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Die Frau zögerte und wies auf den Kasten am Tor: »Da.« Dann lächelte sie verschwörerisch und zeigte auf den anderen Kasten, direkt am Haus. »Nein, da.«
Über Leas Gesicht zog sich unwillkürlich auch ein breites Lächeln. »Gut«, sagte sie. »Also bis bald.« Sie gab sich innerlich einen Tritt in den Hintern, um zu gehen.
Während sie über das Kopfsteinpflaster durch die Weiden fuhr, konnte sie nicht umhin, innerlich vor Freude zu hüpfen, ohne so genau zu wissen, warum. Darüber, dass sie der Frau endlich doch begegnet war, dass sie mit ihr gesprochen hatte? Darüber, dass sie noch einmal so einen Blick bekommen hatte? Darüber, dass die Fremde sich noch an die Karte erinnerte? Darüber, dass sie die Briefe bis ans Haus bringen durfte? Letzteres war doch vollkommen albern. Was machte es schon für einen Unterschied! Die Frau hatte sie nicht auf größtmöglichem Abstand gehalten. Das war der Unterschied. Na und? Lea war ja nicht … Nein, das konnte ja nicht sein, das wäre ja Blödsinn, sie konnte nicht … Sie grinste glücklich in sich hinein und musste gleichzeitig über sich lachen und mit sich schimpfen, denn sie war es offensichtlich doch – verliebt. Zumindest ein wenig.
Zu Hause kochte Lea sich eine Riesenportion Nudeln. Während sie die Tomaten schnitt und im Hintergrund Mercedes Sosas voluminöse Stimme sang, grinste sie immer noch zufrieden. Nein, das war doch sinnlos. Sie sollte sich das ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Als sie den Knoblauch hackte, dachte sie an das Lächeln dieser Frau. Sie war vielleicht unsicher, darunter allerdings schimmerte eine enorme Stärke durch. Und Verletzlichkeit. Vielleicht auch Verletztheit. Das Basilikum ließ traurig die Blätter hängen. Wo sie wohl herkam? Nein, Quatsch, das war doch völlig egal. Außerdem war sie wahrscheinlich mit diesem blöden Typen zusammen. Okay, er hatte Lea nichts getan. Vielleicht war er ja gar nicht blöd. Wenigstens hatte sie noch gefrorene Kräuter im Tiefkühlfach. Möglicherweise war sie ja auch verheiratet und hatte tausend Kinder. Ach Scheiße. Das Olivenöl breitete sich langsam in der Pfanne aus. Was wohl die Muttersprache der schönen Fremden war? Lea dünstete den Knoblauch und die Tomaten kurz an und mischte die Kräuter unter. Als sie aß, saß die Frau mit ihr am Tisch, Lea sah ihren unergründlichen Blick, hörte ihre warme Stimme und suchte nach Antworten.
Es wurde Montag. Leas Herz begann zu hämmern, als sie auf das Haus Starrenberg zuging. Hoffentlich war er nicht da. Hoffentlich war sie da. Herr Starrenberg war ihr irgendwie unangenehm. Lea warf ganz langsam den ersten Brief in den Kasten an der Haustür. Irgendeine Werbung. Sie ließ den Briefkastendeckel geräuschvoll zufallen, bevor sie gemächlich in den Wagen griff und nachschaute, wo denn nur der zweite Brief und der andere Werbemüll war, der in diesen Kasten gehörte. Heute war es viel. Natürlich hatte sie das sofort überprüft, als sie den Postberg sortiert hatte. Sie hatte sogar noch einen Bonus an Werbematerial dazugegeben.
Endlich regte sich was am Fenster. Die Gardine wurde zurückgeschoben und das Gesicht der bezaubernden Fremden erschien. Sie lächelte und winkte. In ihrem Blick lag Wehmut. Lea schmolz förmlich dahin und musste aufpassen, dass sie nicht eine Pfütze vor der Haustür bildete, einen kleinen See aus Entzücken. Warum kam die Frau nicht heraus, warum nahm sie die Post nicht persönlich entgegen, wenn sie schon zum Fenster kam? Wie auch immer, ihr Lächeln war einfach mehr als Gold wert. Auch am folgenden Tag winkten sie sich nur durch das Fenster zu und am nächsten und am übernächsten auch. Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, naja, einen halben Meter oder doch eher einen ganzen. Jedenfalls viel zu weit. Und immer war da diese Glasscheibe zwischen ihnen.
Lea hielt es einfach nicht aus. Entgegen aller Vernunft schrieb sie eine neue Postkarte: »Sie sind für mich wie eine Gazelle in der Nacht: schön, flüchtig – geheimnisvoll. Doch auch das Bild auf dieser Karte passt zu Ihnen: sanft, aber zugleich stark, wie jemand, der nicht vergessen kann.« Auf der Karte war ein Elefant.
Vor dem Haus klapperte sie mit dem Briefkastendeckel. Ihr Herz klapperte mindestens genauso laut. Als das Gesicht erschien und die Frau ihr winkte, hielt Lea die Karte ans Fenster. Die Augen der Frau senkten sich auf das Bild, sie wirkte erst erschrocken, dann erfreut. Sie verschwand. Kurze Zeit darauf öffnete sich die Tür. Leas Herz machte einen Sprung. Die Frau stand im Türrahmen und begrüßte sie mit leiser Stimme. »Guten Tag … Was ist das?«
Lea hielt ihr die Karte entgegen. »Ein Elefant«, sagte sie und biss sich sofort auf die Zunge. Warum gab sie so eine blöde Antwort, die Frau war ja nicht blind!
»Was?«
»Äh, Elefant. Wir nennen das Elefant. Naja, das wissen Sie sicher schon.« Lea atmete durch, gerade noch gerettet.
Die Frau betrachtete die Karte in Leas Hand. Dann öffnete sie ihre dunkelbraune Strickjacke, die sie bisher fest um sich geschlungen hatte, und gab damit ihren Hals und den Ansatz ihres Dekolletés frei. Ein leiser Duft ging von dieser Frau aus, kaum greifbar. Geheimnisvoll und weich. Ein Duft, der viele Geschichten in sich barg. Lea schluckte. Ihr Blick glitt den zarten, sehnigen Hals herunter, die Wollränder der Jacke entlang, über die Schlüsselbeine und die Schnüre eines Lederbandes bis zur Brust der Fremden. Dort hing ein kleiner graugrüner Stein, unbehauen und ungeschliffen.
»Elefant«, sagte die Frau und versuchte damit, das Wort auf Deutsch zu wiederholen. Ihre Stimme war leise und zurückhaltend, klang wie ein Stück losgelöste Borke im Herbst. Wie rauer Samt, wie ein Ausschnitt eines großen Tuches, unter dem sich Dinge verbargen. Lea schaute etwas genauer hin und versuchte, sich nicht von der warmen Haut der Frau ablenken zu lassen. Der Stein sah tatsächlich wie ein Elefant aus. Die Frau lächelte, aber ihr Lächeln schien aus einer tiefen Trauer zu kommen.
Lea schaute in das wehmütige Gesicht. »Woher ist dieser Elefant?«
Die Frau legte ihre Hand auf den Elefanten. »Elefant aus … Asien. Aus Birma. Ist Geschenk. Zum Schutz vor Tod.«
»Und? Hat er Sie beschützt?«
Die Frau nickte verhalten. »Ich habe Mann kennengelernt. Guter Mann.«
Lea rutschte das Herz in die Hose. Sie schluckte. War ja klar.
Die Stimme der Frau klang nun wie aus weiter Ferne. »Hier Arbeit. Gute Arbeit. Das gut.«
Lea lächelte gezwungen. »Das freut mich.« Sie ließ die Postkarte in ihrer Hand sinken. Jetzt schämte sie sich dafür. Sie sollte sie ihr nicht mehr geben. Wie konnte sie nur so blöd sein!
Die Frau schaute zu der Karte herunter. »Karte für mich?«
Lea heftete ihren Blick an die Hauswand, als sie log. »Nein, nein, die ist für jemand anderen. Ich fand das Bild so schön. Ich wollte es ihnen nur zeigen. Ich … mag Elefanten.«
»Schön, ja.« Die Frau nickte. »Elefanten gut. Hier keine Elefanten. Hier komische Kühe.«
Lea lächelte gequält. »Ja, hier komische Kühe«, und in Gedanken ergänzte sie, ich zum Beispiel. »Ich muss jetzt weiter. Tschüss.« Lea drehte sich um und ging. Im Gehen steckte sie die Karte wieder ein und ging wie auf Glatteis ihren Botengang beenden.
Südost Birma, Ende Mai 1996
Als San Youn erwachte, lag sie auf einer Bastmatte im Wald. Das Blätterdach war hier dünner als da, wo ihr Versteck war. Einige Bäume waren kahl. Das Dorf war verschwunden. Dafür roch es nach Feuer und gegrilltem Fleisch. San Youn schrak hoch, sah fremde Menschen. Sie trugen Uniformen. Schnell legte sie sich wieder hin und stellte sich schlafend. Schritte näherten sich. »Wach auf«, sagte eine Stimme über ihr, jemand schüttelte sie, dann bekam sie ein paar Ohrfeigen. Langsam und widerstrebend öffnete sie die Augen. Eine junge Frau in einer Soldatenuniform saß neben ihr und hielt sie an den Schultern. Sie hatte kurzes, struppiges Haar, das ihr spröde wie Stroh vom Kopf abstand. »Setz dich auf, iss was.« Sie half San Youn, sich aufzurichten. Dann reichte sie ihr eine kleine Schale mit Reis. »Iss.« San Youn hatte schrecklichen Hunger. So Hunger, dass ihr Magen sich zusammenzog und kaum etwas aufnehmen wollte. Außerdem war ihr übel vor Angst. Trotzdem gehorchte sie und zwang sich zu essen. Langsam rollte sie den Reis zu Bällchen und schob ihn sich in kleinen Häppchen in den Mund. »Da«, sagte die Frau und gab ihr einen gegrillten Frosch. »Du musst zu Kräften kommen.« San Youn nahm das Holzstäbchen, auf dem der Frosch steckte, und nagte vorsichtig Stück für Stück das Fleisch herunter.
Ängstlich schaute sie sich um. Die Schlafstelle, auf der sie lag, bestand aus zwei nebeneinanderliegenden langen Baumstämmen, über die dicke Zweige gelegt waren, sodass sie etwas erhöht über der Erde lag. Da waren Zelte und Leute saßen um ein Feuer. Sie aßen ebenfalls. Es waren Erwachsene und auch Kinder. Viele trugen Uniformen und Gürtel, an denen Handgranaten hingen und fast alle hatten ein Gewehr auf dem Rücken. Auch die Kinder. San Youn erschrak. Ob sie jetzt auch schießen musste? Die Mutter hatte es ihr doch verboten. San Youn fragte sich, ob Nu Kaung und San Kyi auch da waren und suchte zwischen den fremden Rücken und Gesichtern ihre Schwestern. Doch es gab niemanden, den sie kannte. Sie spähte nach den Kennzeichen auf den Uniformen – wenigstens waren es die Soldaten der Karen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war sie jetzt gerettet, vielleicht würden die Soldaten sie nach Europa bringen. San Youn schaute auf ihren Reis. Ohne Mi Mi wollte sie nicht nach Europa. Wieder wollten Tränen in ihr aufsteigen, blieben aber in einem Kloß in der Kehle stecken. Niemand beachtete sie. Ob sie weglaufen sollte? San Youn rollte nervös den Reis zwischen ihren Fingern und schluckte trocken.
Bald wurde es dunkel und einige Kinder kamen auf San Youn zu. Ohne sie zu beachten, breiteten sie Bastmatten auf dem Schlaflager aus und legten sich in einer langen Reihe neben sie. Die Kinder sahen seltsam aus, ihre Gesichter waren ausdruckslos. San Youn konnte nicht sehen, ob sie traurig waren oder böse. Es waren Gesichter, die nicht zu Kindern passten. Sie mussten erwachsen sein für den Krieg, doch wirklich Erwachsene schießen nicht, hatte Mi Mi gesagt. Weil wenn man erwachsen ist, wirklich erwachsen und nicht nur alt, dann weiß man, dass man sich damit nur selber schadet, dass es keinen Sinn macht zu töten. Bald waren alle eingeschlafen. San Youn wagte nicht, sich zu bewegen. Grillen sangen das Nachtlied des Waldes, sie hörte vielfaches Schnarchen. San Youn lauschte, bis auch sie endlich wieder einschlief.
Mit den Schreien der Gibbons begann der neue Tag. Bevor San Youn die Augen öffnete, prüfte sie mit den Ohren ihre Umgebung. Schritte, vereinzelt Stimmen, das Klappern von Dingen, die aufeinandergestapelt wurden, das Knistern von Bastmatten, die man zusammenrollte. Die anderen Kinder waren schon aufgestanden. Als San Youn sich bewegte, stieß sie jemand an. Es war dieselbe Frau wie gestern. »Bist du wieder kräftig? Kannst du aufstehen?« San Youn verharrte. »Versuch es, los. Wir brechen gleich auf. Wenn du nicht stark genug bist, musst du hierbleiben, also versuch es.« San Youn erhob sich schwerfällig. Die Frau rollte für sie die Matte zusammen. »Hier«, sagte die Frau und drückte ihr einen dicken Zweig in die Hand, den sie als Gehstock benutzen konnte. »Damit geht’s besser.« San Youn stand auf wackeligen Beinen. Die Anstrengung der letzten Tage und das wenige Essen hatten sie geschwächt. Nichts desto trotz gab die Frau ihr einen recht schweren Rucksack. »Entweder du trägst oder du bleibst hier«, sagte sie und ging zu der Gruppe, die sich in einer langen Reihe in Bewegung setzte. Auf dem Rücken trug sie ein riesiges Tragegestell, beladen mit einem Zelt, Panzerfäusten und Töpfen. Die Männer trugen viel weniger Gepäck als die Frauen. Die Rücken der Frauen waren so vollgeladen, dass San Youn nur die wankenden Tragegestelle und die aufgeladenen Sachen sehen konnte. Ganz vorn, mit Abstand, gingen zwei Kinder.
Die Gruppe bewegte sich auf schmalen Pfaden, die sich durch den Wald schlängelten. San Youn folgte unbeachtet, Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer. Niemand wartete auf sie. Bei diesen Leuten gab es Essen, gab es Sicherheit. Also ging sie, ging und stolperte, ohne nachzudenken, immer darauf bedacht, nicht zurückzufallen. Der Wald war hier heller als in der Umgebung ihres Dorfes, er ließ mehr Licht zum Boden dringen. Dafür war aber der Boden viel dichter mit Pflanzen überwuchert und das Gehen anstrengender. Außerdem begannen hier die Ausläufer der Berge, stetig ging es bergauf. Jetzt im Mai, dem Ende der Trockenzeit, war es unerträglich heiß und schwül. Sogar Tiger würden jetzt hechelnd im Schatten liegen und sich so wenig wie möglich bewegen. Der Schweiß lief einem nur so herunter, während ein Fuß vor den anderen gesetzt wurde und die Rucksäcke auf den schmerzenden Schultern schwerer und schwerer wurden.
Nach einem stundenlangen Fußmarsch erreichten sie eine freigeräumte Lichtung. Hier lagen bereits ein paar Baumstämme, Äste und Bretter. Gräben waren an den Seiten der Lichtung ausgehoben, der Boden war lehmig. Sofort begann man, Bretter über die Baumstämme zu legen und Zelte und Schlaflager darauf zu errichten. Die Kinder gingen im Wald nach Grillen und Fröschen suchen. Zwei Feuer wurden angezündet und bald gab es Mohinga, Suppe mit Reis und einer Fischsoße, gegrillte Frösche und Grillen. Zum Essen saß man auf Bastmatten, die Gewehre blieben auf den Rücken hängen, man aß schweigend. San Youn schlürfte gierig die Suppe herunter und verschlang die gerösteten Grillen. Die anderen schenkten ihr kaum Beachtung. Vor Erschöpfung war sie dem Umfallen nahe und man erlaubte ihr nach dem Essen eine Ruhezeit. Sie breitete eine Bastmatte über das erbaute Schlaflager aus und schlief unter dem Zirpen, Zwitschern und Rufen des Waldes sofort ein.
Nach ein paar Stunden wurde sie erneut geweckt, bekam Wasser und wurde zu einer Gruppe Kinder geschickt, die im Halbkreis auf Matten saßen und einer Frau in Uniform zuhörten. Die Frau redete von Nationalstolz und Tapferkeit, von Opferbereitschaft und lauter Dingen, zu denen Mi Mi sicher anderes gesagt hätte. Immer wieder hatte San Youn Schwierigkeiten, sie zu verstehen, weil sie einen Dialekt sprach, den San Youn nicht so gut kannte. In ihrem Land gab es viele Sprachen und selbst innerhalb der einzelnen Volksgruppen viele Dialekte, die untereinander kaum verstanden wurden. Die Soldaten hier sprachen überwiegend Sgaw oder auch Birmanisch, das in dieser Region oft als Verständigungsbrücke benutzt wurde und das San Youn immerhin ein wenig verstand.
Die Soldatin sprach davon, dass die anderen – das waren immer wieder unterschiedliche, besonders aber das Militär der Regierung – das Volk unterjochten, versklavten und demütigten, sprach von Widerstand und Freiheitskampf. Sie fragte die Kinder laut: »Wer ist unser Anführer?«, »Was ist unsere Heimat?« und »Wer sind wir?« Alle Kinder riefen die Antworten laut heraus. Alle dieselben. Mi Mi hätte etwas anderes geantwortet. Instinktiv wusste San Youn, dass sie sich die Antworten, die man von ihr erwartete, schnellstmöglich einprägen sollte und so begann sie, nach und nach, zögerlich mitzurufen. Und dann wurde sie unerwartet von der Lehrerin angesprochen. Sie musste vor die Gruppe treten und konnte sich nicht mehr zwischen den anderen Kindern verstecken. Alle schauten sie an.
»Dieses Mädchen war allein in ihrem zerstörten Dorf. Ohne unsere Hilfe wäre sie gestorben.«
San Youn wurde aufgefordert zu erzählen, was die Soldaten mit ihrem Dorf getan hatten. Ihr schnürte sich die Kehle zusammen. Sie wollte nicht erzählen, konnte es nicht. Da waren keine Worte und die Bilder wollte sie auch nicht sehen, wollte sich nicht erinnern. Der Befehl wurde wiederholt. San Youn biss sich auf die Lippen und schaute zu Boden.
»Hier wird nicht geweint. Jede Träne ist ein Sieg für den Gegner! Du wirst Rache üben und unser Volk befreien. Erzähl uns, was die Regierung unserem Volk antut!«
San Youn wimmerte leise.
»Unsere Schwäche ist die Stärke der Tatmadaw. Mit jeder vergossenen Träne werden sie stärker und werden noch mehr Dörfer überfallen. Deine Tränen töten dein eigenes Volk! Durch Jammern werden die Toten nicht lebendig. Nur durch eiserne Härte und Entschlossenheit. Willst du den Feind stärken? Oder willst du dein Volk befreien?«
Alle schauten sie erwartungsvoll an. San Youn hatte nicht alles genau verstanden. Sie versuchte, sich zusammenzureißen und sich zu konzentrieren.
»Befreien«, murmelte sie leise.
»Was? Sag es lauter. Ohne Entschlossenheit kannst du gar nichts! Was willst du?«
»Befreien«, sagte San Youn nun lauter.
»Noch mal!«
»Befreien«, presste sie laut heraus und zwang sich, es fest und entschlossen klingen zu lassen.
»Gut«, sagte die Soldatin. »Und nun sag, was mit deinem Dorf ist. Hat die Armee auf euch geschossen?«
»Die Armee hat geschossen.« San Youn musste nun jedes Gefühl zurückdrängen und tief in sich vergraben.
»Haben sie getötet?«
»Sie haben getötet!« San Youn musste die Antwort schreien, sonst hätte sie sie nicht herausgebracht, denn die Worte klammerten sich in ihrer Kehle fest und mussten mit Gewalt hinausgeschleudert werden.
»Wen haben sie getötet?«
»Meinen Bruder und meine Mutter!« Sie biss sich auf die Zunge, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
»Willst du, dass sie aufhören?«
»Ich will, dass sie aufhören!«
»Wer ist dein Anführer?«
San Youn wiederholte das eben Gelernte, ohne viel nachzudenken. Sie hoffte nur, dass es richtig sein würde und sie sich bald wieder zwischen den anderen Kindern verstecken konnte, und dass das alles bald aufhören würde. Sie ließ die Fragen über sich ergehen: »Was ist deine Heimat?« Laut rief sie die Antworten heraus und es tat beinahe gut, zu rufen, zu schreien, auch wenn es Worte waren, die ihre Mutter traurig gemacht hätten.
»Was ist dein Auftrag?«
»Mein Volk zu befreien! Befreien!« San Youn schrie die Antworten hinaus. Ja, sie wollte ihre Mutter befreien, wollte sich befreien, aus dieser Situation, hier vorne zu stehen, wollte sich von den Erinnerungsbildern befreien, die in ihrem Kopf lauerten, von ihrer Angst und Verzweiflung. Und das Schreien half.
Die Soldatin klopfte ihr auf die Schulter. »Sehr gut. Das war wirklich sehr gut.« Sie wandte sich an die Gruppe. »Eure Schwester hat großen Mut, Stärke und Tapferkeit bewiesen. Zum Dank und zur Ehre nehmen wir sie in unsere Gruppe auf.« An San Youn gerichtet befahl sie: »Knie nieder!« San Youn kniete sich hin. »Gehorsam der Gruppe gegenüber in allen Situationen ist unsere größte Stärke und unser größter Schutz. Nur so kannst du überleben und alle andern auch. Ungehorsam bringt den Tod in die Gruppe. Wirst du gehorchen?«
»Ich werde gehorchen.«
Die Soldatin überreichte San Youn ein aus Holz geschnitztes Gewehr. »Dies ist dein erstes Gewehr. Auch wenn es eine Holzwaffe ist: trage es stets am Körper. Lege es nie ab, nicht zum Essen, nicht zum Schlafen. Bald wirst du lernen, eine echte Waffe zu halten und zu benutzen. Zuerst musst du lernen und deinen Gehorsam beweisen.« San Youn sollte sich wieder zu den Kindern setzen. Sie war eine der wenigen mit einem Holzgewehr. Die meisten hatten echte. Dabei waren manche Kinder noch viel kleiner als sie.
Am folgenden Tag befand man sie für kräftig genug und sie sollte am Training teilnehmen. Ein schwerer Sack baumelte an einem Baum. Die Kinder standen in einer Schlange und bekamen nacheinander Befehle. Je nach Befehl liefen sie auf den Sack zu und traten oder schlugen ihn und stellten sich eilig wieder hinten an. In der schwülen Gluthitze des Nachmittags war das Training unerträglich anstrengend. Ein Junge machte das Falsche. Er schlug, anstatt zu treten, denn ihm ging langsam die Kraft aus und der Sack hing ziemlich hoch. Er bekam eine deftige Ohrfeige und musste unzählige Liegestütze machen, bis seine Arme zusammenbrachen. Danach musste er erneut zum Sack, im Sprung treten und sich anschließend bei dem Soldaten bedanken.
San Youn versuchte, die Befehle so gut wie möglich zu verstehen und zu befolgen. Da sie noch recht schwach war, musste sie an diesem Tag nicht das gesamte Training mitmachen. Erst am nächsten Tag, nach einer Nacht, die sie dicht gedrängt auf dem Schlaflager verbracht hatte, begann für San Youn das volle Programm. Während unweit die älteren Kinder und die Erwachsenen Schießübungen machten, wurde für die Jüngeren ein Feuer angezündet. Sie mussten mit ihren Gewehren und lauten Schreien darüber springen, sich gegenseitig mit Schlägen traktieren, um den Körper und den Geist hart zu machen. Sie übten, sich anzuschleichen und sich zu verstecken und wer zu leicht gefunden wurde, bekam einen Schlag mit einer Rute. Es gab Übungen, bei denen einer allein gegen fünf Gegner kämpfen musste. Jeder war mal dran. Die Gruppe schlug mit mäßig starken Schlägen auf das Opfer ein. Das Opfer musste sich wehren, so gut es ging. Mit Händen und Füßen, mit kleinen Stöckchen, die Messer darstellten. Für San Youn, die sich fast noch nie geprügelt hatte und die die anderen Kinder noch nicht kannte, war das schlimm. Als sie sich zusammenkauerte, um den Schlägen möglichst wenig Fläche zu bieten, musste sie feststellen, dass sie nicht aufhörten, und Schläge und Tritte prasselten unentwegt auf sie ein. Der Soldat, der daneben stand, schrie ihr etwas zu. Sie solle aufstehen und kämpfen. San Youn traute sich nicht, die Hände vom Gesicht zu nehmen und ihren Körper aufzurichten und dadurch zu öffnen. Einige Kinder hielten unschlüssig inne. »Weiter«, schrie der Soldat sie an, »sie muss lernen, zu kämpfen. Sonst ist sie eine Gefahr für sich selbst und für uns alle. Weiter! Bis sie aufsteht und kämpft!« Als die Schläge nicht aufhörten, stürzte sich San Youn in voller Verzweiflung nach vorn gegen ein tretendes Bein, packte es und stieß mit ihrer Schulter dagegen. Der Junge fiel. Ein Tritt traf San Youn am Kopf. Als der gefallene Junge aufstehen wollte, stürzte sie sich erneut auf ihn und sie fielen gemeinsam wieder hin. San Youn drehte sich im Fallen so, dass der größere Junge auf sie drauf fiel. Sie packte seinen Kopf von hinten und legte ihren Arm um seinen Hals. Während sie ihn würgte, benutzte sie seinen Körper als Schutzschild gegen die Tritte. Fest griff sie zu, bis der Junge röchelte und kurz darauf still wurde. Der Soldat schrie: »Stopp, aufhören! Das reicht!« Die Kinder sprangen auseinander. »Loslassen!«, brüllte der Soldat und jetzt erst ließ San Youn den Jungen los und kroch unter ihm hervor. Der Mann ohrfeigte den Jungen, der sich nicht mehr bewegte. Nochmal und nochmal, dann schüttelte er ihn. Der Junge öffnete benommen seine Augen. Er brauchte eine Weile, bis er aufstehen konnte. »Na also«, rief der Soldat, »geht doch. Nur musst du bei den Übungen nicht gleich deine Kameraden töten. Lass sie das nächste Mal am Leben und bewahre dein Feuer, bis du dem Feind begegnest. Selbstbeherrschung und Besinnung sind genauso wichtig wie Gehorsam, hörst du?«
Damit waren die Kinder entlassen und das Training beendet. Der Junge, den San Youn besiegt hatte, obwohl er größer war als sie, schaute sie böse an und spuckte auf den Boden. Die Kinder gingen auseinander. San Youn war sich nicht sicher, ob sie sich Respekt verschafft oder den Hass der Kinder zugezogen hatte. Dem Jungen versuchte sie so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Sie fürchtete sich vor seiner Rache.
San Youn fühlte sich schrecklich allein. Die Kinder befreundeten sich kaum untereinander und es gab niemanden, dem sie vertraute. Inständig hoffte sie, hier bald wieder wegzukönnen. Doch wo sollte sie hin? Sie bekam mehr und mehr das Gefühl, dass man hier nicht weglaufen durfte. Man würde sie bestimmt suchen und bestrafen. Das strenge Regelwerk in der Gruppe, die Befehle, das Schweigen, die Uniformen und die Waffen sperrten sie in einen unsichtbaren Kerker und legten ihr unsichtbare Ketten an. Die Angst, bestraft zu werden, fesselte ihren Geist und versiegelte den Kerker.
Nach einem Abendessen beobachtete San Youn, wie ein Mädchen von einem Soldaten einen Befehl zugeflüstert bekam. Sie war ungefähr elf Jahre alt. Das Mädchen hörte sofort auf, den restlichen Reis aus ihrer Schale zu sammeln und bewegte sich nicht mehr. Der Soldat stieß sie an: »Na los.« Er nickte in die Richtung des großen Zeltes. Das Mädchen stellte die Reisschale weg und stand auf. Langsam ging sie auf das Zelt zu. Vor dem Zelt saß der Kommandant der Guerillagruppe und rauchte. Er winkte das Mädchen heran. Sie zauderte, der Kommandant winkte erneut und sagte etwas. Zaghaft trat sie zu ihm. Der Mann legte seinen Arm um ihre Hüfte und hielt ihr die Pfeife an den Mund. Das Mädchen hustete und keuchte und der Anführer lachte leise. Ein Soldat kam zum Zelt, blieb stehen, ließ sich die Pfeife reichen und zog. Den Blick hielt er dabei auf das Mädchen gerichtet. Der Kommandant erhob sich und schob das Mädchen ins Zelt. Der Soldat folgte ihnen.