- -
- 100%
- +
„Ich heiße Drage“, sagte er, „Norman Drage, und bin amerikanischer Bürger, was vieles erklärt. Jedenfalls vermute ich, dass ihr Freund Wain ihnen so manches mitteilen möchte – also gedulden wir uns noch etwas.“
Pater Brown wurde in benommenem Zustand zum Auto geschleppt, das in einiger Entfernung wartete. Ein junger Mensch mit Büscheln von zerzaustem blondem Haar und etwas gequältem und abgespanntem Gesichtsausdruck rief ihn von weitem an und stellte sich als Peter Wain vor. Bevor Pater Brown zur Besinnung kam, saß er schon fest im Wagen und fuhr mit beträchtlicher Geschwindigkeit durch die Stadt und darüber hinaus. Er war das heftige amerikanische Zugreifen nicht gewohnt und fühlte sich so verwirrt, als hätte ihn ein mit Drachen bespannter Wagen ins Märchenland entführt. Unter so beunruhigenden Umständen hörte er zum ersten Male in langen Monologen von Wain und in kurzen Sätzen von Drage die Geschichte des Koptenpokals und der beiden Verbrechen, die damit zusammenhingen.
Wain hatte, wie es schien, einen Onkel namens Crake und dieser einen Kompagnon namens Merton. Dieser Merton war der dritte Besitzer des Pokals, wie die ersten beiden ein reicher Geschäftsmann. Der erste, der bekannte Kupferkönig Titus P. Trant, hatte von einem Unbekannten, der sich Daniel Boon nannte, Drohbriefe erhalten. Der Name war vermutlich ein Pseudonym, vertrat aber nun bereits eine sehr bekannte, wenn nicht volkstümliche Figur. Denn soviel stand bald fest: der Schreiber der Drohbriefe beschränkte sich nicht auf Drohungen. Jedenfalls wurde der alte Trant eines Morgens tot aufgefunden. Sein Kopf lag in seinem eigenen Zierteich, und vom Täter fehlte jede Spur. Glücklicherweise wurde der Pokal auf der Bank aufbewahrt. Er ging mit dem übrigen Vermögen an Trants Vetter Brian Horder über, der ebenfalls schwer reich war und von dem namenlosen Feinde bedroht wurde. Man fand ihn tot am Fuße eines Felsens in der Nähe seiner Strandvilla, in der ein Einbruch – diesmal großen Stils – stattgefunden hatte. Denn obwohl der Pokal wieder heil davonkam, wurden so viele Aktien und Pfandbriefe gestohlen, dass Horders Angelegenheiten in die größte Verwirrung gerieten.
„Brian Horders Witwe mußte alle Wertgegenstände verkaufen, glaube ich“, erklärte Wain, „und wahrscheinlich hat Brander Merton damals den Pokal erworben, denn als ich ihn kennenlernte, war er bereits glücklicher Besitzer. Aber Sie werden sich selbst sagen, dass es nicht gerade bequem ist, ihn zu haben.“
„Hat Herr Merton auch Drohbriefe bekommen?“ fragte Pater Brown nach einer Pause. „Ich glaube schon“, sagte Herr Drage, und ein Etwas in seiner Stimme ließ den Priester neugierig aufblicken, bis er bemerkte, dass der Bebrillte leise lachte, und zwar auf eine so sonderbare Weise, dass es dem Neuangekommenen kalt über den Rücken lief.
„Ich bin ziemlich davon überzeugt“, sagte Wain mit Stirnrunzeln. „Ich habe die Briefe nicht gesehen. Er zeigt seine Briefe überhaupt nur seinem Sekretär, denn er ist in solchen Dingen sehr verschlossen, ganz begreiflich bei einem so großen Geschäftsmann. Aber ich war dabei, wie er sich über Briefe wirklich aufregte und bedrückt fühlte; und gerade diese Briefe zerriß er, bevor sein Sekretär sie zu Gesicht bekam. Jetzt ist sogar der Sekretär schon nervös geworden, er behauptet, dass irgend jemand dem Alten auflauert. Kurz und gut, wir wären Ihnen für ihren Rat sehr dankbar. Man kennt ihren Ruf, Pater Brown, und deshalb hat mich der Sekretär gebeten, Sie gleich in Mertons Haus hinüberzubitten.“
„Jetzt verstehe ich“, sagte Pater Brown, dem endlich der Zweck der Entführung aufging. „Aber ich sehe wirklich nicht ein, was ich noch dabei soll. Sie sind doch an Ort und Stelle und müssen über hundertmal mehr Einzelheiten verfügen, aus denen Sie Schlüsse ziehen können, als ein zufälliger Besuch.“
„Jawohl“, sagte Drage trocken, „unsere Schlüsse sind viel zu logisch, um wahr zu sein. Wenn Sie mich fragen: was Titus P. Trant getroffen hat, kam geradeswegs von oben, ohne auf eine logische Erklärung zu warten. Es war das, was man einen Blitz aus heiterem Himmel nennt.“
„Sie wollen doch nicht behaupten“, rief Wain, „dass es übernatürlich war?“
Aber es war zu dieser Zeit gar nicht so einfach zu verstehen, was Herr Drage eigentlich meinte. Wenn er von jemand sagte, er sei sehr klug, so meinte er damit vermutlich, er sei ein Esel. Herr Drage bewahrte eine geradezu orientalische Ruhe, bis nach einer Weile der Wagen hielt. Sie waren jedenfalls am Ziel. Der Ort war merkwürdig genug. Die letzte Strecke hatte sie durch dünn bewaldetes Gebiet geführt, das in eine weite Ebene überging; gerade vor ihnen befand sich ein Gebäude, das aus einer einzigen Mauer bestand, so rund war wie ein Römerlager und ein wenig einer Flughalle glich. Die Umfriedung sah weder wie Holz noch wie Stein aus; bei näherer Betrachtung ergab sich, dass sie aus Eisen bestand.
Sie stiegen alle aus. In der Wand öffnete sich mit großer Vorsicht eine kleine Schiebetür, nachdem man daran manipuliert hatte wie an einem Geldschrank. Sehr zu Browns Erstaunen machte der Herr, der sich Drage nannte, nicht Miene einzutreten, sondern verabschiedete sich mit unheilvoller Lustigkeit. „Ich komme lieber nicht mit“, sagte er. „So viel freudige Aufregung darf man dem Alten nicht zumuten. Er liebt mich so heiß, er könnte vor Freude sterben, wenn er mich sieht.“
Er marschierte ab, und Pater Brown, dessen Verwunderung wuchs, wurde durch die Stahltür eingelassen, die hinter ihm sofort einschnappte. Drin sah man einen großen, kompliziert angelegten Garten in vielen und heiteren Farben, aber ohne Baum, Gebüsch oder Strauch. Mitten drin erhob sich ein schöner, ja imposanter Bau, der jedoch so hoch und schmal war, dass er aussah wie ein Turm. Auf dem Dache funkelte das Sonnenlicht hier und da auf Glasfenstern, aber im unteren Teile schienen sich überhaupt keine Fenster zu befinden. Überall herrschte die fleckenlose, blitzende Sauberkeit, die so gut zu der klaren amerikanischen Luft paßte. Innerhalb des Portals fanden sie sich von prächtigem Marmor, Metallen und Emaille in strahlenden Farben umgeben – aber die Treppe fehlte. In der Mitte zwischen den kompakten Mauern stieg nur der Schacht für den Aufzug in die Höhe, und der Zugang wurde durch stark gebaute, große Leute bewacht, die aussahen wie Polizisten in Zivil.
***
„Die Schutzmaßnahmen sind etwas kompliziert, ja“, sagte Wain. „Vielleicht finden Sie es komisch, Pater, dass Merton hier wie in einer Festung leben muß und nicht einmal einen Baum im Garten hat, hinter dem sich jemand verstecken könnte. Aber Sie wissen nicht, womit man es hier zu Lande zu tun hat. Und vielleicht wissen Sie auch nicht, was Brander Mertons Namen bedeutet. Er sieht ganz bescheiden aus, und auf der Straße würde sich kein Mensch nach ihm umsehen. Ganz abgesehen davon, dass er nur dann und wann im geschlossenen Auto ausfährt. Aber wenn ihm etwas zustieße, würde die Erde von Alaska bis zu den Südseeinseln erzittern. Ich glaube, dass vor ihm weder König noch Kaiser eine solche Macht besessen haben. Schließlich hätten Sie wohl aus Neugierde eine Einladung zum Zaren oder zum König von England angenommen. Vielleicht machen Sie sich nichts aus Zaren oder Millionären – aber Macht in irgendeiner Form ist immer interessant. Hoffentlich widerstreitet es nicht ihren Prinzipien, einen modernen Kaiser wie Merton zu besuchen.“
„Gewiß nicht“, sagte Pater Brown ruhig. „Es ist meine Pflicht, die Häftlinge und alle Unglücklichen in der Gefangenschaft aufzusuchen.“
Ein Schweigen entstand, und der junge Mensch runzelte mit einem sonderbaren, etwas schiefen Blick die Stirn. Dann sagte er unvermittelt:
„Na, schließlich dürfen Sie nicht vergessen, dass er es nicht mit gewöhnlichen Verbrechern oder der Schwarzen Hand zu tun hat. Dieser Daniel Boon ist ein Teufel. Trant hat er in seinem eigenen Garten und Horder vor seinem Hause umgebracht, und es ist ihm nichts passiert.“
Das oberste Stockwerk des Gebäudes bestand zwischen den ungeheuer dicken Mauern aus zwei Zimmern: einem äußeren, in das sie eintraten, und dem inneren, dem Allerheiligsten des Millionärs. Im äußeren Zimmer trafen sie zwei Gäste, die gerade das innere verließen. Den einen rief Peter Wain an – es war sein Onkel; ein kleiner, aber gedrungener und lebendiger Mann mit rasiertem Schädel, der kahl wirkte, und einem Gesicht, das so braun aussah, als sei es niemals weiß gewesen. Es war der alte Crake. Sein Begleiter stand im größten Gegensatz zu ihm – es war ein eleganter Herr mit dunklem Haar wie schwarzer Lack und einem breiten schwarzen Band am Monokel – Barnard Blake, der Anwalt des alten Merton, der mit den beiden Kompagnons geschäftliche Angelegenheiten der Firma besprochen hatte. Die vier Personen trafen in der Mitte des Zimmers zusammen und hielten sich im Gehen und Kommen einen Augenblick auf, um ein paar Höflichkeiten zu tauschen. Und während dieses Hin und Her saß im Hintergrund des Zimmers, neben der Türe zum zweiten, eine Gestalt, schwer und unbeweglich im Halblicht des Fensters – ein Mann mit einem Negergesicht und ungeheuren Schultern. Er war das, was man in Amerika mit schmerzhafter Selbstkritik den Bösewicht nennt – ein Wächter, wie ihn die Freunde, ein Halsabschneider, wie ihn die Feinde nannten!
Der Mensch bewegte und rührte sich nicht, um irgend jemand zu begrüßen. Sein Anblick bewog Peter Wain, seine erste, unruhige Frage zu stellen.
„Ist jemand drin?“ fragte er.
„Nur keine Aufregung, Peter“, kicherte sein Onkel. „Sein Sekretär Wilton ist drin bei ihm – das dürfte genügen. Ich glaube. Wilton gönnt sich überhaupt keinen Schlaf mehr, so sehr bewacht er Merton. Er taugt mehr als zwanzig Wächter. Und er ist so schnell und lautlos wie ein Indianer.“
„Na, das mußt du freilich am besten wissen“, lachte der Neffe. „Ich erinnere mich noch an deine Erzählungen aus den Grenzkriegen gegen die Indianer und die Indianerschliche, die du mich gelehrt hast, wie ich noch ein Junge war. Aber in meinen Indianerbüchern haben die Indianer merkwürdigerweise immer schlecht abgeschnitten.“
„Aber nicht in Wirklichkeit“, erwiderte der alte Soldat ernst.
„Wirklich nicht?“ fragte der höfliche Blake. „Ich habe immer gemeint, dass sie gegen unsere Feuerwaffen wenig ausrichten konnten.“
„Ich habe einmal einen Indianer gesehen, der unter dem Feuer von hundert Gewehren stand und nichts hatte als ein kleines Skalpmesser. Trotzdem tötete er einen Weißen, der an meiner Seite auf der Spitze eines Forts stand.“
„Ja, wie denn“, fragte der andre.
„Er warf es,“ erwiderte Crake – „warf es wie der Blitz, bevor man einen Schuß abgeben konnte. Ich weiß nicht, woher er den Trick hatte.“
„Nun, hoffentlich hast du ihn nicht von ihm gelernt“, sagte der Neffe lachend.
„Mir scheint, die Geschichte ist nicht ohne Moral“, sagte Pater Brown nachdenklich. Während sie sprachen, kam der Sekretär Wilton aus dem inneren Zimmer und wartete; es war ein blasser, blondhaariger Mensch mit viereckigem Kinn und ruhigen Augen, die an einen Hund erinnerten; man konnte sich einbilden, dem geraden Blick eines Hofhundes zu begegnen.
Er sagte nur: „Herr Merton wird Sie in etwa zehn Minuten empfangen“, aber das genügte, um die plaudernde Gruppe an den Aufbruch zu mahnen. Der alte Crake hatte Eile, und sein Neffe begleitete ihn und den Anwalt, so dass Pater Brown einen Augenblick mit dem Sekretär allein blieb. Denn der Negerriese am anderen Ende des Zimmers wirkte kaum als lebender Mensch, er saß unbeweglich da und kehrte ihnen den Rücken.
„Die ganze Einrichtung macht wohl einen komplizierten Eindruck“, bemerkte der Sekretär. „Sie haben vermutlich die Geschichte des Daniel Boon gehört und wissen, warum wir den Chef nie lange allein lassen dürfen.“
„Aber ist er jetzt nicht allein?“ fragte Pater Brown.
Der Sekretär sah ihn mit seinen ernsten grauen Augen an.
„Fünfzehn Minuten lang“, sagte er. „Eine Viertelstunde von den vierundzwanzig. Länger bleibt er nicht allein; und darauf besteht er, aus einem merkwürdigen Grunde.“
„Und was für ein Grund ist das?“ fragte der Gast.
„Der Koptenpokal“, sagte der Sekretär. Er hörte nicht auf, dem Pater ins Auge zu sehen, aber sein Mund, der eben noch ernst gewesen war, wurde bitter. „Vielleicht haben Sie den Koptenpokal vergessen – aber er vergißt ihn nie, weder ihn noch sonst etwas. Er vertraut ihn keinem von uns an. Irgendwo und irgendwie ist er in dem Zimmer dort eingeschlossen, so dass nur er ihn finden kann. Er nimmt ihn nur heraus, wenn wir alle draußen sind. Wir müssen also diese Viertelstunde riskieren, während er dasitzt und ihn anbetet; vermutlich die einzige Anbetung, zu der er sich aufschwingt. Aber eigentlich ist die Gefahr nicht groß. Ich habe dieses Haus zu einer Falle gemacht, und selbst dem Teufel würde es schwer fallen, hinein oder jedenfalls herauszukommen. Wenn dieser verdammte Daniel uns einen Besuch abstattet, wird er ziemlich lange hierbleiben, das schwöre ich Ihnen! Ich sitze hier während der fünfzehn Minuten wie auf Nadeln, und sowie ich einen Schuß oder ein anderes verdächtiges Geräusch höre, drücke ich auf diesen Knopf, und ein elektrischer Strom lädt die Gartenmauer, so dass jeder, der hinausgehen oder sie überklettern will, sofort den Tod findet. Übrigens kann es keinen Schuß geben, denn dies ist der einzige Eingang, und das Fenster, an dem er sitzt, ist oben auf einem Turm, der so glatt ist, als wäre er geölt. Und außerdem sind wir hier natürlich alle bewaffnet. Wenn Daniel wirklich in das Zimmer käme, würde er es lebendig nicht verlassen.“
Pater Brown blinzelte nachdenklich; er blickte auf den Teppich. Dann sagte er plötzlich mit einem Ruck:
„Sie nehmen es mir doch nicht übel? Mir ist eben etwas eingefallen. Es betrifft Sie.“
„In der Tat“, erwiderte Wilton. „Was meinen Sie?“
„Sie haben nur eine einzige Idee im Kopf,“ sagte Pater Brown, „und Sie müssen mir verzeihen, wenn ich sage, dass es mehr die Idee ist, Daniel Boon zu fangen als Brander Merton zu schützen.“
Wilton fuhr zusammen und starrte seinen Gast an; langsam formte sich auf seinen Lippen ein sonderbares Lächeln.
„Wieso haben Sie – wie kommen Sie darauf?“ fragte er.
„Sie sagten eben, wenn Sie einen Schuß hörten, könnten Sie den Feind auf der Flucht durch den elektrischen Strom töten. Sie haben sich doch vermutlich klargemacht, dass der Schuß für ihren Chef tödlich werden könnte, bevor der Strom für seinen Feind tödlich würde? Ich meine damit nicht, dass Sie Herrn Merton nicht schützen werden, wenn es in ihrer Macht steht, sondern dass es Ihnen erst in zweiter Linie wichtig ist. Die Vorbereitungen sind etwas kompliziert, wie Sie selbst sagen und gehen wohl auf Sie zurück. Aber Sie scheinen auch eher dazu angetan zu sein, einen Mörder zu fangen, als einen Menschen zu retten.“
„Hochwürden“, sagte der Sekretär, dessen Stimme sich beruhigt hatte, „Sie sind verdammt klug – aber sonderbarerweise sind Sie noch etwas mehr. Irgendwie gehören Sie zu den Leuten, denen man die Wahrheit sagen möchte – und außerdem wird man es ihnen ohnedies erzählen, denn man neckt mich ja bereits damit. Man sagt allgemein, dass ich eine fixe Idee habe – nämlich den Verbrecher zur Strecke zu bringen – und vielleicht stimmt das auch. Aber ich werde ihnen jetzt etwas sagen, was sonst niemand weiß: ich heiße in Wirklichkeit John Wilton Horder.“ Pater Brown nickte, als sei ihm nun alles klar, doch der andere fuhr fort:
„Dieser Mensch, der sich Daniel Boon nennt, hat meinen Vater und meinen Onkel getötet und meine Mutter zugrunde gerichtet. Als Merton einen Sekretär suchte, nahm ich den Posten an. Ich dachte, wo der Koptenpokal sei, würde sich auch der Verbrecher früher oder später einfinden. Aber ich wußte nicht, wer es war, und konnte also nur auf ihn warten. Ich hatte die feste Absicht, Merton treu zu dienen.“
„Ich verstehe“, sagte Pater Brown sanft, „aber ist es nicht eigentlich an der Zeit, dass wir hineingehen?“
„Ja gewiß“, erwiderte Wilton; er war wieder zusammengefahren, und der Priester schloß daraus, dass er sich einen Augenblick wieder seinen Rachegelüsten überlassen hatte. „Gewiß – gehen Sie nur hinein.“
Pater Brown ging geradeswegs in das innere Zimmer. Was folgte, waren keine Begrüßungen, sondern nur ein totes Schweigen. Einen Augenblick später erschien der Priester wieder in der Türe.
Im selben Augenblick bewegte sich der stumme Wächter, der an der Tür saß – es sah aus, als sei ein Riesenmöbel lebendig geworden. Etwas in der Haltung des Priesters hatte wie ein Signal gewirkt. Sein Kopf hob sich vom Licht des Fensters ab, aber sein Gesicht blieb im Schatten.
„Jetzt werden Sie wohl auf den Knopf drücken müssen“, sagte er mit einem Seufzer.
Wilton schien mit einem Ruck aus seinen wilden Grübeleien zu erwachen und sprang auf. Seine Stimme überschlug sich.
„Es war kein Schuß!“ rief er aus.
„Ja“, sagte Pater Brown, „es kommt darauf an, was Sie unter einem Schuß verstehen.“
Wilton sprang vor, und zusammen stürzten sie in das innere Zimmer. Es war verhältnismäßig klein und einfach, aber höchst luxuriös ausgestattet. Ihnen gegenüber stand ein großes Fenster weit offen – die Aussicht ging auf den Garten und die bewaldete Ebene. Nahe beim Fenster standen ein Sessel und ein Tischchen, als hätte der Gefangene während des kurzen Glücks seiner Einsamkeit gar nicht genug Licht und Luft bekommen können.
Auf dem Tischchen am Fenster stand der Koptenpokal. Der Besitzer hatte ihn jedenfalls beim günstigsten Licht betrachtet. Und es war auch der Mühe wert. Das weiße, blendende Tageslicht verwandelte die kostbaren Steine in vielfarbige Flammen, so dass er wie ein Urbild des Heiligen Gral aussah. Es war der Mühe wert, ihn zu betrachten. Aber Brander Merton betrachtete ihn nicht. Sein Kopf hing über die Lehne des Sessels, seine weiße Mähne berührte fast den Boden, und sein grauer Spitzbart wies zur Decke – in seinem Hals aber steckte ein langer, braunangestrichener Pfeil mit roten Federn.
„Ein lautloser Schuß“, sagte Pater Brown leise. „Ich hatte gerade an die neuen Erfindungen gedacht, die geräuschlosen Feuerwaffen. Dies ist freilich eine alte Erfindung – aber genau so geräuschlos.“
Einen Augenblick später fragte er: „Er ist tot, fürchte ich. Was werden Sie tun?“
Der blasse Sekretär riß sich mit einem plötzlichen Entschluß zusammen. „Ich werde natürlich auf den Knopf drücken“, sagte er, „und wenn das noch nicht genügt, um Daniel kaltzumachen, werde ich ihn in den Wäldern jagen, bis ich ihn finde.“
„Geben Sie bloß acht, dass Sie keinen unsrer Freunde kaltmachen. Sie müssen in der Nähe sein, eigentlich sollte man sie rufen.“
„Die wissen ja alle Bescheid mit der Mauer“, erwiderte Wilton. „Und sie werden auch nicht versuchen, 'rüberzuklettern – außer, wenn einer von ihnen es sehr eilig hat.“
Pater Brown ging zum Fenster, durch das der Pfeil anscheinend hereingeflogen war, und sah hinaus. Tief unten lag der Garten mit seinen ebenen Blumenbeeten wie eine zart getönte Landkarte der Erde. Die ganze Aussicht sah so weit und leer aus, der Turm schien so hoch in den Himmel zu ragen, dass ihm ein seltsamer Ausdruck in den Sinn kam.
„Ein Blitz aus heiterem Himmel“, sagte er. „Hat nicht jemand vor kurzem von einem Blitz aus heiterm Himmel gesprochen, vom Tod, der aus den Lüften kommt? Sehen Sie bloß, alles sieht so weit entfernt aus – wie unwahrscheinlich, dass ein Pfeil so weit her kommen sollte! Außer freilich ein Pfeil vom Himmel.“
Wilton war zurückgekehrt, antwortete aber nicht. Der Priester fuhr fort:
„Man denkt dabei an Luftschiffahrt. Ich muß mal den jungen Wain fragen ... nach Luftschiffahrt.“
„Der junge Wain war es sicher nicht!“ rief der Sekretär mit fast wütender Gebärde.
„Vielleicht ist er auch zu jung, um der Verbrecher zu sein“, bemerkte Pater Brown. „Man wird natürlich auch auf den alten Onkel verfallen – wir müssen ihn über Pfeile ausholen. Dieser hier sieht wie ein Indianerpfeil aus. Ich weiß nicht, wer den Indianerschuß abgegeben hat. Aber erinnern Sie sich an die Geschichte, die der Alte erzählte. Ich bemerkte, dass sie eine Moral hat.“
„Wenn sie eine Moral hat“, erwiderte der junge Mann mit Wärme, „so doch höchstens, dass ein Indianer weiter schießen kann als man annimmt. Wenn Sie den Alten verdächtigen, ist das purer Unsinn.“
„Ich glaube, Sie verstehen die Moral nicht ganz“, sagte Pater Brown.
***
Es dauerte einen Monat, bevor Pater Brown das Haus, in dem der dritte Millionär die Vendetta Daniels erlitten hatte, zum zweiten Male besuchte. Die am meisten Beteiligten hielten eine Art Kriegsrat ab. Am obern Ende des Tisches saß der alte Crake, seinem Neffen zur Rechten und dem Anwalt zur Linken; der Riese mit dem Negergesicht, der Harris hieß, war in voller Größe zugegen, wenn auch nur als Zeuge; ein rothaariges, spitznäsiges Individuum namens Dixon schien als Vertreter einer Detektei anwesend, und Pater Brown setzte sich bescheiden auf einen freien Stuhl neben ihm.
Alle Zeitungen der Welt waren voll von der Katastrophe, die diesen Finanzkoloß, diesen großen Organisator der weltbeherrschenden Großindustrie betroffen hatte. Aber von den Wenigen, die ihm im Augenblick des Todes am nächsten gewesen waren, konnte man nicht viel erfahren. Onkel, Neffe und Anwalt erklärten, dass sie längst außerhalb der Mauer standen, als Alarm geschlagen wurde. Die Wächter an den beiden Schranken gaben etwas verwirrte, aber doch im Ganzen zufriedenstellende Antworten. Nur eine einzige Komplikation mußte besonders überlegt werden. Ungefähr zur Zeit seines Todes hatte sich ein Fremder auf geheimnisvolle Weise am Eingang zu schaffen gemacht und Herrn Merton sprechen wollen. Die Dienstboten konnten ihn nur mit Mühe verstehen, denn er sprach sehr unklar. Aber gerade das fiel später als belastend auf, denn er hatte gesagt, dass ein Bösewicht durch ein einziges Wort aus dem Himmel vernichtet werden könne.
Peter Wain beugte sich vor. Die Augen in dem magern Gesicht glänzten. Er sagte: „Ich möchte darauf wetten – das war Norman Drage.“
„Und wer in aller Welt ist Norman Drage?“ fragte sein Onkel.
„Ja, das möchte ich gerne wissen“, erwiderte der junge Mann. „Ich habe ihn fast direkt gefragt, aber er versteht es wunderbar, jede gerade Frage zu verdrehen. Es ist, als hiebe man nach einem Fechter. Er versuchte, mich mit einem Hinweis auf das Luftschiff der Zukunft zu verwirren. Im Grunde habe ich ihm nie getraut.“
„Aber was für ein Mensch ist er denn?“ fragte Crake.
„Ein Mystagog“, sagte Pater Brown mit der Schlagfertigkeit eines Kindes. „Davon gibt es viele; zum Beispiel all die Leute, die in den Pariser Cafés und Kabaretts herumsitzen und Ihnen einreden wollen, dass sie den Schleier der Isis gelüftet haben. Auch in diesem Falle würden sie sicher eine mystische Erklärung zur Hand haben.“
Der glatte dunkle Kopf des Anwalts neigte sich höflich gegen den Sprecher, aber sein Ton klang etwas feindlich.
„Ich bin überrascht“, sagte er, „dass Sie ein Vorurteil gegen mystische Erklärungen haben.“
„Ganz im Gegenteil“, sagte Pater Brown und blinzelte ihn freundlich an. „Und gerade deshalb kann ich manchmal über sie urteilen. Mich könnte jeder falsche Jurist herumkriegen; Sie aber nicht, weil Sie selbst ein Jurist sind. Wenn sich irgendein Narr als Indianer verkleidet, kann er mir einreden, dass er Old Shatterhand selber ist; aber Herr Crake hier würde ihn sofort durchschauen. Ein Schwindler könnte mir vormachen, dass er mit Aeroplanen ausgezeichnet Bescheid weiß, aber Wain würde ihm nicht darauf hereinfallen. Und genau so steht es mit dem andern, nicht wahr? Gerade weil ich etwas von Mystik verstehe, will ich mit Mystagogen nichts zu tun haben. Wahre Mystiker verbergen keine Geheimnisse, sondern enthüllen sie. Die Mystagogen dagegen verstecken etwas hinter Dunkelheit und Geheimnissen, und wenn man es findet, ist es ein Gemeinplatz. Was aber Drage betrifft, so will ich zugeben, dass er noch einen anderen Grund hatte, und zwar einen viel praktischeren Grund, uns Märchen über Feuer aus den Wolken und Blitze aus heiterem Himmel zu erzählen.“
„Nämlich?“ fragte Wain. „Der Grund scheint mir sehr wichtig, wie er auch lauten mag.“
„Ja“, erwiderte der Priester langsam, „er wollte, dass wir die Mordtaten für Wunder halten, weil er – ja, weil er selbst wußte, dass es keine Wunder sind.“
„Aha“, sagte Wain mit einem Zischen, „darauf war ich gefaßt. Geradeheraus gesagt, er ist der Verbrecher.“
„Geradeheraus gesagt, er ist der Verbrecher, der das Verbrechen nicht beging“, sagte Pater Brown ruhig.