Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945

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Die Rationierungssysteme unterschieden sich teilweise deutlich voneinander. Das nationalsozialistische System der Kriegswirtschaft sah nach Lebensaltern gestaffelte Rationen mit Zulagen für besondere Gruppen vor. In den meisten Ländern, so auch in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands, wurde dieses System beibehalten, wenn auch mit Modifikationen. Die größte Gruppe bildeten die erwachsenen Normalverbraucher, Zulagen wurden für Schwer- und Schwerstarbeiter gewährt, für stillende und werdende Mütter, für Kranke, Alte, Schwerbeschädigte, politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge. Völlig anders war die Rationierung in der sowjetischen Besatzungszone geregelt, wo (bis 1947) sechs Gruppen unterschieden wurden, die jeweils eigene Lebensmittelkarten erhielten: Schwerstarbeiter, Schwerarbeiter, Arbeiter, Angestellte, Kinder und Sonstige. Berüchtigt waren vor allem die Hungerrationen für die Kategorie der „Sonstigen“, in die Hausfrauen, ehemalige Nazis, Rentner und nicht arbeitende Besitzer von Betrieben eingruppiert wurden: Ihre Lebensmittelkarte wurde im Volksmund als „Friedhofskarte“ bezeichnet. Dagegen war die Intelligenz, die meist bei den Arbeitern eingruppiert wurde, sogar zunächst besser gestellt als in den westlichen Besatzungszonen. Ein wiederum ganz anderes Rationierungssystem herrschte in Großbritannien vor. Dort verzichtete die Regierung auf eine Differenzierung der Bevölkerung (ausgenommen Kinder unter sechs Jahren) und jeder erhielt dieselbe Ration (mit wenigen Ausnahmen für Schwangere, stillende Mütter und bestimmte Gruppen von Arbeitern). Erst im Oktober 1946 wurde eine zusätzliche Fleischration für Bergarbeiter eingeführt. Das Prinzip der Flatrate-Rationen war deswegen unproblematisch, weil ohnehin nur ein Teil der Lebensmittel rationiert war (v.a. Zucker, Butter, Schinken, Fleisch, zeitweise auch Brot), die Konsumenten also auf frei verfügbare Waren ausweichen konnten.
Das Rationierungsregime herrschte von Land zu Land unterschiedlich lange. Zudem umfasste es häufig nur einen Teil der Güter des täglichen Bedarfs. Dennoch ist es hilfreich, sich vor Augen zu halten, wie lange die Bevölkerung in manchen Ländern mit Einschränkungen der einen oder anderen Art leben musste. In der noch jungen Bundesrepublik Deutschland beispielsweise wurde das bevorstehende Ende der Rationierung Anfang 1950 in der Presse als Ende einer über dreizehnjährigen Periode der Einschränkungen und Entbehrungen gefeiert. Tatsächlich waren es fast vierzehneinhalb Jahre, da schon im Herbst 1935 Kundenlisten für Butter und Schmalz eingeführt worden waren. Das Ende der Rationierung kam hier mit dem 1. April 1950, als die Rationierung für Zucker aufgehoben wurde.
Auch andere Länder hatten lange Perioden der Einschränkungen hinter sich, als die Rationierung schrittweise seit Ende der vierziger Jahre aufgehoben wurde. Zwar dauerte es in Westeuropa nirgendwo so lange wie in der DDR, wo das definitive Ende erst 1958 kam und kurz darauf sogar wieder Kundenlisten für Butter eingeführt werden mussten. Doch auch in Westeuropa zog sich die Periode der Rationierung in einzelnen Ländern bis in die fünfziger Jahre hinein, so in den Niederlanden bis Januar 1952 (für Kaffee) oder in Großbritannien bis Juli 1954 (für Fleisch, Schinken, Speck). Selbst in Italien, wo die Rationierung bereits 1948 endete, hatte die Bevölkerung bereits seit 1937 (mit der Einführung des dunklen „Einheitsbrotes“) unter Einschränkungen leiden müssen. Die Zeit der Rationierung war nicht nur eine Episode, sondern dauerte ein gutes Jahrzehnt und bildete somit ein prägendes Erlebnis für viele Menschen, die sie miterleben mussten.
1.1.1Alternative Beschaffungsformen
Da die Rationen in den meisten Ländern nicht ausreichten, sahen sich große Teile der Bevölkerung, vor allem in den Städten, gezwungen, nach alternativen legalen, halblegalen oder illegalen Mitteln der Nahrungs- und Brennstoffbeschaffung zu suchen. Dazu gehörten Schlangestehen, Hamsterfahrten auf das Land, Pakete von Verwandten oder Bekannten und nicht zuletzt der Schwarzmarkt. Welches dieser Mittel effektiver war, unterschied sich von Fall zu Fall. Der Anteil der Nahrungsmittel, die über das offizielle Rationierungssystem zu erhalten waren, variierte von Land zu Land und über die Zeit erheblich. In Rom verschwanden im Juli 1944 ca. drei Viertel der Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt. In Großbritannien entfielen 1947/48 ca. die Hälfte der Ausgaben auf rationierte Nahrungsmittel. Und in Frankreich konnten 1945 zwei Drittel der nichtbäuerlichen Bevölkerung nur zwischen 50 und 75 Prozent ihrer Nahrungsmittelbedürfnisse über das Rationierungssystem abdecken. Besonders schwierig war die Lage in Paris, wo die Einwohner im Januar 1945 für 53 von 62 Mahlzeiten auf den Schwarzmarkt angewiesen waren. Wie auch immer man es berechnet: Der Schwarzmarkt oder andere Beschaffungskanäle mussten einen großen Beitrag zur Versorgung leisten, sonst drohte der Hunger.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Nahrungsmittelbeschaffung bei vielen Menschen eine derart wichtige Stellung einnahm, dass an andere Dinge kaum zu denken war. „Nicht Parteien oder Gewerkschaften bestimmen unser Leben“, schrieb die Kölnische Rundschau im August 1947, „nicht die junge demokratische Regierung oder die Besatzungsmacht, sondern einfach der Hunger, nichts als der Hunger“.1 Ihm zu entkommen, war in den meisten Fällen möglich, aber zeitaufwendig.
Neben dem offensichtlichen Zeitaufwand bargen die alternativen Versorgungswege auch gesellschaftlichen Sprengstoff. Warteschlangen konnten in Protestdemonstrationen, ja sogar Plünderungen münden wie in Montpellier im Dezember 1944, als aufgebrachte Hausfrauen wie bei den Hungerprotesten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts Geschäfte plünderten. Hamsterfahrten konnten die Gegensätze zwischen Stadt und Land verschärfen. Andere Praktiken, legal oder nicht, waren die Ausweitung der Selbstversorgung und die Beschaffung von Brennmaterial. Die Bäume des Berliner Tiergartens wurden abgeholzt und das Land unter den Pflug genommen. Erst 1949 begann die Wiederaufforstung des beliebten Parks. Der Kölner Kardinal Frings gewann dauernde Popularität, als er Silvester 1946 indirekt das (weitverbreitete) Stehlen von Kohle oder anderem Brennmaterial legitimierte („Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise… nicht erlangen kann.“).

Abb 1Der Berliner Tiergarten als landwirtschaftliche Nutzfläche, Juli 1946 (Quelle: Bundesarchiv 183-M1015–314).
Am wichtigsten war vielleicht der Schwarzmarkt, der überall auftrat, wo es Rationierung gab, aber dennoch von Land zu Land und teilweise von Ort zu Ort unterschiedliche Ausmaße und Formen annahm. Dort, wo die Rationierung im Allgemeinen gut funktionierte und die Rationen ein erträgliches Maß behielten, hielt sich auch der Schwarzmarkt in Grenzen, nämlich in Dänemark (wo die Schwarzmarktpreise stabil blieben) und in Großbritannien, wo zudem effektive Kontrollmechanismen installiert wurden. Anderswo, vor allem in Italien, nahm der Schwarzmarkt solche Ausmaße an, dass es wahrscheinlich zutreffender wäre, von einer „Schwarzmarkt-Gesellschaft“ als von einer „Rationen-Gesellschaft“ zu sprechen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Das Rationierungssystem brach 1944 nach dem Einmarsch der Alliierten zunächst vollkommen zusammen, und noch im Juli 1947 waren die Rationen in Rom so niedrig, dass die Normalverbraucher nicht einmal auf 2000 Kalorien am Tag kamen. Hinzu kam, dass der Schwarzmarkt von den Behörden als notwendiges Übel oftmals toleriert wurde. Anders in Frankreich, wo die Behörden im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchten, gegen den illegalen Handel vorzugehen. Jedoch erwiesen sich Praktiken der Unterschlagung, die während der Besetzung Ausdruck nationalen Widerstands gegen die deutschen Besatzer waren, als zählebig.
Der Schwarzmarkt war bei der Not leidenden Bevölkerung nicht besonders beliebt. Die Preise waren häufig exorbitant, das Risiko, von den Behörden entdeckt und bestraft zu werden, immer vorhanden. Daher war der Schwarzmarkt auch weniger eine Einübung in die Marktwirtschaft als vielmehr ein negatives Zerrbild derselben. Er begünstigte vor allem eine kleine Schicht von Menschen, die, über welche Kanäle auch immer, Zugang zu stark nachgefragten Waren hatten, und produzierte somit eine kleine Schicht von Profiteuren, die ihren plötzlichen Reichtum ungeniert zur Schau stellten und somit die sozialen Spannungen zusätzlich anheizten.
1.1.2Gesellschaftliche und politische Implikationen
Die Rationen- und Schwarzmarkt-Gesellschaft führte somit keineswegs zu einer nivellierten Notgemeinschaft, sondern zu zusätzlichen sozialen Spannungen, die sich in erster Linie in Form von Streiks und Protesten artikulierten, mittelbar aber auch für das Schicksal von Regierungen verantwortlich waren (→Kap. 1.4). In Großbritannien nahmen die Proteste noch relativ milde Formen an. So war ein Hafenarbeiterstreik im Oktober 1945 sehr unpopulär, weil er die ohnehin angespannte Versorgungslage zu verschlechtern drohte. Proteste wurden in der Folgezeit von Hausfrauenorganisationen artikuliert, z. B. gegen die Einführung der Brotrationierung im Sommer 1946.
Schwieriger war die Lage auf dem Kontinent. Hier war es besonders die städtische Bevölkerung, die unter den Versorgungsschwierigkeiten zu leiden hatte. Die Löhne hielten meist nicht mit den steigenden Schwarzmarktpreisen mit, was immer wieder für Empörung sorgte. Zudem war mit zunehmendem zeitlichem Abstand der Krieg immer weniger als Erklärung für die Versorgungsschwierigkeiten akzeptabel. Kritisch waren insbesondere Herbst und Winter eines jeden Jahres. In Köln kam es im Januar 1948 zu einem Generalstreik, an dem sich 120.000 Beschäftigte beteiligten. Die schwersten Krawalle in den westlichen Besatzungszonen fanden jedoch nach der Währungsreform vom Juni 1948 statt, nämlich die „Stuttgarter Vorfälle“ vom 28. Oktober 1948, bei denen nach einer Demonstration gegen die Preissteigerungen infolge der Währungsreform Schaufensterscheiben eingeschlagen und Autos demoliert wurden. Die Gewerkschaften riefen in der Bizone für den 12. November einen Generalstreik aus, an dem sich nach Angaben der Veranstalter über 9 Millionen Menschen beteiligten. Eine Antwort darauf war das bereits im Sommer 1948 angelaufene „Jedermann-Programm“, das mit staatlicher Unterstützung preiswerte Konsumgüter für den Massenmarkt bereitstellen sollte.
Heftige Streik- und Protestwellen erschütterten auch und insbesondere Frankreich. Schon 1946 kam es immer wieder zu wilden Streiks, die weder von der in der Regierung vertretenen kommunistischen Partei noch der ihr nahestehenden Gewerkschaft CGT gebilligt wurden. Als jedoch im April 1947 in der CGT-Hochburg Renault-Billancourt ein Streik ausbrach, sah sich die Gewerkschaft nach kurzem Zögern gezwungen, sich dem Streik anzuschließen, wollte sie nicht ihre treuesten Unterstützer verprellen. Das zwang wiederum die kommunistische Partei zu einer Neuorientierung in der Sozial- und Wirtschaftspolitik und führte zu ihrem Ausscheiden aus der Regierung im Mai 1947. Damit war der Höhepunkt der Streikaktivitäten noch nicht erreicht. Im November gab es bei einer Protestdemonstration in Marseille gegen die Erhöhung der Straßenbahnfahrpreise einen Toten. Dem daraufhin ausgerufenen lokalen Generalstreik schlossen sich rasch die nordfranzösischen Bergleute an, und kurze Zeit später waren 2 Millionen Arbeiter im Ausstand. Die Regierung reagierte mit Antistreikgesetzen und dem Einsatz von Polizei und Armee, nicht aber mit Zugeständnissen. Ähnliches spielte sich im Oktober und November 1948 ab, als wiederum die Bergleute in den Streik traten, in dessen Verlauf 1041 Streikende verhaftet und 479 Polizisten verletzt wurden.
Die Auseinandersetzungen in Italien waren kaum weniger heftig. Im Juli 1946 wurden in Venedig Lebensmittelgeschäfte geplündert und in Turin ein Generalstreik ausgerufen. Im Oktober 1946 besetzten Demonstranten die Residenz des Ministerpräsidenten in Rom. In den heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es zwei Tote und über 150 Verletzte. Gleichzeitig protestierten in den ländlichen Regionen bis zum Sommer 1947 immer wieder die Landarbeiter und Halbpächter. Zu landesweiten Streiks und Fabrikbesetzungen der kommunistischen Arbeiter kam es nach einem Attentat auf den kommunistischen Parteichef Palmiro Togliatti am 14. Juli 1948. In Genua übernahmen die Streikführer sogar kurzzeitig die Kontrolle über die Stadt, und eine Revolution schien im Bereich des Möglichen. Erst im Lauf des Jahres 1949 verbesserte sich die ökonomische Situation spürbar, und die sozialen Auseinandersetzungen ebbten ab.
Diese Streiks und Proteste weisen schon darauf hin, dass die Rationen- und Schwarzmarkt-Gesellschaften keineswegs durch die Not zusammengeschweißt wurden. Richtig ist zwar, dass traditionelle soziale Unterschiede teilweise an Bedeutung verloren, ja bisweilen sogar umgekehrt wurden. In der Notzeit war beispielsweise die Landbevölkerung meist besser versorgt als die normalerweise besser situierten Stadtbewohner. Ansonsten dominierte aber eine negative „Vergleichsmentalität“ (Rainer Gries), in der jeder neidisch auf den oder die andere blickte, die mehr hatte als man selbst. Eine gewisse Nivellierung fand dadurch statt, dass ansonsten gut verdienende städtische Angestellte oder Beamte nicht besser-, sondern eher schlechtergestellt waren als Arbeiter oder Bauern. Dort, wo die Rationierung gut funktionierte wie in Großbritannien, konnte sie somit durchaus positive Folgen zeitigen. Die britischen Arbeiter waren in der Zeit der Rationierung besser ernährt als vorher, und nicht zuletzt deswegen war das Ende der Rationierung in Großbritannien durchaus umstritten. In den meisten anderen Ländern jedoch erzeugte die Rationierung neue Formen der sozialen Ungleichheit durch den Aufstieg der Kriegsgewinnler, Spekulanten und „Schieber“, deren schneller Reichtum eher auf Beziehungen als auf Leistung zurückzuführen war und der dementsprechend wenig Akzeptanz gewinnen konnte.
Literatur
Corni, Gustavo/Gies, Horst: Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997
Duchen, Claire: Women’s Rights and Women’s Lives in France, 1944–1968, London 1994
Gildea, Robert/Wieviorka, Olivier/Warring, Anette (Hg.): Surviving Hitler and Mussolini. Daily Life in Occupied Europe, Oxford 2006
Gries, Rainer: Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität. Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Münster 1991
Helstosky, Carol: Garlic and Oil. Food and Politics in Italy, Oxford 2004
Shorter, Edward/Tilly, Charles: Strikes in France, 1830–1968, London 1974
Trentmann, Frank/Just, Flemming (Hg.): Food and Conflict in Europe in the Age of two World Wars, Basingstoke 2006
Zierenberg, Malte: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Göttingen 2008
Zweiniger-Bargielowska, Ina: Austerity in Britain. Rationing, Controls, and Consumption, 1939–1955, Oxford 2000
1.2Vergangenheitspolitik
Eine der wichtigsten Aufgaben für die westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit war der richtige Umgang mit der Vergangenheit, also die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei). In erster Linie ging es darum, die postfaschistischen Demokratien zu stabilisieren, in zweiter Linie darum, dem berechtigten Verlangen der Opfer nach Gerechtigkeit Genüge zu tun. Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit wurde aber durch mehrere Umstände erschwert, die freilich von Land zu Land unterschiedlich ausfielen: Zum einen wogen die Probleme der Gegenwart (vor allem der Versorgung) für viele Menschen schwerer als diejenigen der Vergangenheit, und die Säuberungen drohten an Akzeptanz zu verlieren, wenn sie durch massenhafte Entlassungen oder Internierungen die Verwaltung schwächten und die Versorgungslage verschärften. Zum Zweiten war es in vielen Ländern schlicht schwierig, gleichzeitig erfahrene und unbelastete Angehörige von Verwaltung, Justiz, Polizei oder Militär in ausreichender Zahl zu finden, so dass eine Amnestie der geringer Belasteten in manchen Ländern (wie Deutschland oder Italien) unausweichlich war, wollte man sie nicht dauerhaft unter ausländische Verwaltung stellen.
Hinzu kam, dass sich der Rechtsstaat als Mittel zur Auseinandersetzung mit den faschistischen oder nationalsozialistischen Eliten und ihren Helfershelfern als wenig geeignet erwies. In fast allen Ländern wurden mehr oder minder geglückte juristische Hilfskonstruktionen (z. B. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, Sondergerichte) angewendet, um die Täter überhaupt vor Gericht stellen und bestrafen zu können. Das brachte den Prozessen von Seiten der Angeklagten wie der politischen Rechten allgemein den Vorwurf der „Siegerjustiz“ ein. Bis heute wird bemängelt, dass die juristische Auseinandersetzung mit den untergegangenen Regimen nach dem Krieg zentrale rechtsstaatliche Grundsätze verletzt habe, so das Rückwirkungsverbot, nach dem geltendes Recht nicht rückwirkend angewendet werden darf, oder die mangelnde Trennung zwischen Anklägern und Richtern. Es wird bei dieser Kritik jedoch gern übersehen, dass die faschistischen und nationalsozialistischen Regime in Europa nicht legal an die Macht gelangt waren, auch dort nicht, wo sie versuchten, den Schein der Legalität zu wahren wie in Deutschland, Italien oder Frankreich. Daher greift es zu kurz, sich auf einen angeblichen „Befehlsnotstand“ zu berufen, da die Befehle an sich schon keine ausreichende Rechtsgrundlage besaßen.
1.2.1Die „wilden“ Säuberungen
Generell lässt sich zwischen den „wilden“, den administrativen und den juristischen Säuberungen unterscheiden. Die „wilden“ Säuberungen fanden im Wesentlichen in zwei Wellen statt, nämlich direkt nach dem Abzug der deutschen Truppen in vielen Gebieten im Herbst 1944 und nach der formellen Kapitulation der Wehrmacht im Frühjahr 1945. Sie forderten zahlreiche Todesopfer, in Frankreich ca. 10.000, in Italien 10.000 bis 12.000, in den Niederlanden ca. 100. Neben Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren oder mittels Schnellverfahren kam es zu spontanen Verwüstungen von NS-Zentralen, Inhaftierungen (in Dänemark allein ca. 20.000) und Gewalt gegen wirkliche oder vermeintliche Kollaborateure. Häufig wurden gerade Frauen Opfer von ritueller Gewalt in der Form des öffentlichen Scherens. Allein in Frankreich wurden ca. 20.000 der Kollaboration beschuldigten Frauen die Haare geschoren.

Abb 2Der Kollaboration beschuldigte Frauen in Paris, Sommer 1944 (Quelle: Bundesarchiv 146–1975–041–10).
Die „wilden“ Säuberungen waren zweifellos mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. Ob dabei die wirklichen Schuldigen getroffen oder nur offene Rechnungen beglichen wurden, ist nicht sicher. Letztlich war diese Form der Säuberung aber in erster Linie ein Übergangsphänomen, das in die Zwischenzeit zwischen dem Ende der deutschen Besatzungsherrschaft oder faschistischen Herrschaft und dem staatlichen Neubeginn fiel. Zudem fanden viele dieser Säuberungen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen statt. Nach der Übernahme der Verwaltung durch die Alliierten fanden diese Säuberungen meist ein rasches Ende. Allein in Italien setzten sie sich noch bis Ende 1945 fort.
1.2.2Die administrativen Säuberungen
Die administrativen Säuberungen waren das bevorzugte Mittel der Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Meist wurden generell alle wichtigen Funktionsträger des alten Regimes entlassen oder gleich interniert. Das führte natürlich zu Massenverhaftungen mit allen damit verbundenen Problemen. In Frankreich wurden unmittelbar nach der Befreiung ca. 126.000 Personen interniert, in Belgien 70.000, in den Niederlanden 120.000 und in Deutschland allein von den Westalliierten ca. 200.000. Die meisten wurden allerdings 1945 oder 1946 wieder freigelassen, wie z.B. in Belgien, wo die Zahl der Internierten im Frühjahr 1945 von 70.000 auf 20.000 sank, dann aber wieder auf 40.000 anstieg, da viele belastete Personen nach Belgien zurückkehrten. In Deutschland waren Ende 1945 noch schätzungsweise 100.000 Menschen interniert.
Die Internierungen waren ungerecht, aber effektiv; ungerecht, da sie, anders als Gerichtsverfahren, nicht auf der individuellen Schuld der Internierten beruhten; effektiv, da sie gleichzeitig die Funktionsträger der alten Regime zumindest so lange von den Schaltzentralen der Macht fernhielten, bis sich die Verhältnisse einigermaßen stabilisiert hatten. Die Abkehr von dieser Art der Säuberung erfolgte nicht erst unter dem Eindruck des Kalten Krieges, sondern schon recht bald. Der Grund war eher innenpolitischer Natur: Die Regierungen wollten verhindern, dass sich eine quasi permanente Kaste von Unzufriedenen bildete, welche eine Gefahr für die Demokratie hätten bilden können. In der Tat bildeten sich in mehreren Ländern Parteien, die den Protest gegen die Entnazifizierung in die Parlamente trugen: in Belgien die flämische „Volksunie“, in Italien die neofaschistische „Jedermanns-Front“ und später der MSI (Movimento Sociale Italiano), in Deutschland der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“. Sie hatten in Wahlen zwar nur begrenzten Erfolg (selten mehr als 5 Prozent), aber es genügte, um zu signalisieren, dass es ein gefährliches Potential von Unzufriedenen gab.
Aber nicht nur die Internierten mussten sich der bürokratischen Prozedur der administrativen Säuberung stellen. In den westlichen Besatzungszonen Deutschlands wurden Millionen von Menschen auf ihre Einstellung zu und ihre Tätigkeit im NS-Regime überprüft. Die US-amerikanischen Besatzungsbehörden ließen 13,2 Millionen Meldebögen ausfüllen, von denen allerdings nur 945.000 überhaupt weiter verfolgt wurden. Auch in der britischen Besatzungszone wurden mehr als 2 Millionen Menschen überprüft. Im März 1946 führte zu diesem Zweck zunächst die US-amerikanische Militäradministration das Spruchkammerverfahren ein. Die mit unbelasteten Juristen und Laienrichtern besetzten Spruchkammern hatten die Überprüften in fünf Kategorien einzuteilen von „Hauptschuldige“ bis „Entlastete“. Die Kammern waren aber von der Vielzahl der Verfahren überfordert, und so genügte häufig schon ein Leumundszeugnis („Persilschein“), um als „Mitläufer“ oder „Entlasteter“ weitgehend straffrei auszugehen, was den Spruchkammern den Ruf der „Mitläuferfabriken“ (Lutz Niethammer) einbrachte. In der Tat wurden in der US-Zone schließlich 77 Prozent der Beschuldigten als Mitläufer eingestuft (und 3 Prozent als Entlastete). In der britischen Zone wurden sogar mehr als 80 Prozent der Fälle als vollständig entlastet eingestuft.
1.2.3Die justiziellen Säuberungen
Nach der Kapitulation Deutschlands nahmen die Alliierten die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher in die eigenen Hände. So kam es bereits im Oktober 1945 vor den berühmten Nürnberger Prozessen in der britischen Besatzungszone zu den Lüneburger Prozessen (oder Bergen-Belsen-Prozessen) gegen KZ-Wachmannschaften. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/46 wurden 12 von 24 Angeklagten zum Tode verurteilt, u.a. wegen des neu geschaffenen Tatbestands „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. In den Folgeprozessen von 1946 bis 1949 wurde gegen weitere 177 Angeklagte verhandelt und dabei 25 Todesurteile ausgesprochen. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess war trotz gewisser formaler Mängel ein weitgehend faires Verfahren und gilt heute als Meilenstein der internationalen Strafgerichtsbarkeit.
Wie aus den geringen Fallzahlen ersichtlich, lag die Hauptverantwortung für die justizielle Aufarbeitung jedoch nicht bei den Alliierten, sondern bei den jeweiligen Einzelstaaten. Wieder waren es Hunderttausende, gegen die Verfahren oder Voruntersuchungen eingeleitet wurden: in Österreich 137.000, in Frankreich 350.000, in Dänemark 40.000, in Norwegen 93.000 und in Belgien ebenfalls 350.000. Weit weniger beeindruckend waren die Zahlen in Deutschland, wo bis 1949 nur ca. 13.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Bis Ende der fünfziger Jahre verfolgte die westdeutsche Justiz nur Vergehen, die in Deutschland begangen worden waren. Das änderte sich erst mit dem Ulmer Prozess gegen die „Einsatzgruppe Tilsit“ 1958.
Aus verschiedenen Gründen gab es erhebliche Differenzen beim Vorgehen gegen Kollaborateure, NS- und Kriegsverbrecher: Das NS-Besatzungsregime war von Land zu Land unterschiedlich repressiv gewesen, der Grad der ideologischen Durchdringung war unterschiedlich, nationale Rechtstraditionen und die politische Situation nach dem Krieg spielten ebenfalls eine Rolle. Am gründlichsten ging man vielleicht in Norwegen vor, wo schon die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation als Straftatbestand gewertet wurde. Von den 93.000 Beschuldigten, gegen die Verfahren eingeleitet wurden, wurden über 20.000 verurteilt; weitere 28.000 akzeptierten eine Strafe ohne Prozess. Die Strafen fielen allerdings meist gering aus, nur in 25 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt.