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San Youn fühlte sich komisch. Sie verstand nicht, was da passierte, obwohl sie eine vage Vermutung hatte. Angst pochte in ihren Ohren. Hier war sie bei den Karen. Das waren doch die guten Soldaten, die so etwas nicht taten. Sie irrte sich sicher und das Mädchen bekam nur etwas Wichtiges gesagt. San Youn wurde angestoßen. Sie musste aufräumen helfen, das Lager ausfegen, ein Pulver um das Lager herum ausstreuen, das Schlangen und Skorpione fernhalten sollte. Das Mädchen ging ihr nicht aus dem Kopf. Es wurde dunkel und die Kinder legten sich auf ihr Lager, Seite an Seite, dicht gedrängt. Das Nachtlied des Waldes begann. San Youn lauschte, ob sie aus dem Zelt etwas hören konnte. Doch da waren nur das Zirpen der Grillen, die leisen Stimmen einiger Soldaten, sonst nichts. Nichts, was sie irgendwie erkennen und verstehen konnte. Bald überwältigte ihre Müdigkeit die würgenden Zweifel und sie schlief ein.
Am nächsten Morgen stand das Mädchen, das San Youn am Vorabend beobachtet hatte, wie jeden Tag mit den Kindern in dem sich langsam hebenden Frühnebel auf. Ihr Gesicht war blass und unbewegt. Vielleicht war alles nur ein schlechter Traum gewesen, belog sich San Youn. Sie erinnerte sich an ihren eigenen schlimmen Traum der letzten Nacht. Ihre Mutter hatte mit Thanaka überall Gewehre an die Wände der Hütte gemalt, dann kamen Maden aus den Wänden. San Youn hatte sich nicht zu weinen getraut, als sie aufgewacht war. Mi Mi hatte gesagt, wenn man Opium rauche, bekäme man Albträume. Auch San Youn war schon einmal eine Pfeife angeboten worden. Sie hatte vorsichtig so getan, als ob sie es inhalierte, aber darauf geachtet, den komisch schmeckenden Rauch nicht in die Lunge zu ziehen. Sie hatte ihn im Mund behalten und dann langsam ausgeblasen. So war es keinem aufgefallen, dass sie nicht echt geraucht hatte. Trotzdem war ihr schwindelig und komisch geworden. Seither war es ihr gelungen, sich an der Pfeife oder den Schlafmohnzigaretten vorbeizudrücken. Genauso machte sie es jetzt auch mit den seltsamen Tabletten, die sie immer heimlich ausspuckte. San Youn hatte Angst, man könne ihren Betrug erkennen. Hier rauchten alle und alle nahmen diese Pillen. Vielleicht waren deshalb die Menschen hier so eigenartig. Sie sagten, dass es gut sei. Es mache sie ruhig und mutig. Es helfe zu schlafen nach der anstrengenden Arbeit und es helfe gegen Angst.
San Youn wollte gern, dass auch ihre Angst aufhörte. Aber Mi Mi wäre dann böse. Sie hatte gesagt, wirklich Erwachsene würden nicht rauchen, weil sie wüssten, dass es ihnen nicht guttue. Denn Erwachsensein bedeute, dass man Verantwortung für das Leben übernähme. Vielleicht käme Mi Mi ja doch zurück und holte sie nach Hause. Vielleicht hatte ihr Geist nur für kurze Zeit ihren Körper verlassen. San Youn hatte furchtbares Heimweh. Das Rauchen würde auch gegen Heimweh helfen, sagte man ihr. Niemand hier hatte mehr Heimweh. San Youn fragte den Elefanten auf ihrer Brust, denn er würde alles sehen, was sie tat, und würde es der Mutter sagen. Vielleicht war der Geist der Mutter selbst da drin, in dem Stein, und beobachtete sie.
Der Elefant sagte, sie solle nicht rauchen. Denn dadurch würde sie ihre Seele verlieren. Auch wenn die Seele jetzt wehtat – ihr Heimweh und ihre Angst zeigten ihr, dass sie noch lebte. Das war eine Antwort, die nur Mi Mi gegeben hätte. Sie musste wirklich in dem Stein sein.
Obwohl die Soldaten Gewehre hatten und schossen, obwohl Mi Mi sagte, das würde die Seele kaputtmachen, hatten die Soldaten Stärke. Je älter sie wurden, desto stärker wurden sie, denn hier war man jemand. Hier war man wichtig und bekam eine Aufgabe. Die Leute hier sagten, dass es ihrem Leben einen Sinn gäbe. Sie wären nicht mehr nur hilflose Opfer. Sie würden das Land befreien und dann wäre endlich Frieden. Mi Mi hätte etwas anderes gesagt. Dass Frieden so nicht geht. Dass Frieden kein Ziel ist, sondern ein Weg. Hier sagte man, dass durch stilles Leiden kein Frieden käme. Sie sagten, dass es nicht friedlicher wäre, nur weil Mi Mi jetzt tot war. Zumindest damit hatten sie Recht. Die Tatmadaw hatten Mi Mi und Aung Ni getötet und vielleicht auch das ganze Dorf. Und sie würden weitermachen. San Youn wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht gab es einen Kompromiss. Oder sie würde abwarten, was noch geschehen würde. Die Zeit würde ihr so manche Antwort geben. Also funktionierte sie einfach, gehorchte, tat, was man ihr sagte und wenn sie bestraft wurde oder gelobt, ließ sie es über sich ergehen. Sie folgte und gehorchte wie ein Zombie. Wenigstens musste sie niemanden töten, noch war ihr Gewehr aus Holz. Auch eine Uniform bekam sie noch nicht, sie trug nur ein graues Hemd und eine braune Hose. Ein bisschen freute sie sich auf die Uniform, denn die machte stark. Dann wäre alles leichter. Sie machte ihre Übungen und tat nur, was man ihr sagte. Wenn sie keinen Befehl bekam, stand oder saß oder lag sie stumm da und wartete.
Nach unzähligen Tagen wurde San Youn einer kleineren Gruppe zugeteilt. Die Gruppe ging in einer Reihe hintereinander durch den Wald. Vorne ein paar Kinder, hinten die Erwachsenen. Ganz vorne tasteten sich mit einem Stock das Mädchen, das in dem Zelt gewesen war, und die Soldatin, die San Youn bei ihrer Ankunft das Essen gegeben hatte, voran. Diese Frau war wie die anderen sehr streng und redete nicht, außer den Sachen, die zu sagen waren. Auch sie ging hin und wieder in das Zelt des Kommandanten. San Youn beneidete das Mädchen, das vorn bei ihr sein durfte. Die Frau war sehr stark und sicher auch sehr klug. Sie könnte San Youn vielleicht zeigen, was sie tun sollte, könnte ihr helfen und sie beschützen. Ihre Haltung war gerade, aber ihre recht großen Augen wichen jedem aus. Manchmal aß sie nicht alles auf, dann gab sie ihr Essen den Kindern. San Youn hatte auch schon einmal was von ihr bekommen. Wann durfte sie endlich auch vorne gehen, damit sie bei dieser Frau sein konnte?
Die Gruppe kam in ein Waldstück, wo die Bäume nicht so dicht standen und es nur wenig Gesträuch gab. Sie bewegten sich leise und vorsichtig voran, hielten die Gewehre bereit, spähten, lauschten. Zwischendurch stoppten sie und erst auf ein Winken des Anführers gingen die Frau und das Mädchen vorne langsam weiter. Bis auf das Zirpen im Wald und das entfernte Rufen einiger Affen war nichts zu hören. Dann ein leises »Klick«. Die Frau blieb abrupt stehen und bewegte sich keinen Millimeter mehr. Nach der ersten Schrecksekunde schmolzen ihre verschlossenen Gesichtszüge. Sie schrie dem kleinen Mädchen vor ihr etwas zu, das erschrocken zur Gruppe zurückrannte.
»Mine! Zurück!«, rief nun auch ihr Anführer laut. Die Gruppe sprang ängstlich zurück, während die Frau vorn zu weinen begann. Sie war auf eine Tretmine getreten. Das klickende Geräusch hatte sie gehört, noch bevor sie den Fuß wieder anhob, um weiterzugehen. Geistesgegenwärtig behielt sie ihren Fuß auf der Mine und verhinderte damit die sofortige Explosion.
Einer der Männer legte das Gewehr auf die Frau an und schaute den Anführer fragend an. Dieser schüttelte den Kopf. »Wir gehen da lang.« Der Soldat, der sein Gewehr immer noch im Anschlag hielt, sagte leise: »Sie wird sowieso …« Der Anführer der kleinen Gruppe überlegte kurz. Er nickte: »Na gut.«
Der Schuss fiel, die Frau brach zusammen und im selben Moment krachte es laut und die Mine explodierte. Der Knall war ohrenbetäubend. Ein Pfeifen hallte noch lange in San Youns Kopf nach. Noch hartnäckiger brannte sich das Bild des zerrissenen Körpers in ihr Gehirn und das Bild, wie die Gruppe einfach weiterging, an der Toten vorbei, sie selbst als erste voran. Denn San Youn war es jetzt, die das Kommando bekam, zusammen mit dem anderen Mädchen vorweg zu gehen und eventuelle Tretminen mit ihren Füßen aufzuspüren oder den ersten Angriffspunkt für Schlangen darzustellen. Denn nun konnte man auf sie am ehesten verzichten. Das war also das Privileg, vorneweg zu gehen.
Sie pirschten weiter, ohne weitere Zwischenfälle. Irgendwann kehrten sie zum Lager zurück, ohne dass San Youn erfuhr, was genau der Ausflug sollte. Von der Frau wurde nicht mehr gesprochen. Noch wochenlang kam der Geist der Toten San Youn in ihren Träumen besuchen. Sie verlangte ihren Körper zurück, verlangte nach ihrem Bein, nach ihrem Fuß. Auch der abgerissene Fuß kam San Youn besuchen. Tagsüber hatte sie immer wieder den Eindruck, überall Füße zu sehen. In Bäumen, unter Büschen, im Feuer.
Mit dem einsetzenden Regen gaben die Geister plötzlich Ruhe. Hoch über dem Wald ballten sich die undurchdringlich wirkenden Wolken zusammen, der Monsun brach mit heftigen Gewittern das windstille Schweigen der Hitze und brachte in Strömen sein lebenspendendes Geschenk. Nun würde es fast jeden Tag regnen. Der Regen rauschte in den Blättern hoch über San Youn. Er begoss die Köpfe und durchtränkte die Kleidung. Der Boden wurde schlammig und rutschig. Blitze zogen durch den Himmel und krachend schlug der Donner in San Youns Seele, gefolgt von tiefem Grollen. Normalerweise war der Beginn der Regenzeit ein Fest im Dorf, denn der Regen brachte neue Lebensgeister, machte das Land fruchtbar. Die Luftfeuchtigkeit stieg noch mehr und nach jedem Regenguss stieg der Nebel dampfend und dicht zwischen den Bäumen empor. Hier wurde kaum darauf geachtet. Es wurden lediglich zusätzliche Zelte gebaut.
Auch San Youn ließ den Regen unbemerkt über ihr Gesicht laufen. Sie bekam kaum noch etwas von dem mit, was sie dort tat und erlebte. Es passierte einfach. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr und fühlte auch sonst nichts mehr, nicht, wenn sie Hunger hatte, nicht, wenn man sie schlug. Es war, als wäre sie gar nicht da, sie bemerkte nicht, dass Tage, vielleicht Wochen vergingen. Ob sie schlief oder wach zwischen den dicht gedrängten Körpern der anderen lag, wusste sie nicht. Ob sie etwas aß oder nicht, wusste sie auch nicht.
An einem Morgen wurde sie einem Versorgungstrupp zugewiesen. Früh am Morgen brachen sie auf und mit San Youn voran marschierten sie mehr als einen halben Tag durch den regennassen, dampfenden Wald, fast ohne Pausen zu machen. Die Luft war jetzt so dunstig, so feucht, dass man die einzelnen Tröpfchen in der Luft zu sehen vermeinte. Sie wanderten auf zugewachsenen Trampelpfaden, die nach und nach zu kleinen Wegen wurden und schließlich zu einem größeren Dorf führten. Im Dorf wartete ein Geländewagen. Sie stiegen ein. Erschöpft schaute San Youn während der Fahrt aus dem Fenster.
Hpa-an war die Hauptstadt des Karen-Staates. San Youn hatte davon gehört, war aber noch nie in einer echten Stadt gewesen. Sie suchte nach den Froschskulpturen, die in den Pagoden stehen mussten und die der Stadt den Namen gaben – Hpa bedeutet Frosch. Vielleicht würden die Frösche sie zu buddhistischen Mönchen führen, die gut waren. Von dort könnte sie dann Europäer suchen gehen, die sie nach England mitnahmen. Die Frösche aber ließen auf sich warten.
In einer Seitenstraße hielten die Soldaten und stiegen aus, begrüßten einen Mann und diskutierten über irgendetwas. Der Mann winkte jemandem, den San Youn nicht sehen konnte. Säcke wurden herangeschleppt und zu San Youn in den Wagen geworfen. Die Soldaten gaben dem Mann Geld. Der Mann schaute durch das Fenster und musterte San Youn. Er fragte die Soldaten etwas, es wurde erneut verhandelt. Der Mann bezahlte etwas von dem Geld zurück und legte dem Soldaten eine Flasche Orangenschnaps in die Hand. Der Mann, der Birmanisch mit einem starken Hpa-an-Dialekt sprach und den San Youn nicht verstand, klopfte an die Scheibe und winkte. San Youn schaute fragend zu den Soldaten herüber. Die winkten ihr bestätigend zu. Sie stieg aus, die Soldaten stiegen ein, grüßten den Mann und fuhren davon.
San Youn erschrak. Sie wollte dem Wagen hinterherlaufen, aber dieser Fremde hielt sie am Arm fest. Sie wollte schreien, aber der Wagen war schon fort. Nun war sie allein mit diesem Mann. So sehr sie vor den Soldaten Angst gehabt hatte, sie waren doch vertrauter als dieser Mann und die Stadt. Sie verstand nicht, warum die Soldaten sie hier zurückgelassen hatten. Warum hatte der Mann sie aus dem Wagen gewunken? Regungslos stand sie da. Sein kantiges Gesicht flößte ihr Respekt ein. Ob es freundlich war oder nicht, vermochte San Youn nicht zu sagen. Der Mann führte sie ins Haus. Sie war noch nicht oft in einem Steinhaus gewesen und auch der Straßenlärm war ihr fremd. Die Gerüche waren hier anders. Im Haus führte der Mann sie in einen Waschraum, bedeutete ihr, sich zu waschen, gab ihr ein einfaches Leinenkleid und verschwand. Hier gab es fließendes Wasser, das aus der Wand kam. Es musste ein sehr reiches Haus sein. Vielleicht bekam sie nun doch Hilfe. Dennoch war es ihr unangenehm, sich jetzt waschen zu sollen. Unbeholfen tat sie es. Nachdem sie sich angezogen hatte, rief der Mann sie heraus, brachte sie in ein Zimmer und schloss von außen die Tür ab. Durch die Tür hörte sie ihn kurz darauf mit jemandem sprechen. Seltsamerweise hörte sie den Gesprächspartner nicht. Vielleicht hatte er so ein Telefonding, mit dem man mit Menschen sprechen konnte, die weit weg sind. Davon hatte San Youn schon gehört und auch schon mal eins gesehen. Alltäglich waren diese Dinge aber nicht für sie.
Es war beklemmend in diesem leeren Raum. Warum sind in diesen Häusern die Türen so dick und stark? Und die Wände und der Boden so kalt und hart? Es gab nur ein kleines Fenster, das mit Gitterstäben versehen und mit einem Papier zugeklebt war, sodass gedämpftes Licht hereinfiel. San Youn fühlte sich eingesperrt und bekam wieder Angst. Sie setzte sich auf den nackten Boden und wartete. Erst nach Stunden kam der Mann wieder, mit einer Schale Reis, einer Fischsoße und einer Flasche Wasser und einem Eimer. Der Eimer schien für die Notdurft zu sein, zumindest machte der Mann solche Andeutungen. Kurz darauf war er wieder weg.
Die Zeit verging quälend langsam. Irgendwann schlich die Nacht heran. San Youn konnte nicht schlafen, es gab keine Grillen, es roch nicht nach Wald. Stattdessen drang von draußen Straßenlärm herein. Der Steinboden war kälter als jedes Holz und jede Bastmatte. Die Stunden krochen zäh dahin. Vielleicht würde sie hier in der Stadt einen Europäer treffen, der ihr sagen konnte, wie sie nach Europa gelangen könnte. Und in Europa würde sie sich dann im Wald eine Hütte bauen und Reis pflanzen. Vielleicht gab es dort keine Soldaten, weil die Soldaten vor ein paar Jahren hierher, nach Birma gegangen waren. Vielleicht war Europa ein friedliches Land. So träumte San Youn vor sich hin, um sich von ihrer Angst abzulenken. Jetzt würde sicher alles gut werden.

Wo bist du? Ich suche dich in meiner Wohnung, in meinem Kopf, in meinem Herzen. Alles, was ich finde, ist Sehnsucht. Ich kenne dich so wenig, so flüchtig. Es war so plötzlich, dass du da warst in meinem Leben, stelltest dort alles auf den Kopf, und genauso plötzlich warst du wieder fort. Ich suche nach deinen Spuren, suche in meiner Küche, auf meiner Haut, in jedem Gesicht, das mir auf der Straße begegnet. Ich will dich auch im Rest der Welt suchen gehen. Wenn ich nur wüsste, wo du bist, wenn ich nur wüsste, ob du noch lebst. Dann könnte ich dich holen kommen. Oder könnte wenigstens um dich trauern. So aber weiß ich nicht, wo ich anfangen kann, dich zu suchen.

Bremen, Deutschland, Januar 2006
Lea warf sich auf ihren Küchenstuhl. Wie konnte sie nur so blöd sein! Einer völlig fremden Frau eine romantische Postkarte schreiben mit fast einer Liebeserklärung, obwohl die Wahrscheinlichkeit groß war, dass sie verheiratet war oder zumindest mit einem Mann zusammenlebte. Womöglich noch mit diesem Bullen. Lea stand auf und holte die Karte aus ihrer Jackentasche. Sie schaute den Elefanten an. Das Bild der Haut dieser Frau kam ihr in den Sinn, ihr Hals, der kleine Anhänger aus Stein auf ihrer Brust. Ihr Duft stieg in Lea auf und umhüllte sie, stärker als bei der realen Begegnung. In der kalten Luft hatte sie ihn kaum bemerkt, hatte nur einen flüchtigen Hauch wahrgenommen. Warm, tief und geheimnisvoll. Wie aus einer Welt, die Lea nicht kannte, die groß war, größer als sie es sich vorstellen konnte. Lea schluckte eine Träne herunter. Es war Spinnerei. Nichts als Spinnerei. Sie riss die Karte in der Mitte durch. Derselbe Riss zog sich mit dem scharfen Geräusch des aufreißenden Papiers durch ihr Herz.
Sie ließ sich wieder auf den Küchenstuhl fallen, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub ihr Gesicht in ihrer Armbeuge. Enttäuschung bedeutet, dass die Täuschung aufhört. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. Es war so eine schöne Täuschung. Lea legte die beiden Postkartenhälften zusammen. Jetzt war der Elefant schief, hatte eine große Narbe im Gesicht. Wieder blickte sie an dem Hals der Frau herab, hörte ihre leise Stimme, sah in ihre unergründlichen dunklen Augen, das Gesicht umrahmt von schwarzen Haaren, die braune Strickjacke, die sie mit den Armen geschlossen hielt. Es wäre besser, wenn Lea ihren Einsatzort wechseln würde. Abstand täte ihr jetzt sicher gut. Doch warum sollte sie ihren Einsatzort, den sie doch so gerne mochte, tauschen? Das war doch albern. Sie betrachtete den kaputten Elefanten. »Wie eine Gazelle in der Nacht«, wiederholte sie ihre eigenen Worte, »Kaum vermutet und schon weg … Schade.«
Lea tauschte ihren Einsatzort nicht. Sie wollte weiterhin jeden Tag Blumen sehen und Stroh und Kühe riechen. Kühe, die gelassen vor sich hin kauten – ohne irgendwelche dummen Briefe zu schreiben. Das besagte Haus zu ignorieren, gelang ihr freilich nicht. Sie hoffte nur, dass sich das bald ändern würde. Die Frau stand wieder am Fenster, kam jetzt regelmäßig zur Tür. Sie nahm die Post persönlich entgegen, sobald sie Lea bemerkte. Sogar Tee hatte sie vorbereitet und brachte eine kleine Tasse an die Tür. Lea fand das rührend und musste all ihre Kraft aufbringen, ihre Emotionen und ihre dummen, kleinen Vorstellungen unter Kontrolle zu halten. Nicht flirten! Keine Komplimente! Nüchternheit, Nüchternheit, Nüchternheit!
Eines Tages schien die Frau wie verändert. Ihr Blick haftete erwartungsvoll an Lea und ihre Hände zitterten. Es waren schöne Hände. Lange Finger, ausgeprägte Knöchel.
»Ist was Besonderes?«
Die Frau senkte nur den Kopf. »Es ist nichts.« Als sie jedoch den Kopf wieder hob, schaute sie Lea mit einem Blick an, der Bände sprach. Lea wusste nur nicht welche.
»Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie heißen«, sagte sie, »aber ich kenne Sie schon lange genug, um zu sehen, dass etwas geschehen ist.«
Für einen Moment schauten sie sich in die Augen. Lea hatte den Eindruck, in einem tiefen Braungrün zu versinken. Dann blickte die Frau sich um, als wolle sie sichergehen, dass niemand sie belauschte oder sah.
»Ich muss noch ein paar Briefe austragen«, sagte Lea. »Ich brauche noch ungefähr eine Stunde. Ich kann noch einmal wiederkommen. Dann hab’ ich mehr Zeit.«
Die Frau schaute auf die Uhr und nickte.
»Ich beeil mich. Bis gleich dann.«
Lea griff nach ihrem Postrad. Sie überschlug sich fast in ihrer Eile. Zwischen den Bauernhöfen trat sie in die Pedale, als sei eine wildgewordene Kuh hinter ihr her. Dabei war die einzige Kuh, die hier unterwegs war, jene komische Kuh auf einem Rad, die noch dazu dumme Nachrichten auf Postkarten schrieb. Die Hunde auf den Höfen bellten, sie waren es nicht gewöhnt, dass Lea so rannte. Das Rad ratterte über die Wege und sie hatte den Eindruck, kaum vorwärts zu kommen. Was würde die Frau ihr gleich erzählen? Leas Herz hämmerte, als hätte sie eine riesige Prüfung vor sich. Als würde gleich der Vorhang aufgehen und sie auf einer unbekannten Bühne stehen und eine ihr bisher noch unbekannte Rolle spielen müssen vor einem Millionenpublikum. Naja, vor zwei Menschen, vor denen sie jetzt gerade nicht scheitern wollte: sie selbst und diese Frau.
Nachdem sie endlich ihre Tour beendet hatte und alles erledigt war, eilte sie aus dem Postgebäude, hinunter zur Ecke, bog ab, überquerte die Straße. Ein Auto bremste gerade noch rechtzeitig, Lea stolperte und fiel, sprang sofort wieder auf. Ein Mann schnauzte sie durch das Seitenfenster an, stieg aus.
»Tschuldigung«, rief Lea gehetzt, »Meine Schuld! Alles in Ordnung, hab ’s furchtbar eilig!« Lea lief wieder los und ließ den schimpfenden Mann zurück. Mist, sie hatte sich die Hand aufgeschürft. Erst als sie kurz vor dem Haus war, wurde sie langsam. Sie wollte erst zu Atem kommen, kontrollierte ihre Hand. Sie blutete ein klein wenig. Schmutz hatte sich in die Haut gesetzt. Die Wunde brannte. Egal. Atmen, ruhig werden, klingeln.
Die Frau öffnete und Lea musste an sich halten, sie nicht zu umarmen. Sie folgte ihr ins Haus, während ihr Blick die Frau betrachtete, ihre zierliche Gestalt, ihren leisen Gang, wie sie wieder mit den Armen ihre Strickjacke um sich geschlungen hielt. Das Wohnzimmer war ein aufgeräumter weißer Raum mit hellem Teppich und den zugezogenen langen Gardinen. Der Tisch war gedeckt und es stand duftender Reis darauf und eine Schale mit köstlich aussehendem Curry. Daneben standen ein Korb mit in Streifen geschnittenem selbstgemachtem Fladenbrot und ein Schälchen mit gewürztem Joghurt. Das Essen roch köstlich orientalisch.
Die Frau bat sie zu Tisch. »Entschuldigung. Nicht Zeit zu kochen.«
Lea staunte nicht schlecht. Da stand eine Königsmahlzeit und die Frau behauptete ernsthaft, sie hätte keine Zeit gehabt, richtig zu kochen. Was würde sie erst an Festtagen zubereiten? Kandierten Elefanten versteckt in selbstgefangenem Dinosaurier-Sauerbraten mit Edelweiß-Pastetenmantel? Lea kam sich plötzlich vor, wie ein dummes, faules Küken. »Sie müssen doch nicht für mich kochen. Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Natürlich gibt es Essen. Wenn Besuch, dann essen.«
Ja, natürlich. Lea selbst hätte einfach einen Kaffee gemacht. Sie schämte sich ein wenig. Vielleicht war diese Person doch eine Liga zu hoch für sie. »Ist ihr Mann nicht da?«, fragte Lea, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden und um endlich Klarheit zu kriegen, welche Rolle der Starrenberg hier spielte.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Fast zwei Stunden. Dann er kommt.«
Die Frau hatte nicht widersprochen, Starrenberg schien also doch ihr Mann zu sein. Lea versuchte sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Darf ich mir die Hände waschen?«
»Sicher, kommen Sie.« Die Frau führte sie eine Treppe hinauf. »Da.« Ihr Blick fiel auf Leas Hand. »Was passiert?!«, rief sie. »Kommen Sie!«
Sie ging mit Lea ins Badezimmer und nahm aus einem Schrank ein dunkles Fläschchen und aus einem anderen einen Waschlappen. Sie spülte das ohnehin saubere Waschbecken aus, ließ heißes Wasser einlaufen und legte eine Seife hinein.
Lea winkte ab. »Nein, nein, das geht schon, das ist nicht schlimm.«
»Muss sauber sein. Sonst krank.«
»Danke, aber das geht schon.«
»Kommen Sie, komm.« Die Frau winkte Lea beharrlich heran und zog sie zum Waschbecken. Mit einem erstaunlich festen Griff umfasste sie Leas Handgelenk. »Tut weh. Nur kurz, bald vorbei. Muss sauber sein.« Sie reinigte mit der Lauge und dem Waschlappen die Wunde. Ja, es tat weh. Die Frau war nicht zimperlich, sondern wusch die Wunde beherzt und zügig aus. Dann spülte sie sie ab und tupfte den scharf brennenden Alkohol mit einem Wattebausch darauf. Alles, was sie dazu sagte, war: »Tut kurz weh.« Lea wollte bei dem plötzlichen Schmerz die Hand zurückziehen, doch der Griff dieser Zierde der Menschheit ließ nicht einmal ein Zucken zu. Von ihrer Schüchternheit war nichts mehr zu spüren.
»Ah, Scheiße!«, schrie Lea auf.
Da lächelte sie die andere auch schon wieder sanftmütig an. »Schon vorbei. Jetzt besser. Nur noch was zum Schutz.«
»Zum Schutz? Einen Elefanten?« Leas Blick fiel auf den steinernen Elefanten auf der Brust der Frau. Sie schluckte, um sich wieder loszureißen.
Die Frau lachte leise. »So stark muss es nicht sein. Reicht Stoff.«
Lea setzte sich auf den Badewannenrand. Die Frau holte einen Mullverband aus dem Schrank und griff nun zart nach Leas Hand. Lea schloss die Augen, um ihr nicht auf die Hände zu starren oder ins Gesicht. Die Frau wickelte ihr behutsam den Verband um die Hand. Als sie fertig war, lag Leas Hand in ihrer Linken und sie legte die rechte Hand darüber. Lea öffnete die Augen und sah auf diese Hände, die ihre hielten. Sie hob ihre gesunde Hand und strich über den Handrücken der Frau. Sie konnte nicht anders. Spürte die zarte Haut, die Knochen darunter. Lea hatte Angst, die Frau könnte die Geste verstören, doch sie hörte nur wieder diese leise, warme Stimme: »Jetzt besser?«