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David hielt kurz inne. Sein Blick ging zuerst runter, doch dann wendete er sich wieder der Kamera zu. Ein Blick, den Norman zu deuten wusste. Der Blick eines Mannes, der mit allem fertig war.
»Also …«
David zog eine Pistole und schoss sich in den Mund.
Norman schloss die Augen und hielt seine Hand an die Stirn. Jetzt verstand er, warum hier so viele Skelette herumlagen. Der Wald musste voller Leichen sein, begraben unter Matsch und Pflanzen. Er blieb einige Minuten neben dem Skelett seines Sohnes sitzen. Was blieb ihm auch anderes übrig? Immer wieder spielte er Davids Worte in seinem Kopf ab. Norman konnte auf diesem Planeten nicht überleben, niemand könnte es. Doch was liegt da oben? Was liegt da oben jenseits des weißen Himmels? Sie alle waren gestorben, aber Norman würde hier nicht den Tod finden. Er würde eher beim Versuch, durch das Schwarze Loch zu entkommen, sterben, als sich selbst das Leben zu nehmen. Er stand auf, setzte sich nach vorne und startete das Shuttle. Obwohl das Raumschiff neu für ihn war, so verfügte es doch über denselben Steuerungsmechanismus, der beim Bau seines Shuttles verwendet wurde. Überraschenderweise hob das Raumschiff seines Sohnes ab.
Norman sah noch ein letztes Mal hinab und erblickte den Mann im schwarzen Mantel, der ihn direkt anstarrte. Er bewegte sich nicht, schien noch nicht einmal zu atmen. Er schaute nur. Norman hatte keine Ahnung, wer er war, aber falls dieses Ding wirklich Gott war, wollte er ihn für immer hinter sich lassen.
Als er weit genug oben war, konnte er das grüne Meer aus Bäumen sehen, das den Großteil des Planeten zu bedecken schien. Norman machte sich bereit für die Heimreise. Das Shuttle stieg weiter. Er flog durch den Regen und die Atmosphäre zurück ins All. Er war erleichtert, die Sterne und die Finsternis der Galaxis wiederzusehen. Hinter ihm lag der Planet, der ihm so viel Schmerz bereitet hatte. Es sah aus wie ein Planet, aber es hätte genauso gut die Hölle sein können. Er checkte die Koordinaten und brauchte nur ein paar Stunden, um das Tor zu seiner Vergangenheit zu erreichen. Er hatte noch nie einen Planeten gesehen, der so nah an einem Schwarzen Loch lag. Er konnte nicht erklären, was er da unten gesehen hatte. Was am Strand passiert war. Nichts davon sollte existieren, nichts davon war wissenschaftlich zu erklären. Doch er konnte sich nicht ablenken lassen, er musste zurückkehren.
Norman sah die vor sich liegende Finsternis und war bereit, erneut in sie einzutauchen. Egal, wer diesmal im Cockpit erschien, er würde sich nicht ablenken lassen. Er würde zur Erde zurückkehren und seinen Sohn retten. Er kam näher an das Phänomen heran, und wieder hörte das Raumschiff auf zu funktionieren, während die Gravitation ihn in die unendliche Finsternis hineinzog. Norman machte es sich auf dem Sitz bequem und schloss die Augen. Es war vollkommen ruhig und das Einzige, was er hörte, war sein eigener Herzschlag.
Nach ein paar weiteren Sekunden, Minuten oder Stunden, Norman konnte es nicht sagen, begann das Shuttle zu vibrieren. Das Schiff flog hoch. Norman wurde in seinen Sitz gedrückt. So viele unbeantwortete Fragen kreisten in seinem Kopf herum. Warum war sein Sohn im Shuttle? Warum hatte er sich nicht selbst getroffen, wenn da so viele Shuttles auf dem Meeresgrund lagen?
So sehr er es auch versuchte, er würde nie eine Erklärung für all das, was passiert war, finden. Er schloss seine Augen und verstand, dass er keinen Einfluss hatte auf das, was in den nächsten Minuten geschehen würde. Entweder würde er überleben oder hier sterben. Manchmal war es so einfach.
Norman erwachte und bemerkte neben einem schrillen Geräusch ein rotes Licht über seinem Kopf. Er schaute nach vorn und sah den Mond. Den Erdenmond. Er war überglücklich, etwas Bekanntes zu sehen, aber ihm war klar, dass er schnell handeln musste. Er betätigte die Notbremse und versuchte, das Shuttle zu verlangsamen. Aber es war zu spät, er war schon zu nah an der Mondoberfläche. Das Schiff krachte auf den Boden und prallte leicht ab, knallte erneut auf den Boden und prallte wieder ab. Schnell betätigte Norman die Gravitationsanlage des Schiffes. Er klappte das Fahrwerk aus und das Shuttle setzte schließlich auf der Oberfläche auf. Er atmete tief durch und lächelte verhalten. Er war zu Hause.
Er kontrollierte den Treibstoff im Shuttle. Es war nichts mehr übrig. Er konnte weder die Raumstation noch die Erde erreichen. Nun saß er zunächst einmal auf dem Mond fest. Norman schaute nach vorn, konnte allerdings nur einen hohen Berg ausmachen, der ihm die Sicht nahm. Er setzte einen Notruf ab, zog den Raumanzug und den Helm an. Sobald er drinsteckte, konnte er auf dem kleinen Bildschirm, der sich in dem Helm befand, seinen Pulsschlag sehen und wie viel Luft ihm noch blieb. Er war froh darüber, wie weit die Technologie nach ihrer Abreise vorangeschritten war und dank ihm würde sie sogar noch weiter fortschreiten. Er hatte es getan, er war durch das Schwarze Loch zurückgekehrt und konnte die Vergangenheit ändern, um die Zukunft Tausender Menschen zu retten. Er musste alle vor den Schrecken warnen, die ihnen auf dem Kepler-Planeten begegnen würden.
Er öffnete die Tür und sprang hinaus. Der Anzug passte sich der Umgebung an und schützte ihn vor der kalten Atmosphäre des Alls. Er sah sich um, auf der Suche nach der Erde, aber er konnte den Planeten nicht finden. Die Erde musste hinter dem Berg liegen.
Er tat den ersten Schritt und erinnerte sich daran, wie angenehm es war, auf dem Mond zu laufen. Er fühlte sich so leicht und frei, während er einen Schritt nach dem anderen machte. Es schien, als flöge er über die Oberfläche. Norman kletterte den Berg hinauf und lächelte. Es war das erste positive Gefühl, das er seit Beginn dieser Reise hatte. Gleich würde er die Erde wiedersehen. Das blaue Meer und die gelben Dünen. Die letzten Schritte waren schwer, aber er kam voran. Er würde jeden Augenblick den Gipfel erreichen.
Er schob sich hoch und stand auf dem Berggipfel. Er stand fest auf seinen Füßen und schaute nach vorne. Seine Augen waren weit geöffnet und er blinzelte nicht. Er lächelte wieder. Doch die Werte in seinem Helm verschlechterten sich drastisch. Seine Herzfrequenz war dabei zu explodieren und er atmete schneller. Er atmete, als ob er keine Luft mehr bekäme. Er schaute auf ein Meteoritenfeld. Norman hoffte, dass er woanders gelandet war. Vielleicht in der Andromeda-Galaxie oder einem Ort, der wie die Milchstraße aussah. Doch das war nicht der Fall. Er war am richtigen Ort, aber zur falschen Zeit. Er hatte diese Galaxie vor der Invasion verlassen. Nun kam er viel zu spät. Millionen von Jahren zu spät. Es war definitiv die Milchstraße und bei dem Meer aus Steinen vor ihm handelte es sich um die Überreste des Planeten, den er einst als sein Zuhause bezeichnet hatte. Es war kein Meteoritenfeld. Es war die Erde. Er war allein.
ENDE

Nikita Vasilchenko wurde am 03.08.1994 in Tashkent, Usbekistan geboren. Im Jahre 2000 kam er mit seinen Eltern nach Deutschland und lebte zunächst in Oberhausen. Nach dem Abitur im Jahre 2013 begann er sein Studium an der Macromedia University of Applied Sciences in Köln. Dort studierte er Film & Fernsehen mit dem Schwerpunkt Drehbuch und Regie. Eins seiner Drehbücher namens »Seoul Trinity« wurde auf diversen internationalen Festivals in der Kategorie »Best Short Script« nominiert und ausgezeichnet. Nach seinem Bachelor of Arts im Jahre 2017 arbeitete er an diversen Filmsets, unter anderem bei Filmen wie »High Life« mit Robert Pattinson oder »Annette« mit Adam Driver und Marion Cotillard.
Zugriff
Silvia Krautz
»Es geht gleich los!«, flüsterte Tim ihm über Funk ins Ohr.
Erik sah von seinem Pad auf. Er hasste die Warterei auf den Startbefehl. Besonders heute tat er das, denn dies würde ihr wichtigster Einsatz sein. Aber falls alles gut ging, dann war es ihr letzter.
Seine Partnerin Linda verzog das Gesicht.
»Das hast du uns schon zweimal gesagt, Tim. Aber jedes Mal ist einem der Konferenzteilnehmer ein weiteres Schlusswort eingefallen, das im Grunde keinen interessiert.«
»Wohl wahr«, murmelte Erik. Die Stimme in seinen Ohrstöpseln schwieg. Erik wechselte einen Blick mit Linda und stellte sich darauf ein, noch weitere Minuten voller innerer Anspannung in der winzigen Abstellkammer zu verbringen. Mit einem leisen Seufzen schaute er wieder auf das Pad und verfolgte die Live-Übertragung aus dem Konferenzsaal.
In Eriks Ohr rauschte es. Dann hörte er wieder die Stimme ihres Koordinators: »Die Reden sind vorbei. Zielperson Eins schüttelt die letzten Hände und begibt sich mit ihrem Wachpersonal zu den Autos. Zielperson Zwei nimmt noch ein paar Verbeugungen entgegen und – ja, sie geht jetzt auch.«
Erik hörte, wie Tim tief Luft holte. Vermutlich schlug Tims Herz gerade genauso schnell wie sein eigenes. Er drehte den beiden Präsidenten, deren Eskapaden ihn nur noch anwiderten, Bild und Ton ab und verstaute sein faltbares Pad in einer Anzugtasche.
»Ihr wisst, was von euch abhängt, Leute. Ich wünsche euch alles Glück, das ihr kriegen könnt! Lasst euch nicht schnappen, während ihr den Lauf der Geschichte verändert! Team Eins, Team Zwei – es geht los!«
Erik erhob sich gleichzeitig mit Linda, die ihn breit angrinste.
»Dann treten wir ihnen mal gehörig in den sprichwörtlichen Arsch!«
Ein erwartungsvolles Gefühl löste das entnervende Warten ab. Routiniert zog Erik sich den elastischen Helm über, schloss am Hals die Kontakte zum Ganzkörperanzug und schaltete die Datenbrille vor seinen Augen live. Funkverbindung, Elektro-Stunner, ein letzter Check des Anzugnetzes, von dessen Funktionsfähigkeit alles abhing. Er drehte sich zu Linda um.
»Fertig? Dann los!«
Erik holte tief Luft und schaltete die Modulatoren ein. Es kribbelte eine Sekunde lang wie eine Schar Ameisen auf seiner Haut. Dann löste er sich in Luft auf. Neben ihm verschwand Linda. Nur die Umrissanzeige auf der Datenbrille zeigte ihren Standort an.

Erik öffnete die Tür. Auf Sohlen, die jedes Geräusch bis zur Unhörbarkeit dämpften, traten sie auf den Flur hinaus.
›Ich hoffe, Takeos Team bekommt für diese Erfindung einmal den Nobelpreis.‹
Die Unsichtbarkeits-Modulatoren, die über seinen Ganzkörperanzug verteilt waren, vibrierten kaum merklich. Trotz des intensiven Trainings war es für ihn immer noch ein eigenartiges Gefühl, seine federnden Schritte zwar zu spüren, aber nicht mehr zu sehen, was seine Füße taten. Dass er Linda nur als Umriss auf seiner Datenbrille neben sich herlaufen sah, verstärkte dieses Gefühl. Zwei Einsätze hatte er jetzt hinter sich, aber richtig daran gewöhnen konnte er sich bisher nicht.
Unbehelligt erreichten sie die Treppe. Erik musterte die Personenschützer, die auf jeder Etage am Treppenaufgang und vor den Fahrstühlen standen. Mit stoischen Mienen behielten sie ihre Umgebung im Auge. Er lobte in Gedanken den zweiten Nobelpreis aus, diesmal für Walids und Iras Firma, der sie die speziellen Schuhsohlen verdankten. Und einen dritten für Helge und Jerome, die ihre Körper auch für Wärmebildkameras unsichtbar gemacht hatten.
Linda hielt sich direkt hinter Erik, während er die Stufen hinabging. Wie ruhig es hier oben war. Das Nobelhotel, in dem Zielperson Eins, der Präsident des amerikanischen Nordkontinents, residierte, konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit im Moment auf die Empfangshalle. Erik hörte von unten Stimmen und Gläserklirren. Das Summen der Videodrohnen, die sich bei der Ankunft des Präsidenten wie ein Schwarm Insekten auf ihn stürzen würden, dachte er sich dazu.
Auf der linken Seite seiner Datenbrille leuchtete ein kleiner grüner Punkt auf.
Erik lächelte. Auf der anderen Seite dieses Gebäudes war soeben Team Zwei in Aktion getreten. Jake und seine beiden Bodyguards hatten die Wartezeit in einer ähnlich winzigen, verborgenen Kammer verbracht. Jetzt befanden sie sich auf dem Weg zu ihrer Position, unsichtbar wie Linda und er.
Grellrot blinkte die Gefahrenanzeige in Eriks Gedanken hinein.
Gleichzeitig startete im unteren Teil seines Gesichtsfelds eine Kameraübertragung. Eine Tür klappte auf. Eine Dame im Blazer trieb einen verschüchtert aussehenden jungen Mann, der eine Videodrohne in den Händen hielt, auf den Flur hinaus. Die Stimme der Frau, die aus dem Stockwerk über ihnen erklang, hallte durch die Einspielung doppelt in Eriks Ohren wider: »Praktikanten! Nie wieder Praktikanten! Wenn das Ding jetzt nicht funktioniert, dann war das dein letzter Tag in unserem Sender!«
Der junge Mann bog mit rotem Kopf um die Ecke und stolperte eilig die Treppe hinunter. Erik und Linda drückten sich rasch zu beiden Seiten an Geländer und Wand, um ihn vorbeizulassen. Bei der Blazerdame war das schon schwieriger. Immer noch schimpfend warf sie die Arme in die Luft und hätte Erik dabei fast eine Ohrfeige verpasst. Im letzten Moment zog er den Kopf ein und duckte sich unter ihrer Hand weg.
Die Bodyguards auf diesem Treppenabsatz blickten dem ungleichen Paar kurz hinterher und erlaubten sich ein amüsiertes Grinsen. Erik ging ruhigen Schrittes an ihnen vorbei, das übliche nervöse Gefühl im Nacken, und lief weitere zwei Stockwerke die Treppe hinab.
»Präsidenten-Suite« verkündete ein blankgeputztes Schild am Treppenaufgang. Doppelter Wachschutz, helle Beleuchtung – und eifriges Hantieren in einem der Zimmer, dessen Tür offenstand. Erik trat in eine Nische, in der man nicht im Weg herumstand. Linda folgte ihm. Beide äugten in alle Richtungen. Er schaltete sich mit einem Blinzeln auf die nächstgelegene Hotelkamera auf.
In der Präsidenten-Suite waren die letzten Vorbereitungen im Gange. Eine Frau vom Hotelmanagement kontrollierte Bar und Schränke, eine andere zupfte die schweren Gardinen in Form. Zwei Angestellte fuhren einen Rollwagen mit Bettzeug aus dem Zimmer.
Sie ließen die beiden vorbei. Dann beugte sich Lindas Umriss ein wenig vor und winkte Erik, ihr zu folgen. Er schloss sich ihr nach einem letzten Blick zu den Wachleuten an.
Die Tür stand einladend offen. Linda spazierte als erste zwischen den Bodyguards hindurch in die Suite. Erik beobachte, wie sie sich an einem Tisch, Sesseln und einer ausladenden Fächerpalme vorbeischlängelte, dabei immer den hin und her wuselnden Kontroll-Damen ausweichend. Endlich war sie im Nachbarzimmer, ging in die Knie und schob sich unter das breite Doppelbett.
Geschafft! Eine der Damen hockte sich nur Sekunden später hin und warf einen prüfenden Blick unter das Bett. Als sie weder Staubflusen noch Linda dort entdeckte, erhob sie sich wieder mit zufriedenem Gesicht.
›Den Nobelpreis werdet ihr wohl doch nicht kriegen, Takeo. Eure Erfindung kann niemand öffentlich machen! Aber ich gebe euch einen aus, wenn das hier vorbei ist!‹
Jetzt war Erik an der Reihe. Die Jungs vom Wachdienst hatten ihre Posten wieder eingenommen, doch das störte ihn weitaus weniger als das übereifrige Hotelpersonal. Eine der Frauen sprang ihm ständig vor die Füße und wischte mit dem ausgestreckten Zeigefinger im hellen Handschuh mal hier, mal da auf Bilderrahmen, Bordüren oder Regalbrettern herum. Erik hatte seine liebe Not damit, ihr jedes Mal rechtzeitig aus dem Weg zu gehen.
Eilig huschte er ins Nachbarzimmer, kurz bevor eine der Ladys die Tür dorthin zuzog. Sofort ging er in die Knie und rutschte zu Linda unter das Bett.
Es war eng dort, was Linda aber nicht daran hinderte, ihm Daumen-Hoch zu signalisieren. Erik tat es ihr nach. Die erste Etappe hatten sie geschafft.
Es dauerte ein paar Minuten, dann änderte der grün blinkende Punkt im Sichtfeld seine Farbe zu gelb. Erik lächelte. Jakes Team hatte seine Position eingenommen.
Jetzt hieß es erneut warten.
Ihr Versteck unter dem Bett war dank des flauschigen Teppichs erstaunlich bequem. Erik blickte auf die Anzeige, die ihm die Zeit bis zur voraussichtlichen Ankunft des Präsidenten angab. Die Zahlen änderten sich nur gemächlich. Er hoffte, dass Joannas Kontrolltrupp die richtige Eskorte anpeilte. Ihm war zu Ohren gekommen, dass man für beide Zielpersonen mehrere Konvois vom Konferenzzentrum zum Hotel losgeschickt hatte, um mögliche Attentäter in die Irre zu führen.
Erik würde sich nicht beschweren, wenn irgendein Verrückter ihnen die Arbeit abnahm. Aber das hatte noch nie funktioniert. Sie würden ihre Mission wie üblich selbst erledigen müssen.
Eriks Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem die halbe Welt den Kopf über die Wahl dieses Präsidenten geschüttelt hatte. Damals war er noch als Personenschützer für diesen Mann tätig gewesen. Aber es wurde ihm mit jedem Tag unmöglicher, das eigene Leben für diesen Mann zu riskieren. Für jemanden, der wahlweise Land um Land einschüchterte oder gegen sich aufbrachte und der seinen Drohungen allzu gern Flugzeuge, Sprengköpfe und bewaffnete Einheiten folgen ließ, wenn es ihm gerade in den Kram passte. Nicht viel anders als sein Kontrahent da drüben im Osten.
Erik hatte einmal den Mund zu weit aufgerissen und seine Meinung dazu kundgetan. Noch am selben Tag erhielt er seine Entlassungspapiere. Er wusste nicht, wo er heute stehen würde, hätte nicht eine geheime Organisation des Weltstaatenbundes Kontakt zu ihm aufgenommen.
Weltstaatenbund war damals noch ein viel zu großes Wort für diesen erstaunlich schnell wachsenden Verband von Staaten. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein Bollwerk gegen die Extreme der zwei Großmächte zu bilden – und einen Schutzraum für die Länder, die sich ihm anschlossen. Erik hatte diese Traumtänzer zuerst belächelt, aber es nötigte ihm Respekt ab, wie rasch dieser Verband Zuspruch fand. Ein Land nach dem anderen kam hinzu – selbst einige, von denen er es nie für möglich gehalten hatte, dass sie jemals ihre Souveränität für eine solche Vereinigung aufgeben würden.
Die stattliche Anzahl der Mitgliedsstaaten hielt untereinander Frieden oder wenigstens Waffenstillstand. Aber eine Möglichkeit, die zwei streitlustigen Großmächte im Zaum zu halten, hatte sich dadurch bisher nicht ergeben. Die Angst vor einem Erstschlag, die in einer besonders heißen Phase dieses Konfliktes rund um den Erdball fegte, war der Grund, aus dem Erik heute hier lag.
Inzwischen kannte Erik die Strategie des Bundes, war er doch längst selbst Teil davon. Seine Geheimorganisation hatte sich wie ein unsichtbares Netz in alle Länder der Welt vorgearbeitet. Sie wurde immer dann aktiv, wenn ein Land sich vehement weigerte, dem Weltstaatenbund beizutreten. Diese Organisation rüstete ihre Agenten mit einigen hochmodernen, sehr effizienten Erfindungen aus und schleuste sie in die Nähe der Regierung ein, um jene Person oder Personen in aller Heimlichkeit …
Erik spürte Lindas Ellbogen in der Seite. Er fokussierte den Blick wieder auf seine Datenanzeige:
»Zielperson Eins – Ankunft im Hotel«
Erik beobachtete durch die Einblendung auf seiner Datenbrille, wie der Präsident unten beim letzten Sektempfang des Abends mit jovialem Grinsen Hände schüttelte und mit jedem zweiten Satz gegen den Weltstaatenbund, den Organisator dieser Konferenz, stichelte. Aber der Tag und die Nacht im Konferenzsaal waren lang gewesen. Bald zeigte die Kamera in der Eingangshalle, dass Zielperson Eins sich mit ihren Bodyguards zum Fahrstuhl begab.
Eriks Anspannung wuchs. Dieser Weltkongress war die von langer Hand vorbereitete Gelegenheit, zwei unbelehrbare Staatsoberhäupter mit einem Zug aus dem Spiel zu nehmen. Eine Chance für die Welt, noch einmal vom drohenden atomaren Abgrund zurückzutreten und auf ein besseres, friedlicheres Zusammenleben hinzuarbeiten.
Die Tür zur Suite ging auf. Erik hörte die Stimme, deren herablassenden Tonfall er ums Verrecken nicht ausstehen konnte. Nach einem kurzen Wortwechsel mit seinen Personenschützern klappte endlich die Tür zu.
Der Präsident war allein. Erik hörte seine Schritte auf dem Teppich, dann sprang der große Videoschirm im Zimmer an. Die Matratze über ihnen sackte ein wenig ein, als der Mann es sich darauf gemütlich machte. Eine Weile verfolgte er seine eigenen aktuellsten Nachrichten und ließ ein paar Spitzen gegen seine Lieblingsfeinde los.
Währenddessen schaltete Erik sich auf die Kamera in der Suite und richtete sie auf den Videoschirm aus. Er tippte Linda an und sandte ihr mit einem Blinzel-Code über die Datenbrille das Startzeichen.
Beide griffen nach ihren Elektro-Stunnern. Langsam und lautlos schoben sie sich gleichzeitig links und rechts unter dem Bett hervor.
Als Erik sich aufrichtete, sah er auf der anderen Seite des Doppelbetts Lindas Umriss stehen. Der Präsident saß zwischen ihnen. Er trug noch seinen Konferenzanzug, den Schlips hatte er achtlos zu Boden geworfen. Mit verächtlicher Miene starrte er auf das Logo des Weltstaatenbundes, das eben eingeblendet wurde.
»Ihr werdet mir langsam zu groß und zu lästig, ihr Wichtigtuer. Müsste ich mich nicht ständig mit diesen Schlitzaugen herumschlagen, dann hätte ich eure Bündnisstaaten schon längst in Schutt und Asche gelegt!«
›Zu spät, alter Mann.‹
Erik streckte den Arm aus. In einer synchronen Bewegung näherten sich seine und Lindas Elektro-Stunner dem Hals des Präsidenten. Als sie auf den Auslöser drücken wollten, langte der Mann plötzlich nach dem Whiskeyglas, das auf dem Nachttisch neben dem Bett stand. Dabei traf er Eriks unsichtbaren Arm und erstarrte.
Erik sah in sein irritiertes Gesicht und spürte den eigenen Herzschlag in der Kehle. Dann presste er den Stunner gegen den Hals des Präsidenten und drückte ab. Ein zweistimmiges Summen der Waffen erklang, als Linda auf der anderen Seite das gleiche tat.
Der Präsident erzitterte kurz, kippte vornüber und blieb bewusstlos liegen.
Lindas Umriss tastete nach seinem Handgelenk, prüfte Puls und Atmung. Dann nickte sie. Erik zog eine kleine Tasche hervor. Er entnahm ihr Ampulle und Nadel und setzte dem Mann eine hoch dosierte Betäubungsspritze. Sie drapierten den Schlafenden gemeinsam in eine normale liegende Position und kontrollierten per Flurkamera die Wachposten vor der Tür.
Dann sendete Erik das OK an Jakes Team.
Es dauerte keine Minute, bis der kleine Aufzug, der in einem Nebenraum der Präsidenten-Suite eingebaut war, seine Türen öffnete. In die Kabine, wo Hotelangestellte sonst einen Wagen mit exquisitem Essen und Getränken transportierten, quetschten sich die Umrisse dreier Männer.
Jake stieg als Erster aus. Seine breit gebaute Silhouette war von den beiden anderen gut zu unterscheiden. Einer seiner Bodyguards warf Linda einen Rucksack zu. Während sie ihn rasch öffnete und mit geübten Handgriffen einen weiteren Komplettanzug entnahm und zurechtlegte, winkte Jake seine Begleiter zum Bett. Stumm hoben sie und Erik gemeinsam den bewusstlosen Präsidenten hoch, so dass Linda den auseinandergefalteten Anzug unter ihn legen konnte. Dann ließen sie ihn wieder darauf niedersinken, schlossen den Stoff über Armen, Beinen und Körper, zogen ihm Handschuhe an und einen Helm über den Kopf. Erik verband die Kontakte des Unsichtbarkeits-Netzes am Hals, stellte es scharf und sah in seiner Datenbrille nun einen weiteren Umriss.
»Ihr zuerst«, befahl er den zwei Bodyguards. Sie zogen den Präsidenten auf die Füße und nahmen den leblosen Körper in die Mitte. Es kostete sie einiges an Anstrengung, ihn aufrecht zu halten. Sie hievten ihn zum Aufzug und quetschten sich mit ihm hinein. Sofort fuhr dieser nach unten. Ein paar Mitarbeiter, die sie schon vor langer Zeit ins Hotel und in die Entourage des Präsidenten eingeschleust hatten, würden ihnen den kürzesten Weg von der Küche hinüber in die Tiefgarage freihalten. Dort wartete ein gut bewachter Wagen auf seinen besonderen Gast. Weiter ging es für ihn zu einem kleinen Flughafen und dann auf direktem Wege in einen Hochsicherheitstrakt des Weltstaatenbundes. Dieser verbarg sich an einem Ort, den Erik nicht kannte. Es war ihm auch egal. Hauptsache, eines der größten Ärgernisse der Weltpolitik befand sich ab sofort bis an sein Lebensende hinter Schloss und Riegel. Wie die zwei anderen, an deren Ersetzung Erik beteiligt gewesen war.