Chr.), Calpurnius Piso (Lucius Calpurnius Piso Frugi, 2. Jh. Chr.), Asellio (Sempronius Asellio), Coelius Antipater (Lucius Coelius Antipater, ca. 180–120 v. Chr., Bellum Punicum) oder C. Sisenna (Lucius Cornelius Sisenna, 118–67 v. Chr., Historiae) zur Sprache der Historiographie. Eine andere Art von Geschichtsschreibung wird das erste Mal auf Latein von Cato d.Ä. praktiziert (cf. brevitas Catonis), der mit seinen Origines an die hellenistische Textgattung der Gründungssage (κτίσεις) anknüpft (cf. Flach 1985:56–79; Baier 2010:81–84; Albrecht 2012 I:307). Mit dem Vorrücken in diese neuen diskurstraditionellen Bereiche wird auch ein wesentlicher Beitrag zum Ausbau der lateinischen Prosa erbracht, insofern die Variationsbreite und Anzahl der auf Latein verfaßten Texte zunimmt.189
Dies gilt auch für einen Bereich, den man heutzutage der wissenschaftlichen Literatur zuordnen würde. Während die ersten Textgattungen Epos und Tragödie in Versen gedichtet wurden, ist mit De agri cultura Catos das erste vollständige in Prosa verfaßte Werk überliefert und damit ein Grundstein für weitere Schriften und die wachsende Elaboriertheit der Sprache gelegt.
Der Ausbau des Lateinischen wurde in der altlateinischen Epoche auch in Bezug auf die mündliche Distanzsprache vorangetrieben. Hierbei ist insbesondere der in der römischen res publica wichtige Bereich der Rhetorik zu nennen.190
Im 2. Jh. v. Chr., als Rom auch vermehrt ins östliche Mittelmeer ausgriff, ergab sich allgemein eine vermehrte Rezeption griechischer Literatur, Philosophie und weiterer Wissenschaftsbereiche. Die Rhetorik, traditionell in der philosophischen Kontroverse zwischen den einzelnen Schulen (Stoa, Akademie, Peripatos) verortet, fand durch griechische Lehrer in der römischen Oberschicht Verbreitung, in der Griechisch alltägliche Bildungssprache war.191 Dabei ist die Rhetorik zwischen der Auseinandersetzung um den logos und der in der ars grammatica fixierten richtigen Sprechweise (recte loqui) bzw. der ‚korrekten‘ Sprache (latinitas bzw. ̔Ελληισμός) anzusiedeln (cf. Baier 2010:105; Poccetti/Poli/Santini 2005:389–390).192 Im römischen Kontext erreicht die Rhetorik dann vor allem im öffentlichen Leben der republikanischen Institutionen einen wichtigen Stellenwert und wurde ein geradezu konstitutiver Bestandteil der res publica.193 Bestimmte herausrragende Redner (cf. z.B. Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus minor, 185–129 v. Chr.; Tiberius Sempronius Gracchus, 162–133 v. Chr.; Gaius Sempronius Gracchus, 153–121 v. Chr.) genossen daher ein hohes Prestige in der Gesellschaft (cf. Albrecht 2012 I:413–414).194 Die schriftliche Niederlegung der auf diese Weise neu ausgeformten Diskurstradition der öffentlichen Rede beginnt erst im Übergang zur folgenden Epoche (cf. Rhetorica ad Herennium, Cicero), genauso wie die der sich daran anschließenden Grammatik (cf. Varro).
Insgesamt ist demzufolge für die Periode der altlateinischen Sprachgeschichte eine wichtiger Wendepunkt dahingehend festzustellen, daß der Ausbau des Lateinischen maßgeblich vorangetrieben wurde. Durch die Übernahme von Diskurstraditionen aus dem griechisch-hellenistischen Raum, aber auch aus dem italischen Kontext sowie aufgrund von deren Weiterentwicklung rückt das Latein in dieser Epoche in immer mehr Bereiche der mündlichen, aber vor allem schriftlichen Kommunikation vor und wird zu einer vollfunktionsfähigen Distanzsprache. Der maximale Ausbaugrad wird zwar erst in der nächsten Phase erreicht, doch sind bereits zahlreiche Grundsteine gelegt. Der Aufstieg des Lateinischen zur überregionalen und dann internationalen Prestigesprache bedingt auf der anderen Seite auch einen Rückgang zahlreicher einheimischer Sprachen, so daß die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. weitestgehend vollzogen ist. Aus der einstigen Vielsprachigkeit bleibt für nicht wenige Teile der Bevölkerung Einsprachigkeit übrig, für die Oberschicht Diglossie mit dem Griechischen.
4.1.1.3 Klassisches und Nachklassisches Latein
In der Literaturgeschichte wird nicht selten der Beginn der Epoche des Klassischen Lateins mit der ersten Rede Cicero präzise im Jahre 81/80 v. Chr. verortet und man folgt dann der stark wertenden Feingliederung in „goldene“ (80 v. Chr.-14 n. Chr.) und „silberne“ (14–117 n. Chr.) Latinität (cf. Meiser 2010:2, § 2) nach Maßgabe einer traditionell verankerten Beurteilung der Qualität der literarischen Produktion. Sprachwissenschaftlich gesehen ist es eher sinnvoll, den Beginn dieser Periode, die auch sprachliche Neuerungen zeitigt, gröber ins 1. Jh. v. Chr. zu datieren.
Müller-Lancé (2006:32) datiert die Epoche des „nachklassischen Lateins“ analog zu Meiser (2010:2; § 2), der diese Zeit jedoch „archaisierende Periode“ nennt und ebenso exakt vom Tode Trajans (117 n. Chr.) bis zum Tode Marc Aurels (180 n. Chr.) andauern läßt. In Anlehnung an die Datierung von Steinbauer (2003:513), der diese Zeit durch eine an vorciceronianische Vorbilder anknüpfende Literatur zwischen 120–200 n. Chr. verortet, sei hier diesem folgend, gröber ein Ende an der Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr. postuliert. Klassisches und Nachklassisches Latein seien hier zusammengefaßt, da es einerseits in der nachklassischen Zeit keine signifikanten sprachlichen Änderungen im Vergleich zur klassischen Epoche gab und andererseits aus der hier fokussierten Perspektive von Ausbau, Diskurstraditionen und Sprachkonstellationen kein wirklicher Paradigmenwechsel zu verzeichnen ist.
Es ist in diesem Rahmen weder möglich, noch notwendig den Umfang und die Breite der Literatur dieser Periode zu behandeln, sondern es soll sinnvollerweise auf die wesentlichen Neuerungen in Bezug auf die diskurstraditionelle Perspektive eingegangen werden sowie den damit einhergehenden sprachlichen Ausbau, der zu dieser Zeit weitestgehend vollendet wird. Das bereits in altlateinischer Zeit wichtige Modell der griechischen Textgattungen und Diskurstraditionen erfüllt diese Funktion auch weiterhin und zeitigt in der römischen Literatur neue Formen. Dabei sind die Griechen nicht nur Vorbild, sondern gleichzeitig Maßstab des zu Erreichenden, an dem sich die Römer in einer Art kulturellen ἀγών abarbeiten und dies ist nicht nur objektiv als Prozeß zu konstatieren, sondern durchaus Teil der römischen Selbstreflexion wie bei Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus, ca. 35–96 n. Chr.) dokumentiert:
Elegia quoque Graecos prorocamus, cuius mihi tersus atque elegans maxime videtur auctor Tibullus. Sunt qui Propertium malint. Ovidius utroque lascivior, sicut durior Gallus. (Quintilian, Inst. orat., X, 1, 93; 2001 IV:302)
Tatsächlich wird erst in klassischer Zeit der ganze Bereich der Lyrik vom Lateinischen erschlossen, der zuvor nur ansatzweise in religiösen carmina vertreten war.195
Eine Textgattung, die bei den Griechen schon im 7. v. Chr. mit Mimnermos von Kolophon bzw. Smyrna (Μίμνερμος, 6. Jh. v. Chr.) den ersten Vertreter zeitigte und bis in den Hellenismus gepflegt wurde, in der Kallimachos von Kyrene (Καλλίμαχος ὁ Κυρηναῖος, ca. 310–249 v. Chr.) mit seinen mythologischen Ursprungsgedichten, den αἰτία, hervorsticht, ist die der Elegie, die sich formal durch das elegische Distichon (alternierende Hexameter und Pentameter) abgrenzt und inhaltlich durch mythologische Themen, allgemeine Reflexionen, Spott, Klage, Erotik oder persönliche Anliegen charakterisiert ist (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:183–184). Im römischen Bereich wird die Form übernommen und inhaltlich oft Mythologisches mit Autobiographischem kombiniert, wie es uns in dem ersten elegischen Gedicht des Neoterikers Catull (Gaius Valerius Catullus, 84–54 v. Chr.), der Allius-Elegie (carmen, Nr. 68) entgegentritt. Neben Catull bedienen sich dieser Gedichtform mit thematischer Variation vor allem Gallus (Gaius Cornelius Gallus, 70/69–27/26 v. Chr.), Tibull (Albius Tibullus, ca. 50–19 v. Chr., Corpus Tibullianum), Properz (Sextus Propertius ca. 47–15 v. Chr., Monóbiblos) und Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr.-17 n. Chr., Ars amatoria,196 Remedia amoris, Tristia, Epistulae ex Ponto), die auch insgesamt zu den maßgeblichen Vertretern der römischen Lyrik gehören (cf. Baier 2010:59–77).
Indem er in seinen Heroides die literarische Gattung des Briefes und die lyrische Form der Elegie miteinander verschmilzt sowie zusätzlich Elemente der Rhetorik miteinfließen läßt (Ethopoiie bzw. sermocinatio), beschreitet Ovid ganz selbstbewußt (ars 3, 346) neue Pfade in seinem Schaffen und der römischen Literatur (cf. Baier 2010:71).
Weitere Arten der Lyrik in lateinischer Sprache sind dem wie Ovid und Properz zum Kreis des Maecenas (Gaius Cilnius Maecenas, ca. 70–8 v. Chr.) gehörenden Horaz (Quintus Horatius Flaccus, 65–8 v. Chr.) zu verdanken, einem der wichtigsten Dichter der augusteischen Ära.197 Nach dem Vorbild der griechischen Dichtung des Archilochos (Ἀρχίλοχος, ca. 680–645 v. Chr.) führt er durch seine Iambi die Textgattung der Epoden198 – Distichon mit einem langen und einem kurzen Vers – erstmals in die lateinische Literatur ein. Seine Innovation ist ihm dabei durchaus bewußt (epist. I, 9, 19–25), genauso wie die erstmalige interpretatio Romana der Ode in den carmina, bei der er sich an berühmte Vorläufer wie Pindar (Πίνδαρος, 518–440 v. Chr.) oder Alkaios (Ἀλκαῖος, ca. 630–580 v. Chr.) anlehnt (cf. alkäische Dichtung) (cf. Baier 2010:72–77).199
Eine andere lyrische Textgattung, die in dieser Epoche Eingang in die römische Literatur findet, ist das Epigramm, welches seinen Ursprung in Inschriften hat (v. supra. z.B. Grabinschrift der Scipionen), literarisch jedoch traditionell auf Simonides von Keos (Σιμωνίδης, 557/556–468/467 v. Chr.) zurückgeführt wird und auf Latein erstmals von Catull gepflegt wird, dann aber vor allem bei Martial in seinem Epigrámmaton liber (Liber spectaculorum) variantenreich zur Geltung gebracht wird. In dieser Kurzform, die ursprünglich als elegisches Distichon realisiert wird, bei Martial aber auch metrisch variieren kann,200 wird auf eine Pointe abgezielt, die alle Bereiche der conditio humana mal spöttisch, mal kritisch geistreich auf den Punkt bringt (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:194–195; Albrecht 2012 I:281–282).
Nach dem Vorbild der eidýllia (aus dem Corpus Theocriteum) des sizilianischen Dichters Theokrit (Θεόκριτος, 1. Hälfte 3. Jh. v. Chr.) bringt der in Bezug auf seine Nachwirkung womöglich bedeutendste Dichter der römischen Antike, Vergil (Publius Vergilius Maro, 70–19 v. Chr.), in seinen in Hexameter gedichteten Bucolica (Eclogae) die bukolische Lyrik in die römische Literatur. Ein Epigone Vergils in späterer Zeit ist beispielsweise Calpurnius Siculus (Titus Calpurnius Siculus, 1. Jh. n. Chr.) mit den von ihm verfaßten Eklogen, wobei bei ihm teilweise Hirtenpoesie und Herrscherpanegyrik vermischt werden (cf. Kleine Pauly 1964 I:1026).
Eine lyrische Sammlung mit Gedichten zu verschiedenen Anlässen und in unterschiedlicher Form stellen die Silvae des Statius (Publius Papinius Statius, 40/50–95 n. Chr.) dar. Die auch als „Gelegenheitsgedichte“ apostrophierten Verse thematisieren öffentliche (Panegyrikon) wie private Anlässe (Hochzeit, Trauer, Trost, Geburtstag) oder enthalten Kunst- und Baubeschreibungen (Ekphrasis) (cf. Baier 2010:77–78).
An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Poesie ist das Lehrgedicht anzusiedeln, welches zwar mit den Ἒργα καὶ Ἡμέραι Hesiods (Ἡσίοδος, ca. *700 v. Chr.) einen fernen Vorläufer hat, aber erst im Hellenismus seine eigentliche Form findet, die dann vor allem durch Lukrez (Titus Lucretius Carus, 96–53 v. Chr.) in seinem sechs Bücher umfassenden Werk De rerum natura erstmals in lateinischer Sprache ausgearbeitet wurde (in Hexametern). Ähnlich wie Horaz ist sich Lukrez bewußt, daß er mit seinem physikalischen Lehrgedicht, in dem er auch zum Vermittler epikureischer Philosophie in Rom wird, neue Wege beschreitet, ganz im Sinne der neoterischen Bewegung (I, 926–927). Dabei weist er explizit auf die sprachliche Armut des Lateins hin, welches im Vergleich zum Griechischen eigentlich noch nicht ausgebaut genug ist, um ein derartiges Unterfangen möglich zu machen – insofern ist es also eine Pionierleistung. Unzweifelhaft an Hesiod knüpft die Georgica Vergils an, in der der Dichter seine Sicht des idealen Lebens in moralischer Hinsicht (labor improbus) und ganz konkret in Bezug auf das gelobte Landleben (Ackerbau, Baum- und Weinkultur, Viehzucht, Bienenhaltung) in hexametrischer Form ausbreitet (cf. Baier 2010:27–36).
Eine Mischung aus klassischem griechischem Epos, der Kurzform des Epyllion und der des Lehrgedichtes sind die Werke Ovids. In seinen Metamorphoses greift er sowohl auf die Tradition der ätiologischen Dichtung zurück (v. supra) als auch auf die der Verwandlungssagen wie in den Ἑτεροιούμενα Nikanders von Kolophon (Νίκανδρος ὁ Κολοφώνιος, 3./2. Jh. v. Chr.), während er in den Fasti die Ereignisse des römischen Festtagkalenders literarisch überhöht (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:194–195; Baier 2010:34–35).
Neu in der Klassischen Periode ist außer dem Aufkommen der verschiedenen Formen der Lyrik auch die Textgattung des Romans201 bzw. der längeren, komplexen Prosaerzählung, die in dieser Zeit erstmals in lateinischer Sprache auftritt. Romanhafte Vorstufen sind in der Ἀνάβασις Xenophons (Ξενοφῶν, ca. 430–350 v. Chr.) oder den Berichten des Ktesias (Κτησίας, ca. um 400 v. Chr.), der Περσικά oder der Ἰνδικά, zu sehen, doch erst in hellenistischer Zeit bildet sich diese Erzählgattung im griechischen Raum vollständig heraus, so beispielsweise bei Iambulos (Ἰαμβοῦλος, 3. Jh. v. Chr.) oder Chariton von Aphrodisias (Χαρίτων Ἀφροδισεύς, 1./2. Jh. n. Chr.). Römische Adaptionen gibt es nur wenige, doch haben sie allesamt eine nicht unbedeutende Nachwirkung entfaltet. Dabei sind vor allem aus sprachlicher Sicht als wichtige Quelle substandardlichen Lateins die Satyricon libri des Petron (Gaius/Titus Petronius Arbiter, †66 n. Chr.) zu nennen, und zwar insbesondere der dort enthaltene Part des Gastmahl des Trimalchio (cena Trimalchionis). Hier knüpft der Autor explizit an seine hellenistischen Vorläufer an, insofern er einerseits griechische Reiseromane parodiert und andererseits formal an die Menippeische Satire anknüpft, indem er sowohl Vers als auch Prosapassagen verwendet (prosimetrum). Ebenfalls in die Reihe der romanhaften Darstellungen gehört der Eselsroman (Metamorphoseon libri XI) des Apuleius (ca. 125–170 n. Chr.), der in sich wiederum verschiedene Elemente anderer Gattungen wie die des Märchens (Amor und Psyche) oder der Milesischen Novelle enthält sowie Aspekte der platonischen Philosophie. Anknüpfend an den populären Stoff der Eroberungsfeldzüge Alexander d. Großen (336–323 v. Chr.) verfaßte Curtius Rufus (Quintus Curtius Rufus, 1. Jh. v. Chr.) eine Alexandergeschichte (Historiae Alexandri Magni Macedonis), basierend u.a. auf den sogenannten Alexanderhistorikern Ptolemaios (Πτολεμαῖος, 366–283 v. Chr.) und Kleitarch (Κλείταρχος, 4. Jh. v. Chr.), mit teilweise moralisierendem Unterton – Alexander als Gegenbild römischer Tugenden, der getrieben von Affekten und mit Maßlosigkeit agiert (cf. Baier 2010:96–101).
Eine andere neue Textgattung, die in der klassischen Zeit erstmals für das Lateinische erschlossen wird und damit das Spektrum des diskurstraditionellen Ausbaus vergrößert, ist der Brief, nicht so sehr als Gebrauchstext, sondern vielmehr als literarische, für die öffentliche Rezeption bestimmte Form.202 Auch hier gibt es griechische Vorbilder wie die Lehrbriefe Epikurs (Ἐπίκουρος, 342/341–271/270 v. Chr.) als spezifische Ausformung der Gattung, an die Seneca (Lucius Annaeus Seneca, ca. 1–65 n. Chr.) mit seinen Epistulae morales ad Lucilium anknüpft. Frühester römischer Gebrauch ist jedoch bei Cornelia, der Mutter der berühmten Volksstribunen Tiberius und Gaius Gracchus bezeugt (Quint. I, 1, 6). Die wichtigsten Korpora von Briefen, die literarisch über die Antike hinausgewirkt haben, sind diejenigen von Cicero (Ad familiares, Ad Atticum, Ad Quintum fratrem) und von Plinius d.J. (Gaius Plinius Secundus, 61/62–112/113 n. Chr.), die auch sprachlich insofern bemerkenswert sind, als die ciceronischen mitunter stilistisch stark von seinem sonstigen elaborierten Duktus abweichen und als Quelle für vulgärlateinische Phänomene gelten, während die Episteln des Plinius eine elaborierte Kunstform in verschiedenster Ausprägung darstellen (Ekphrasis, Essay, Panegyrikon) und als einzige die Forderungen nach der brevitas und der Monothematizität weitgehend einlösen. Während diese beiden Autoren die Briefe in Prosa abfaßten, waren die Epistulae des Horaz, in denen auch die Ars poetica enthalten ist, in hexametrischen Versen abgefaßt und demnach ab ovo für die Publikation bestimmt (cf. Baier 2010:101–104; Albrecht 2012 I:430–435).










