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„Auf keinen Fall. Ich habe noch was zu tun.“
„Was? Was hast du denn bitte zu tun?“ Sie sah mich forschend an. „Oh, ich verstehe“, sagte sie schließlich leise, „es sind noch welche übrig, oder?“
Ich sagte nichts.
„Vergiss es. Du wirst niemanden jagen, wenn dir dein Leben lieb ist. Herrgott, was denkst du eigentlich? Dass du einfach durch die Straßen spazieren und Leute suchen kannst? Du musst von der Bildfläche verschwinden. Du hast sonst keine Chance, siehst du das denn nicht?“
Ich sah es, aber ich sagte nichts.
Sie legte ihre Hände auf meine Wangen.
„Bitte, Sergej. Du bist seltsam, sehr mutig und geschickt, aber du bist nicht unverwundbar. Ich … wir haben Angst um dich. Ich will nicht dein Foto in, Bild‘ sehen und daneben dann lesen ‚Deutschland jubelt – die Bestie ist tot‘ oder so was. Lass uns dich verstecken.“
Ich überlegte lange, obwohl ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich musste zustimmen.
Sie erklärte mir den ganzen Plan. Am nächsten Tag würde sie zum Flughafen nach Amsterdam fahren. Mich wollte sie an einer Autobahnraststätte nahe Köln als Anhalter aufpicken. Ich war erstaunt.
„Seit wann nimmst du Anhalter mit?“
Sandra verdrehte die Augen. „Seit wir deine Flucht planen. Wer immer sich über uns informiert, weiß, dass wir die Engel der Landstraße sind. Das ist ein Mist, sage ich dir. Gottlob gibt es nicht mehr viele.“
Von Amsterdam aus würde ich via Quick Check-in nach Madrid fliegen. Dort war bei einem Botendienst der Schlüssel zu einem Schließfach hinterlegt – und ein Ticket nach Mallorca. Freunde von Mark, Engländer, hatten dort ein Haus in den Hügeln, weitab vom Trubel. Mark hatte ihnen schon vor einiger Zeit eine rührselige Geschichte von einem weißrussischen Kollegen namens Sergej erzählt, der große Probleme zu Hause hatte und vielleicht irgendwann würde untertauchen müssen. Die Freunde, er Schriftsteller, sie Journalistin, beide sehr hilfsbereit, hatten sofort erklärt, dass sie gerne eine Weile für den guten Zweck auf ihr Feriendomizil verzichten würden.
„Schreib ihnen mal eine Karte in gebrochenem Englisch“, schlug Sandra vor, „dann freuen sie sich.“
Ich wusste, dass Mark schon lange bei ‚Reporters sans frontiers‘ engagiert war, ich hatte ihn früher manchmal damit aufgezogen und wunderte mich nun ein wenig.
„Ihr bescheißt eure Freunde und Mark verrät seine gute Sache? Klingt gar nicht nach euch.“
„Es gibt gute Freunde und bessere Freunde und gute Sachen und bessere Sachen“, sagte sie knapp.
Mir fiel noch etwas ein. „Wovon soll ich leben?“
Sie lachte. „Oh, du bist ziemlich wohlhabend, weißt du?“
Stimmt, so was hatte Mark auch geschrieben. „Meinst du Sarahs Lebensversicherung? Die …“
„Nein, nein.“ Sie lächelte wieder, aber diesmal etwas bitter. „Du hast Fans. Oder du hattest welche. Die sahen in dir einen strammen Lawand-Order-Typ, Marke ‚Das Gesetz bin ich‘. Es gab einen Unterstützungsfonds, und dem hat ein vergreister, stinkreicher Sack einen Teil seines Vermögens vermacht. Der hat so ziemlich jedem rechten Sammler irgendwas vermacht, und deine Fans gehörten eben auch dazu. Er ist letztes Jahr gestorben. Mark hatte Kontakt zu ihm, und er hat es geschafft, über irgendwelche Strohmänner und zwischengeschaltete Anwälte dein Treuhänder zu werden.“
„Mit dem Konto werdet ihr kaum was anfangen können. Es wird garantiert überwacht.“
Sie lachte gallig. „Unterschätz mir die Typen nicht. Du hast einige Konten in mehreren Ländern und auch Immobilien und Aktien, glaube ich. Ich bezweifle, dass selbst Mark einen genauen Überblick hat. Er achtet nur darauf, dass jeden Monat tausend Franken auf dein Schweizer und tausend Dollar auf dein spanisches Konto gehen.“
„Wie viel insgesamt?“
„Mehr als eine Million. Dollar.“
Mir klappte der Kiefer runter.
Sie lächelte halb. „Ja, ja, es geht dir besser als den meisten Menschen, die dich fürchten. Wir hatten eine Menge Glück bei der Sache. Und, so bescheuert das klingt, es hat irgendwo sogar Spaß gemacht. Du bist zu so was wie Marks Hobby geworden. Allerdings hat er das Ganze mehr und mehr als eine Art Spiel betrachtet. Als du ihn heute angerufen hast, war er ziemlich geschockt.“
„Tut mir leid.“
„Braucht es nicht. Dadurch, dass Mark so viel Zeit und Energie darauf verwendet hat, und das fast von Anfang an, seit du …“
„ … in der Klapsmühle warst …“
„ … ja, danke. Also, weil er so viel da reingesteckt hat, ist es ganz gut durchdacht. Trotzdem, Sergej – das ist alles mit ziemlich heißer Nadel gestrickt. Mark hätte dich lieber im Osten untergebracht, da kennt er sich ja auch besser aus. Er war gerade dabei, den Plan zu entwickeln. Wir werden einiges improvisieren müssen. John und Shirley werden zum Beispiel nicht ewig auf ihr Haus verzichten wollen. Und das war schon ein absoluter Glücksfall. Nur eben Mallorca. Du solltest den Kopf unten behalten, bei all den Deutschen da. Nicht allzu oft in die Städte, nicht an die großen Strände und so. Ein paar von den Nachbarn kennen die Geschichte vom verfolgten Weißrussen, vielleicht helfen die dir.“
„Kein Ballermann.“
„Nee, besser nicht.“
Sie verabschiedete sich mit einem Kuss und ging zurück in ihr Zimmer. Ich schaffte es gerade noch, die Jeans abzustreifen, den Gürtel mit dem Messer auszuziehen und neben mich zu legen, dann verließen mich alle Kräfte und ich fiel in Schlaf.
Ich träumte. Ich war wieder in der Klinik, sie brannte, aber diesmal waren die Gänge nicht leer, überall rannten Gestalten durcheinander, flohen vor den Flammen, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Ich schritt langsam einen Korridor entlang. Wo immer ich vorbeiging, brachen neue Feuer aus und Menschen sanken zu Boden. Ich fühlte eine gewaltige, verderbende Macht in mir und genoss sie. Ich verließ die Klinik, die hinter mir prasselnd und krachend in sich zusammenfiel, und stand auf einer endlosen Ebene aus toter, verbrannter Erde. In der Ferne sah ich eine brennende Stadt, aus der mir zwei Gestalten entgegenkamen, die zu leuchten schienen. Sie wurden immer größer und reichten bald bis zum Himmel. Ich erkannte, dass auch sie in Flammen standen. Etwa auf der halben Strecke zwischen der Stadt und mir blieben sie stehen, zwei gewaltige Figuren, in Mäntel aus Feuer gehüllt, die sie verzehrten. Ich erkannte sie, obwohl der Brand mehr und mehr an ihnen fraß. Es waren Mark und Sandra. Sie winkten mir und riefen mich bei meinem wirklichen Namen.
Ich wachte schweißgebadet auf und wartete darauf, dass die Erinnerung an den Traum wie üblich verging. Aber sie blieb. Ich stand auf, ging ins Bad, pinkelte und wusch mir den Schweiß aus dem Gesicht. Draußen wurde es schon hell. Ich packte meine Sachen, staffierte mich wieder mit Kopftuch und Sonnenbrille aus und verließ das Hotel.
Sandra pickte mich am späten Vormittag an der Autobahnraststätte auf. Wir fuhren bis nach Amsterdam, zum Flughafen. Ich war so angespannt und vorsichtig, darauf bedacht, die Erwachsenen um mich möglichst unauffällig zu beobachten, dass ich fast über zwei Kinder gestolpert wäre, die mir in den Weg traten. Es waren ein Junge und ein Mädchen, beide etwa fünf Jahre alt und seltsam festlich angezogen, sie trug ein weißes Rüschenkleid und schwarze Lackschuhe, er einen grauen Pullunder über einem weißen Hemd, eine ebenfalls graue Hose und auch schwarze Lackschuhe. Ich starrte sie an. Sie starrten zurück.
„Schön, dich zu sehen“, sagte das Mädchen. Es hatte eine helle Stimme, und seine Freundlichkeit klang wie dünner Lack über einer tiefen Leere. Beide begannen gleichzeitig zu lächeln und entblößten blendend weiße Zähne. Sie kamen mir bekannt vor, aber ich war sicher, sie noch nie gesehen zu haben.
„Ja, ich freue mich auch“, versetzte ich. „Und jetzt trollt euch zu euren Eltern, ja?“ Ich blickte mich um, fürchtend, dass unser Beinahezusammenstoß mehr Aufmerksamkeit erregt hatte, als mir lieb sein konnte. Doch niemand achtete auf uns, es war, als würden die vielen Menschen um uns herum uns gar nicht wahrnehmen. Die Kinder sahen sich an, lachten in enervierend gleichem Tonfall und gingen Hand in Hand von dannen.
Ich hatte, entgegen meinen Befürchtungen, keine Probleme einzuchecken, hauptsächlich, weil Sandra ihre Sache großartig machte. Sie hatte ebenfalls ein Ticket gekauft und würde mit einer Maschine, die kurz nach meiner startete, nach London fliegen. Wir kamen beide fast zu spät zum Check-in, und sie lamentierte und zeterte dermaßen, dass der Grenzpolizist und seine Kollegin vom Flughafenpersonal glücklich waren, mich durchwinken zu können.
Das Flugzeug startete, und ich sah die Welt unter mir kleiner werden. Ich hatte das Fliegen immer gemocht, besonders Fensterplatz. Ich sah hinaus und hatte einen klaren Blick auf die Spielzeugwelt unter mir. Es war alles so klein und filigran. Ich legte die Hand ans Fenster. So winzig. So zerbrechlich.
Als könnte ich es alles mit einem Griff zerquetschen.
9
Die Kinder standen auf der Aussichtsplattform des Flughafens und sahen dem startenden Flugzeug nach.
„Er ist fort“, sagte das Mädchen.
„Ja“, antwortete der Junge.
„Wir müssen es vorbereiten.“
„Ja. Vorbereiten. Und beobachten.“
„Wachsam sein. Tun, was getan werden muss.“
„Diesmal muss es gelingen.“
Sie fassten sich an den Händen und machten sich auf den Weg.
10
Brief Erin Simpsons an Sonja von Tramp, 19.07.
Liebe, liebe, liebe Sonny,
noch mal ganz vielen Dank. Im Moment bin ich irgendwo über dem Atlantik, meine Uhr ist noch auf eurer Zeit, danach ist es jetzt Viertel vor acht.
Ich bin völlig durcheinander, Sonny. Was soll ich denn jetzt machen? Die ganzen letzten Tage habe ich nur gedacht, bloß weg hier, bloß weg aus Europa und so, aber jetzt, da ich wieder näher an zu Hause als an euch bin, weiß ich überhaupt nicht, was ich anfangen soll. Fletch wird mich in Columbus abholen, und was dann? Ich bin eine abgebrochene Studentin in Völkerkunde und Archäologie, spreche fließend Deutsch und Dänisch und kenne mich mit den alten Germanen aus. Ich habe nicht das Gefühl, dass man in Ohio auf so was gewartet hat. In GRIZZLAND, Ohio. Das ist ein Kaff, Sonny. Ich glaube, Fletcher ist nur dageblieben, um meine Eltern zu ärgern, und Jannice wegen Fletch. Ich wollte nie dahin zurück, nie, nie, nie. Ich sehe meinen Vater schon grinsen und höre meine Mutter predigen. FUCK! Lass dir eins sagen, Liebes, geh nie mit dem Lieblingsdoktoranden deines Profs ins Bett. Dieser widerliche kleine Schleimer, wie konnte ich nur? Fletch hat mir von Anfang an gesagt, dass er Dreck ist, und Fletch ist einen Ozean entfernt. Aber wer hört schon auf seinen kleinen Bruder?
So, was nun? Zu Hause müsste ich mit dem Studieren noch mal ganz von vorne anfangen, das kann ich vergessen. Mal sehen, vielleicht kann ich mit den Sprachen was machen. Haegen-Dasz-Eiscreme verkaufen zum Beispiel, ha, ha, ha. Oder ich gebe mich als Sauerkraut-Köchin aus und fange in einem deutschen Restaurant an. (Ich habe in den ganzen Jahren in Deutschland nie eine Einladung zum Sauerkraut bekommen, so achtet ihr auf eure Traditionen, schämt euch!) Na ja, wir werden sehen. Ich muss dir noch mal danke sagen. Du bist eine tolle Freundin. Ich wünsche dir alles Liebe und Gute und verspreche, bald wieder zu schreiben.
Love
Erin
P.S.: Es ist fast Mitternacht und ich liege in meinem Zimmer in Fletchs und Jans Haus. Mitternacht hier, bei dir müsste es schon wieder Morgen sein. Ich habe die Mutter aller Jetlags. Aber ich muss dir unbedingt noch schreiben, wie gut alles gelaufen ist. Sie waren beide in Columbus, sie haben sich beide einen freien Tag genommen. Sie waren wahnsinnig lieb und haben gar keine Fragen gestellt und haben einfach so getan, als würde ich gerade aus dem Urlaub kommen und hätte immer bei ihnen gewohnt.
Und es gibt drei tolle Sachen zu berichten:
1. Fletch hat mir einen Job besorgt. Er hat letzte Woche einen Deutschen erwischt, der zu schnell gefahren ist. DURCH GRIZZLAND!!! Ich dachte, das Ortsschild bremst jedes Auto automatisch ab. Na ja, jedenfalls war der Typ wohl total nett und Fletch hat sich gut mit ihm verstanden (trotz Strafe und allem). Der Deutsche, Dirk heißt er, ist dann in der Stadt geblieben, weil er es eigentlich gar nicht eilig hatte, und abends haben Fletch und er sich zufällig im Supermarkt getroffen, und Fletch hat ihn für den nächsten Abend eingeladen. Und als sie dann so da saßen und redeten, stellte sich heraus, dass Dirk Fotograf ist. In Europa wohl eine ziemlich große Nummer, und er sucht jetzt jemanden, der für ihn die Kontakte mit amerikanischen Agenturen macht und hier ein paar Dinge für ihn managt und so. Fletch hat ihn angerufen, sobald er wusste, dass ich zurückkomme, und ihm von mir erzählt, und Dirk meinte, das wäre gut, wenn ich so gut Deutsch könnte und mit meinen alten Kontakte von Getty, er hätte noch ein paar Kollegen, die ähnliche Probleme hätten wie er. Er will sich jedenfalls übermorgen mit mir treffen, und wenn ich mich nicht ganz blöd anstelle, kriege ich den Job mit Sicherheit, hat Jan gesagt. Hat manchmal seine Vorteile, wenn dein Bruder der Dorfbulle ist.
2. Jan ist schwanger. Ich werde Tante, hurra!!!!!!!!!!!!
3. Fletch hat meinen Eltern gesagt, wenn es ein Junge wird, wollen sie ihn Bart oder Homer nennen. Seitdem sprechen sie nicht mehr mit ihm. Es war eigentlich ein Scherz, wenn es ein Junge wird, soll er Carl heißen (was ich auch nicht besser finde als Bart oder Homer), aber Fletch meint, er sagt ihnen das erst, wenn sie wieder mit ihm sprechen.
Ich werde müde, Liebes. Vergiss mich nicht, ich vergesse dich auch nicht, und wir sehen uns bestimmt wieder.
Alles Liebe
Deine Erin
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Aus Recha Golds Tagebuch
Dienstag, 20. Juli, abends
Endlich komme ich mal wieder dazu, ins Tagebuch zu schreiben. Ich bin am Samstagmorgen in der Redaktion aufgewacht. Freitagabend war Stadtrat, Anhörung wg. neuem Industriegebiet, Anwohnerprotest etc., ging heiß her, und anstatt einfach nach Hause zu fahren, habe ich dumme Kuh gedacht, fahr eben noch in die Redaktion und schreib das auf.
Aufgewacht mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Ergebnis: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und ein Bericht, von dem ich nur die Hälfte verstehe, weil der Rest aus kryptischen Stichworten besteht. Scheiße. Recha, Recha, Recha, das ist es nicht wert. Memo: Ich will nicht, dass auf meinem Grabstein „Gestorben für die LNN“ steht. Ganz sicher nicht.
Den Rest vom Samstag habe ich gepennt. Ach nein, war abends in der Videothek. Gefunden: „Der Mann mit den zwei Gehirnen“. Sehr lustig. Trotzdem ist alleine DVDs gucken ziemlich doof.
Sonntag in der Redaktion den Artikel neu geschrieben. Gegen Mittag kam Schümer, das alte Arschloch, und ich bereute sofort, dass ich den Minirock anhatte. Er hat mich so schnell mit den Augen ausgezogen, dass ich mir am liebsten ein Handtuch umgewickelt hätte. BAH! BAH! BAH! Aber der Artikel ist gut geworden, hat selbst Schümer gefallen. Und er hat mich laaaaaaaaaaange gelobt. Und ich habe laaaaaaaaaaange in seinem Büro gestanden. In dem gaaaaaaaaaaanz kurzen Rock. Brrrrrrrrrrrrrr!!!
Später im Freibad gewesen mit Melanie. Abends noch mal „Der Mann mit den zwei Gehirnen“. Mit Melanie war er sogar doppelt so lustig.
Montag war Trubel in der Redaktion. Ein Irrer ist abgehauen, Samstag schon, oben im Münsterland oder so. Ziemlich hartes Kaliber, hat vor drei Jahren an die 20 Menschen ermordet, bevor sie ihn erwischt haben. Auf ziemlich eklige Art. War ein Photo dabei, sieht eigentlich ziemlich normal aus, total unauffällig, abgesehen von einer komischen Narbe auf der Stirn. Ich glaube nicht, dass ich ihn erkennen würde. Obwohl ich das Gefühl habe, dass ich ihn schon mal irgendwo gesehen habe. Aber das hat man bei diesem Typ Mann häufig. Außerdem war der Fall vor drei Jahren überall in der Presse, da habe ich bestimmt einige Photos gesehen. Wir hatten ihn natürlich in der Montagsausgabe, und jeder paranoide Arsch in Langenrath will ihn gesehen haben. Die meisten am Samstag, ein paar am Sonntag und ein ganz großes Genie schon am Donnerstag. Und wer darf all die treuen Leser und Abonnenten besuchen und sich die schizophrene Kacke anhören?
BINGO!
Als wenn das nicht genug wäre, haben sie mir heute Morgen noch ein Interview aufgebrummt. Montag hat jemand das Gut Neurath gekauft. Nach gottweißwievielen Jahren. Das war WIRKLICH eine Nachricht, die mich interessierte, vor allem, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wer den vermoderten Kasten noch haben will. Also bin ich rausgefahren und habe den Typ interviewt.
Ich habe noch nie einen so seltsamen Menschen getroffen. Ich weiß immer noch nicht, was ich von ihm halten soll. Er heißt Bodo von Reudh. Sagt er. Ich halte den Namen für falsch. Ich halte den ganzen Typen für falsch. Irgendwas stimmt nicht mit ihm, aber ich weiß nicht, was. Er stinkt aus jeder Pore nach Geld und ist von Beruf Sohn. Darauf läuft es hinaus, er murmelte etwas von großer Erbschaft, Traum seines Lebens etc. Will das ganze Gut renovieren und darin wohnen. Er tänzelte mit mir durch diese verkommene Wildnis, die er abwechselnd „Park“ und „Garten“ nannte, wie ein Royal mit der Starreporterin, und er wollte, dass ich denke, dass er sich auch so fühlt. Aber er hat mich die ganze Zeit beobachtet. Und abgeschätzt. Und ich hatte unter all der Freundlichkeit und herablassenden Jovialität das Gefühl, er überlegt, ob ich ein gutes Mittagessen abgebe. Er hat seltsame Augen. Und wenn er lächelt, kriege ich Panikattacken. Ich habe zwischendurch ehrlich überlegt, ob er wohl der irre Killer ist, aber das ist natürlich Quatsch, er sieht ihm nicht im Geringsten ähnlich. Und andererseits ist er dann wieder irrsinnig charmant. Ich habe gemerkt, dass ich ihm glauben will, alles glauben, seinen Namen, seine Erbschaft, dass er mich wirklich mag, all das. Ich wollte einerseits nur noch weg und andererseits die ganze Zeit neben ihm sitzen und ihm zuhören. So was habe ich wirklich noch nie erlebt. Ich war aber letztlich froh, als ich abhauen konnte, er verabschiedete sich mit diesem komischen Grinsen, und ich hätte schreien können.
Zurück in der Redaktion habe ich Gustav Wegner angerufen, den alten Hobbydenunzianten. Ich wollte mir mal ein paar Geschichten über den neuen Nachbarn anhören. Ich war sicher, dass Wegner ihn schon gesehen und begutachtet hatte. Hatte er auch, aber er hatte dermaßen viel Kreide gefressen, dass ich ihn kaum wiedererkannt habe. Wegner, der sonst versucht, jedes Kind anzuzeigen, das über seinen Rasen läuft, und regelmäßig in Leserbriefen gegen die Überfremdung von Langenrath wettert und überhaupt auf alles und jeden schimpft, erzählte mir so begeistert von dem „jungen Herrn von Reudh“ und den „großen Plänen, die er mit Neurath hat“ (von denen hatte der junge Herr mir nichts erzählt, und Wegner konnte mir auch nicht genau sagen, worum es geht), dass der Schleim fast aus dem Hörer tropfte. Ich werde dem jungen Herrn jedenfalls auf die Finger sehen. Bei Wegners Begeisterung und Wortwahl zieht der da womöglich irgendein Neonazi-Camp oder so was auf. Nicht mit mir!
Vorhin habe ich dann noch den letzten Paranoiker besucht, den, der den Irren schon am Donnerstag gesehen hatte. Eigentlich ein netter Kerl namens Andreas Wingfeld, so Anfang dreißig, sehr lieb und höflich, aber total durchgeknallt. Wie sich herausstellte, hatte er ihn nicht in natura gesehen, sondern in einem Traum. In dem Traum hat er Feuer gesehen und schreiende Menschen und Krieg und Blut und natürlich den Irren mittendrin, und die Menschen fielen tot um, wo er ging, und wo ging er? Klar: direkt durch Langenrath. Ich hörte mir den Mist eine Dreiviertelstunde an (kürzer ging nicht, er hatte Kaffee und Kuchen gemacht), verkniff mir, nach Hörnern, Schwänzen und Bocksbeinen zu fragen, und machte dann, dass ich wegkam. Jetzt wird erst mal geschlafen. Ich hoffe, ich kann mal wieder durchschlafen, aber ich befürchte, ich träume von meinen heutigen Begegnungen mit dem Irrsinn. Gute Nacht, Tagebuch.
Das war WIRKLICH eine Nachricht …
Auch Werner Harnischfeger hielt den Namen Bodo von Reudh für falsch. Aber das hatte ihn nicht interessiert, als er dem Mann das Gut verkauft hatte. Und es interessierte ihn immer noch nicht. Das hier, so spürte er, war etwas Größeres. Und er würde ein Teil davon sein.
Das Gut hatte der Stadt gehört – oder besser: Die Stadt hatte sich darum gekümmert. Denn die wirklichen Besitzverhältnisse waren unklar und waren es immer gewesen. Das Gut war da gewesen, egal, wie weit sich die Bewohner der Stadt zurückerinnerten, aber wer war der Besitzer? Es gab keine Unterlagen darüber. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich britische Soldaten dort einquartiert. Danach hatte eine Weile ein Mann dort gewohnt, der sich als „Verwalter“ bezeichnet hatte. Die Älteren erinnerten sich an die hagere, kahlköpfige Gestalt, die ihnen als Kindern Angst eingejagt hatte und beliebter Bösewicht ihrer Detektivspiele gewesen war. Der Verwalter hatte immer klargemacht, dass er nicht der Besitzer des Gutes war, aber vorgegeben, in dessen Namen zu handeln. Und da er das große Anwesen in Ordnung hielt und – abgesehen von der Abneigung, die er in den Kindern weckte – auch keinen Anlass zur Klage gab, ließ man ihn gewähren. Die örtlichen Handwerker, denen er hier und da Aufträge gab, berichteten von einem wortkargen Arbeitgeber, der pünktlich und anstandslos zahlte. Und darauf kam es ja schließlich an.
Dann, zu Beginn der 70er Jahre, war der Verwalter plötzlich verschwunden. Stattdessen war eine Familie in das Gut gezogen, ein Paar mit zwei Kindern im Teenageralter. Die Leute hießen „von Eden“, und man nahm allenthalben an, dass sie die Besitzer des Gutes und geheimnisvollen Chefs des Verwalters waren. Sie verließen das Gut kaum. Manchmal sah man die Teenager über die Felder zwischen Langenrath und Solingen spazieren, die Eltern bekamen die meisten Neurather nie zu Gesicht. Wer sie aber sah, der fühlte ein starkes Unbehagen. Die von Edens, Eltern wie Kinder, sahen aus wie falsch zusammengesetzt, ohne dass jemand hätte sagen können, was da falsch gewachsen war.
Bevor aber die Menschen herausfinden konnten, ob es außer der Hässlichkeit ihrer neuen Nachbarn auch einen handfesten Grund für ihre Verunsicherung gab, waren die von Edens ebenfalls verschwunden. Gehört hatte ihnen das Gut, so stellte sich bald heraus, genauso wenig wie dem Verwalter oder irgendwem sonst. Seither hatte das Anwesen leer gestanden. Werner Harnischfeger war Spross einer alten Langenrather Familie. Ende der 1970er Jahre war er, nach erfolgreichen Lehr- und Wanderjahren in Hamburg und Düsseldorf, zurückgekehrt, hatte ein schmuckes, aber nicht zu auffälliges Haus in Neurath gekauft und sich als Immobilienmakler niedergelassen. Um den wirtschaftlichen Erfolg in der alten Heimat nicht dem Zufall zu überlassen, war er schnell Mitglied der CDU, des Neurather Männergesangsvereins und der örtlichen Jägerschaft geworden. Nun fehlten nur noch Frau und Kinder.
Jahre später war Harnischfeger immer noch alleinstehend und kinderlos, der Rest des Lebensplans aber war aufgegangen. Die Geschäfte liefen gut, vor einigen Jahren hatte er einem Konkurrenten und Parteifreund, der in den Ruhestand ging, die Kundenkartei und alle Kontakte abkaufen können. Das hatte ihn zum wichtigsten Immobilienhändler der Stadt gemacht. Mehrere Angebote, sich aussichtsreich um einen Posten in der Kommunal- oder gar der Landespolitik zu bewerben, hatte er abgelehnt. In seiner Branche war das entweder schlecht fürs Geschäft oder – wenn es gut fürs Geschäft war – mit Gerüchten und Anschuldigungen verbunden. Er hatte herausgefunden, dass er bodenständig war, die Anerkennung der Sängerfreunde und Jagdkameraden war ihm wichtig, dafür verzichtete er gerne auf Ämter und noch mehr Geld. Er hatte sowieso mehr, als er ausgeben konnte. So galt Werner Harnischfeger als ehrlicher und heimatverbundener Geschäftsmann. Und es war kein Wunder, dass ein paar Parteifreunde, die in der Stadt Strippen zogen, eines Tages zu ihm kamen und ihn mit dem Problem des Gutes Neurath vertraut machten. Sein Auftrag war, den Kasten bestenfalls zugunsten der Stadt zu verkaufen, andernfalls so weit wie nötig zu verwalten und ansonsten Stillschweigen über die undurchschaubaren Besitzverhältnisse zu wahren. Offizielle Haltung war, dass die Briten das Gut seinerzeit in Besitz genommen und danach der Stadt übereignet hatten. Wer sollte etwas anderes beweisen? So waren die Jahre verstrichen. Kurz vor der Jahrtausendwende hatte Harnischfeger sein Maklerbüro verkauft, an einen Verwandten des Mannes, von dem er selbst es einst erworben hatte. Nur einige ganz wenige Spezialaufgaben und besondere Kunden hatte er stillschweigend behalten, darunter die Sorge für das Gut, mehr seinem alten Versprechen und der Diskretion verpflichtet als irgendeiner Hoffnung, es je loszuwerden.