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Ulfried Schramm
DER ZUG HÄLT NICHT IN PASEWALK
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Aquarelle © Ulfried Schramm
(Ohne Titel, Aquarellfarbe, Kreide, Senfsoße, Kaffee, rote Beetesaft)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Der Zug hält nicht in Pasewalk oder Kaffee mit Salamibrötchen
Der Birkenbusch
Wismutkumpel
Das Segelschiff
Tucho
Der Bumerang
Tauwetter
Das Fotomodell
Der lange Weg nach Alt-Reddewitz
Summertime
Der vorzeitige Weihnachtsabend
Sekt
Die Bodenkammer
Ein Kleiber zum Anfassen
Die Schlange im Gras
Die Tür zum Bad
Im Rübenkeller
Ein Engel im Winter
Eine Sommergeschichte
Fußnote
Der Zug hält nicht in Pasewalk oder Kaffee mit Salamibrötchen
Das Dorf in der Uckermark hatte eine kleine Bahnstation. Dorthin gelangte man über eine gewundene Kopfsteinpflasterstraße, die an Wiesen und Feldern entlangführte. Für trockene Monate gab es daneben einen Sommerweg. Es war ein glatter Sandweg, gut für nackte Füße, Räder und Pferdehufe.
Am Bahnhof war Kahlisch im Spätsommer angekommen.
Jetzt lag der Schnee schon lange auf den Feldern. Die Fernstraße hatte eine geschlossene Schneedecke. Der Frost blieb am Tag und in der Nacht. Die Natur war in der Starre.
Es war Kahlischs erster Winter, den er hier erlebte. Er arbeitete als Neulehrer im Nachbardorf.
Er benutzte den Schulbus, hatte ein warmes Mittagessen und eine Menge Arbeit in der Schule.
In dem Zimmer oben an der Giebelseite der alten Schule war er zu Hause. Er hatte einen altertümlichen Kachelofen, der noch ganz gut heizte. Kahlisch wohnte in dem ungenutzten Schulgebäude ganz allein. Allein, mit zwei Klassenräumen im Erdgeschoss, einer kleinen Schulküche nebenan und einem Trockenklo auf dem Schulhof. Kahlisch fühlte sich wohl im Haus, weil er schalten und walten konnte, wie es ihm gefiel, und weil er genügend Ruhe hatte, seine Schulaufgaben vorzubereiten. Im Nachbarort war das Schulhaus größer und alle acht Klassen hatten ihr eigenes Klassenzimmer. Kahlisch galt nach dem halben Jahr Lehrertätigkeit noch als Neuling.
Wenn er in seiner Klasse unterrichtete, gab es stets Beobachter, die seine Arbeit bewerteten. Kahlisch wollte das nicht. Die Beobachter waren für ihn Eindringlinge, die das Zusammenspiel mit ihm und seiner Klasse störten. Er wollte sich ausprobieren, wollte seine pädagogischen Fähigkeiten spüren, wollte mit den Kindern wachsen.
Anfang Januar hatte er einen Lehrgang und seine Kollegin A. ebenfalls.
Beide waren als Absolventen eines Lehrerstudiums hier in der Provinz gelandet. Kahlisch und sie hatten unterschiedliche Vorstellungen von der Arbeit auf dem Land. Für A. war es die Arbeit auf Lebenszeit und Kahlisch würde nicht länger als nötig bleiben. Nach dem Winter wollte er sich etwas in der Stadt suchen. Den jetzigen Lehrgang sah er als eine willkommene Abwechslung im immer gleichen Tagesablauf. Bei der Planung für diese Weiterbildung vereinbarten beide die gemeinsame Reisezeit, mitten im kalten Winter.
Kahlisch ging kurz nach 6.00 Uhr zum Bahnhof und fror. Der Zug kam, doch die Kollegin A. fehlte. Weil sie nicht weit vom Bahnhof wohnte, holte er sie ab, stand in ihrer Küche herum und wartete, bis sie reisefertig war. Sie hatte ausgerechnet heute verschlafen. Kahlisch sah durch die Milchglasscheibe der Küchentür, wie sie sich anzog und zurechtmachte.
Dieser Zug hält nicht in Pasewalk, sagte der Mann mit der roten Mütze, als sie einstiegen. Sie hatten auf einen anderen Zug gewartet, der in die gleiche Richtung fuhr.
In den Abteilen war es voll. Sie liefen im fahrenden Zug und suchten zwei Plätze, saßen sich dann am Fenster gegenüber und hatten die Füße auf der Heizung. Der Schnee taute, lief über die Heizungsrohre und verdampfte. Ein säuerlicher Eisengeruch stieg nach oben. Kahlisch wischte am beschlagenen Fenster. Draußen war es noch Nacht. Der Zug ratterte und hüllte sich in Dampf.
Kahlisch malte für seine Kollegin eine dampfende Tasse Kaffee und zwei Brötchen an die beschlagene Fensterscheibe. A. lächelte und nickte ihm zu.
Plötzlich hielt der Zug in Pasewalk. Lokwechsel, Enteisung der Waggons, alles aussteigen, die Leute liefen in weißen Dampfwolken über den Bahnsteig. Eisiger Wind. Heute ist alles anders, sagte Kahlisch zu seiner Kollegin und führte sie in den Wartesaal mit Imbissecke. An quadratischen Tischen konnte man Platz nehmen. Neonlicht beleuchtete die Glasvitrine mit dem Frühstücksangebot. Daneben war ein Kaffeeausschank. Die Reisenden belegten Stühle und Tische. Bald war der Wartesaal mit Menschen gefüllt, dicke Wintersachen hingen über den Stühlen, Taschen standen auf dem Boden, Zeitungen wurden aufgeschlagen und Kaffeeduft zog durch den Raum, Papier knisterte. Die Leute unterhielten sich gedämpft. Es war zeitiger Morgen, Geschirr klapperte, ein Kind weinte.
Kahlisch hatte einen freien Tisch gefunden, an dem er und seine Kollegin Platz nahmen. Sie sprachen wenig miteinander, schauten sich im Raum um und gingen zum Kaffeeausschank. Sie kauften zwei Salamibrötchen aus der Vitrine und der gebrühte Kaffee stand schon bereit. Am Tisch lächelte A. wieder und nickte Kahlisch zu. Er biss mit außergewöhnlichem Appetit in das Brötchen und nickte mit vollem Mund zurück. Schweigend waren sie bei ihrer Morgenmahlzeit. Sie waren mit sich, dem Kaffee und dem Brötchen mit der rutschenden Salamischeibe beschäftigt.
Kahlisch genoss den Augenblick, schaute auf seine Kollegin und verspürte ein unergründliches Glück in diesem Wartesaal, mitten in Pasewalk.
Im Lehrgang waren sie getrennt. A. bildete sich künstlerisch weiter und Kahlisch wollte seine Französischkenntnisse verbessern.
Die Stadt, in der sie jetzt waren, kannte Kahlisch gut. Ein Freund von ihm, ein Theologiestudent, lebte hier.
An einem Abend saßen Kahlisch und seine Kollegin A. in einem Weinausschank und führten ihr erstes vertrautes Gespräch. Während sie sprach, schaute sie ihn offen an und er erkannte ihre äußere Schönheit im Kerzenlicht.
Kahlisch machte Fotos. Er durfte. Er sah lange auf ihre blonden, schulterlangen Haare und löste die Kamera ruhig aus. Sie sprach nicht viel dabei.
Kahlisch erklärte die Mechanik des Fotoapparates und die Verarbeitungstechnik zu einem Schwarzweißfoto und wie ihr tiefblaues Folklorekleid bei dieser Kerzenbeleuchtung später auf dem Foto aussehen würde, ziemlich dunkelgrau, hm, dafür leuchteten die roten Ornamente schön hell. Sie lachten über die Technik.
Auf der Rückreise saß A. eng an Kahlisch angeschmiegt und hatte den Kopf an seine Schulter gelegt. Kahlisch las in einem Prospekt, denn die neue Vertrautheit mit A. verunsicherte ihn hier im Zugabteil.
Am Sonntag lud A. Kahlisch zum Frühstück ein. Sie kochte Kaffee und er musste die frischen Brötchen mit Salamischeiben belegen. Kahlisch sagte sich, das Leben wiederholt sich, aber die Liebe ist neu.
A. zeigte Kahlisch ihre Wohnung. Sie blieben an der Staffelei mit dem Selbstporträt stehen und er fühlte sich zu Hause, angekommen und somit ließ er sich noch eine Tasse Kaffee von A. geben.
Fünfzehn Jahre später, A. und Kahlisch hatten einen freien Schultag. Ihre drei Kinder waren auf dem Weg zur Schule. Kahlisch hatte in der Küche so stark geheizt, dass die Fenster beschlagen waren. Er malte eine dampfende Tasse Kaffee und zwei Salamibrötchen auf die Fensterscheibe. A. lachte und nickte ihm zu. Kahlisch ging zum Bäcker und A. kochte den Morgenkaffee.

Der Birkenbusch
Kahlisch sitzt am Küchenfenster, eine Tasse Kaffee vor sich und blickt auf die Straße mit den vorbeieilenden Passanten – Mütter bringen ihre Kinder in den Kindergarten –, der Mann vom Nachbarhaus schleppt, wie jeden Morgen, sein Bier nach Hause –, Kinder fahren mit dem Fahrrad zur Schule –, und im Wohnblock gegenüber rauchen zwei Frauen auf dem Balkon. Der Wind bläst eine leere Plastikflasche schräg über die Straße.
Kahlisch sieht alles durch das Fenster ablaufen, aber seine Gedanken sind bei dem Telefongespräch von eben. Es hat ihn in seine Kindheit zurückversetzt. Die Stimme des Schulfreundes, dessen sich wiederholende Art, seine Gedanken vorzubringen und sein stetige Monolog, zur Vergangenheit, bringen ihn ebenfalls dort hin – in den Birkenbusch – einen Ort, ihrer Kindheit, ein kleine Wäldchen, das inmitten der Felder, am Rande des Dorfes lag.
In Kahlichs Erinnerung war es für Kinder ein Wagnis, dieses Waldstück zu betreten, trotzdem taten sie es, um dort V e r s t e c k z u s p i e l e n, herumzutoben, mit Decken ein Zelt zu bauen oder einfach hindurchzustreifen. Die Bauern, denen die umliegenden Felder gehörten, trieben die Kinder sofort aus dem Wäldchen, wenn sie sie erwischten. Dann stob die Kinderschar auseinander und blieb unauffindbar, auch Kahlisch. Er hockte unter der Brücke des Dorfbaches, hielt einen Stock in die Strömung und war froh, dass ihn das Durcheinander nicht erreichte. Es wurde ihm mehr und mehr zum Bedürfnis, den Birkenbusch für sich zu erobern, ohne dass es jemand merkte.
An einem Tag schlich er sich durch Rübenfelder, Wiesenstücke und Ackerfurchen bis zum Waldrand hin, schlüpfte ungesehen ins Wäldchen und wartete auf seinen Schulfreund, der aus einer anderen Richtung kam.
Sie flüsterten, als sie sich begegneten, warteten und sicherten sich ab, dass sie allein waren.
Es waren nicht viele Bäume hier und es gab Büsche und Sträucher, die nie angepflanzt worden waren – Wildwuchs, Wildnis inmitten von Ackerland, zugängig, nur über einen Feldweg.
Vom Dorf aus ging dieser Weg über eine kleine Brücke am Bach, durch Wiesen zum Feld. Der kürzeste Weg zum Birkenbusch führte jedoch querfeldein über die Wiesen. Kahlisch hatte ihn für sich erprobt. Von zu Hause aus s p r a n g er über den Zaun, lief schräg am Ententeich vorbei, nahm sich vom Birnenbaum Proviant für den Nachmittag, s p r a n g an einer engen Stelle über den Dorfbach und erreichte die Wiesen. Im Wäldchen stand er still unter einer Buche und biss hastig in eine der Birnen. Hier hörte man die Kirchturmuhr schlagen und wenn der Schmied arbeitete, drang der helle Hammerschlag bis in den Birkenbusch. Stimmen aus dem Dorf waren selten zu vernehmen.
Aus dem Wäldchen, konnte man ungesehen nach draußen blicken. Wir sind in einer guten Deckung – sagte Kahlischs Freund, an jenem Nachmittag, als sie die Vogelnester ausfindig machten wollten. Dann ging es an die Arbeit – die Vogeleiersammlung sollte vervollständigt werden, eine verbotene Sache, das wussten beide. Die Pappschachteln mit den einzelnen Fächern und den vorbereiteten Namensetiketten der Vögel lagen auf dem Waldboden. Sie hatten einen Schnellkleber zum Befestigen der Eier und eine Papiertüte für die Pappschachteln dabei. Kahlisch kletterte als Erster zu einem Vogelnest, entnahm zwei Eier, grün mit kleinen Sprengseln. Amseleier, sagte sein Freund. Die kleinen, weißen Eier aus einem andern Nest, konnten sie nicht bestimmen, nahmen sie aber und klebten sie vorsichtig ein, steckten die Schachteln in die Papiertüten und diese wiederum in ihre Hemden, damit die Hände frei waren. Die Baumhöhle des Buntspechtes wollte sich Kahlisch in den nächsten Tagen vornehmen.
Kahlisch gießt sich Kaffee nach und blickt immer noch auf die Straße. Was war so besonders am Birkenbusch, überlegt er. Die Erinnerungen sind ihm gegenwärtig und die Eigentümlichkeiten des Ortes haben für ihn immer noch den gleichen Zauber. Wenn sich ein Mensch tief genug mit einem Ort verbindet, sagt er sich, dann bleibt diese Verbindung im Laufe seines Lebens bestehen, nährt seine Gedanken und Empfindungen und wird zum Bezugspunkt für ähnliche Sinneseindrücke, die wiederum Impulse geben, für das Denken und Handeln.
Dass der Birkenbusch für Kinder eine verbotene Zone war, wusste Kahlisch schon als Kind. Den Grund verstand er erst, als reifer Mann. Die Zeit lüftete ihm ihre Geheimnisse. Kahlisch begriff Zusammenhänge, die er als Kind bereits spürte, aber bedeutungslos fand.
Wenn er damals in der Wohnung auf der Nähmaschine der Mutter saß, konnte er den Birkenbusch gut erkennen. Er blickte vom Fenster auf das Teerdach des Anbaues, über den Teich des Bauerngehöftes, mit den vielen Enten, zu den Wiesen, zum Dorfbach, auf die Felder und schließlich zum Birkenbusch. Anziehend war für Kahlisch, die ständige Gegenwart des Waldstückes, gleich ob er sich draußen im Dorf aufhielt oder in der Wohnung war. Alle Jahreszeiten erlebte Kahlisch mit dem Birkenbusch. Das Waldstück zog ihn magisch an, doch war er darinnen, verspürte er Einsamkeit. Diese gedrückte Stimmung hielt ihn nicht lange im Wäldchen, er machte sich immer bald auf und davon. Sein Freund empfand dies ähnlich und auch er glaubte noch heute an die Magie dieses Ortes.
Während des letzten Krieges war eine gut getarnte Flakstellung im Birkenbusch.
Amerikaner beschossen von dort die russische Stellung im nahen Steinbruch. Granaten flogen über die Felder. Als die Amerikaner weg waren, bauten die Russen eine Verteidigungsstellung hier auf und feierten im Wäldchen. Kein Dorfbewohner durfte dieses Territorium betreten. Man hörte nur Akkordeonmusik und ab und zu sah man, wie eine Frau im Kopftuch und mit einem Brotkorb ins Wäldchen schritt. In manche Baumrinde waren kyrillische Buchstaben geritzt. Patronenhülsen lagen noch viele Jahre im Wald herum. Kahlisch suchte oft gezielt danach und er wurde nur einmal fündig. Goldfarben lag die Hülse in seiner Hand. Neben dem Zündhütchen waren Zahlen und Buchstaben eingeprägt. Er grübelte über deren Bedeutung und sagte schließlich zu sich: – Pistole.
Und die Bauern vergruben im Birkenbusch heimlich die verendeten Jungtiere. Das sollten spielende Kinder nicht entdecken.
Kahlisch will Klarheit. Er macht sich auf den Weg zum Birkenbusch, mit ihm seine Gedanken, seine Gefühle, seine Überlegungen von damals, die sich mit jenen von heute verbinden.
Ein breit angelegter Fahrweg für Landwirtschaftsmaschinen führt Kahlisch an das Wäldchen heran. Abgestellte Geräte säumen den Waldrand. Durch die Felder führt der tiefe Graben einer im Bau befindlichen Wasserleitungstrasse, nahe am Wäldchen vorbei. Kahlisch ist allein und betritt den einzigen Trampelpfad des Waldes. Die Einsamkeit befällt ihn wieder. Er schreitet still dahin, sieht durch die Bäume auf das Dorf und trifft auf einen Jungen, der im Erdboden gräbt und einen Wall anlegt. Kahlisch spricht ihn auf sein Vorhaben an. Zögerlich erhält er die Antwort – es wird eine Rennstrecke für Fahrräder. Der Junge wendet sich ab und gräbt ruhig weiter. Kahlisch denkt, während er ihm zusieht, dass keiner den Jungen hier verscheuchen wird, er wird seine Tätigkeit in Ruhe und selbstverständlich weiterführen, bis die Fahrstrecke angelegt ist, – später werden die Freunde dazukommen und die wilde Jagd durch das Wäldchen wird beginnen, – Vogelnester werden die Kinder nicht suchen und die kyrillischen Buchstaben an den Bäumen sind längst verwachsen.
Kahlisch merkt die Veränderung augenblicklich und geht aus dem Wäldchen, begegnet einem Hund, der zielgerichtet vom Besitzer zum Wald geschickt wird – Such!, hört Kahlisch noch.
Er verspürt einen kalten Schauer, läuft zügig auf das Dorf zu, über die kleine Brücke am Bach, an der Schmiede vorbei und setzt sich in sein Auto. Die Entzauberung des Birkenbusches hat für ihn schon begonnen.
WISMUTKUMPEL
Der Bergbau spielte im Ort keine wesentliche Rolle mehr, aber man traf immer wieder auf Formulierungen und Handlungen der Leute, die tief geprägt waren von der Kohleförderung und vom Erzabbau, der dem Landstrich den Namen gegeben hatte.
Das Bergmännische wurde wieder wach, wenn die Leute beieinandersaßen und Familiengeschichten und Lebensweisheiten erzählten.
Kahlisch hörte genau hin, wenn er in diese Berichte und Handlungsabläufe der Bergleute einbezogen wurde. Er lebte mit diesen Leuten Tür an Tür, ging mit ihnen zur Kegelbahn und tanzte auf einer Bergmannsfeier sogar in einem Volkstanz mit, extra für die Kohlekumpel. Er kannte sich in den Begebenheiten aus, denn Kahlisch wäre fast auch ein Bergmann geworden, aber Maurer waren damals mehr gefragt.
Doch die Wismutkumpel, die im Ort lebten und im Bergbau arbeiteten, konnten nicht an die alten Traditionen anknüpfen. Sie verhielten sich anders. Das Bergmännische und Ehrenhafte fehlte ihnen. Sie arbeiteten im Schacht, waren aber keine richtigen Bergmänner für die Leute im Dorf. Diese nannten sie verkommene Gestalten, Raubeine, Gestrauchelte, auch Alkoholiker, wenn sie zu viert oder fünft die Dorfstraße heraufgegrölt kamen oder am Morgen vom Wismutbus abgeholt wurden. Schon der Name dieses grauen Gefährtes war ungewöhnlich, ZIL 150 ZISS, mit schmaler, langgezogener Kühlerhaube. Der Bus hatte ein extra Fahrerhaus. Die Kumpel stiegen durch die Mitteltür in das Fahrzeug ein.
Wenn der Sonderbus durch den Ort fuhr, lag etwas Furchteinflößendes in der Luft. Die Leute gingen in ihre Häuser oder schauten hinter der Gardine auf diese „graue Maus“. Kahlisch hatte immer das Gefühl, dieser Bus fahre die Kumpel, dort oben im Gebirge, direkt in das Bergwerk ein.
Jeder im Ort wusste, dass man bei der Wismut gut verdienen konnte.
Man sprach auch vom Wismutschnaps und vom Sonderdeputat für Briketts. Die meisten Wismutkumpel hatten eine Familie, für die angeschafft wurde, die gut von ihnen lebte. Im Sommer gab es immer Familienurlaub an der Ostsee.
Eines Tages war Zahltag bei der Wismut. Kahlisch sollte etwas Unvergessliches erleben.
Er wurde gebeten, an diesem Ereignis teilzuhaben. Mit großem Tamtam lud ihn das Wismutkumpelehepaar, das er gut kannte, zu ihrem und seinem Vergnügen ein, die Wohnung mit geschlossenen Augen zu betreten.
Rocky, der Kumpel mit der ostseegebräunten Haut, hatte das große Geld nach Hause gebracht.
Als Kahlisch die Wohnung betrat und sich umschaute, blickte er in das strahlende Gesicht der Ehefrau und erkannte ein fassungsloses Glück. Sie zeigte auf Wohnzimmer und Küche, wo Geldscheine dicht an dicht auf Fußboden, Stühlen, Sesseln und Schränken ausgelegt waren. So, als wären diese Geldscheine herniedergerieselt. Kahlisch hatte keine Worte für das, was er sah.
Er sah nur die funkelnden Augen beider Eheleute.
Sie waren immer abwechselnd auf ihn gerichtet und auf die vielen Scheine, die den Teppich und die Möbel bedeckten.
Kahlisch wollte dies irgendwie für sich einordnen und versuchte sich vorzustellen, dass ein Schein genügte, wenn er am Wochenende tanzen ging, zwei, drei Bier holte, den Eintritt für den Tanzsaal bezahlte und seine Freundin an die Bar einlud.
Kahlisch dachte, während er zu Boden sah, dass er dann immer noch genügend Taschengeld für die darauffolgende Woche hatte, und hier lagen Jahrzehnte von solchen Wochenenden.
Er freute sich nicht besonders mit den beiden, die ihn in die Wohnung geholt hatten. Nur die Bilder prägten sich bei Kahlisch ein.
Das beglückte Ehepaar stachelte ihn immer wieder an, sich genauso zu freuen, wie sie sich freuten. Er war mit sich im Ungleichgewicht.
Etwas störte ihn. Rocky, der Gebräunte, sagte zu Kahlisch, es ist auch noch die Hauerprämie dabei. Er blickte zu Boden und suchte sie vergeblich.
Es fiel ihm ein, dass der Kumpel eine Spielschuld vom letzten Skatabend bei ihm hatte, die er nicht hatte begleichen können, weil er kein Kleingeld bei sich trug.
Über einen unverhofften Schein vom Fußboden hätte sich Kahlisch jetzt gefreut, aber der blieb aus.
Der Wismutkumpel hatte dies nicht mehr auf seinem Schirm, Kahlisch die Spielschuld auszuhändigen, und vergaß es auch fürs Lebens. Dafür war Kahlisch Mitwisser und Träger dieses gut gehüteten Geheimnisses am Zahltag bei der Wismut.
Richtig verstehen konnte Kahlisch dieses Erlebnis erst viele Jahre später, als der damalige Wismutkumpel Rocky schon lange im Westen lebte. Er geht jetzt an Krücken, sagte neulich ein anderer Skatfreund zu Kahlisch, die Verstrahlung der Beine ist nur der Anfang vom Ende.
Als Kahlisch im Internet suchte, fand er über den Uranabbau in der vierzigjährigen Geschichte der Wismut auch die Uranbelastungen der vor Ort arbeitenden Kumpel. Die Hauerprämie war die Bezahlung für die Zerstörung ihrer Gesundheit gewesen. Kahlisch ging an diesem Abend zum Seniorentanz, kaufte sich zwei Bier und lud seine Tischnachbarin zu einem Cocktail an die Bar ein.

Das Segelschiff
Es gab heute schöne Wellen auf dem Teich, der hinter dem Gehöft lag. Im Laufe des Sommers war das Gras bis in das Teichwasser hineingewachsen. Das Wasser fühlte sich warm an und war vom letzten Regen lehmig-braun gefärbt.
Kahlisch lag gedankenversunken auf dem Bauch am Teichufer und hatte beide Arme tief in das Wasser getaucht, fühlte nach Teichmuscheln und Fröschen. Mit den Augen knapp über der Wasseroberfläche, sahen die Wellen so groß wie Meereswogen aus. Kahlisch dachte an den letzten Film im Dorfkino.
Er saß mit kurzen Hosen und barfuß im verdunkelten Tanzsaal der Gaststätte und schaute auf das Segelschiff, das auf dem Meeresgrund lag. Die Jungen im Film tauchten danach und fanden den legendären Namen des Schiffes. Am Bug stand OTWASCHNIY1. Diese Szene hatte sich Kahlisch gut eingeprägt.
Hafen und Meer, Schiffe und Matrosen, Wellen und sturmgepeitschter Himmel waren für Kahlisch Sendboten für Freiheit, Abenteuer und Lebenslust.
Er streifte das Wasser von den Armen und begab sich nach Hause und dort in die Bodenkammer. Sein kleines Segelschiff fand er in einer Kiste unter dem Bett. In seiner Hand sah es sehr einfach aus. Die ersten Startversuche auf dem Teich waren fehlgeschlagen. Seitdem lag das Boot in der Kiste. Es war eine Spielzeugjolle mit ausgehöhltem Schiffskörper und einem Sitzplatz. Dazu hatte es ein Schratsegel mit Tagelage, die man nicht bewegen konnte. Das musste verändert werden. In den Seekriegsfilmen und auch im letzten Film hatte Kahlisch mehr auf die Konstruktionen der einzelnen Schiffstypen geachtet als auf den eigentlichen Inhalt der Filme. Er baute sein Spielzeugboot neu auf. Den Schiffskörper und den Mast konnte er noch gut verwenden, alles andere war nutzlos.
Kahlisch montierte am Schiffsmast ein Rahsegel, das rechts und links über das Boot ragte. Der Wind sollte sich richtig hineinlegen können und dem Boot Fahrt geben. Das Segel würde sich blähen und so aussehen wie bei den alten Segelschiffen im Film.
Kahlisch nähte in das Tuch die obere und die untere Segelstange gleich mit ein, befestigte das Segel am Schiffsmast mit Draht, sodass es sich auch ein bisschen seitlich drehen konnte. Kahlisch hielt den Bootskörper in Augenhöhe und hatte so den Eindruck, als würde er im Boot sitzen.
Jetzt musste am Heck ein bewegliches Ruder angebracht werden. Damit wollte Kahlisch die Fahrtrichtung einstellen, sodass das Schiff auch schräg gegen den Wind segeln konnte. Er suchte eine Weißblechdose und schnitt mit der Handschere ein längliches Viereck heraus. Diesen Streifen wickelte er zweifach um einen dicken Kupferdraht und schlug mit ein paar Hammerschlägen Kerben ein, damit Blech und Draht fest verbunden waren.