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»Heiliger Strohsack!«, fluchte Horst Sibold und fragte sich: »Muss ich diese Lausbuben eigentlich sehen?« Unwillig schüttelte er seinen Kopf. Er hatte Feierabend. Er schnupperte mit seiner Nase schon den Duft von Saiblingen. Er sah ihr zartrosa Fischfleisch vor sich. Er sah aber auch, wie der eine Bursche um das Auto sprang und nun ein neues Kennzeichen an dem Wagen befestigte.
Der Kriminalhauptkommissar fluchte. Er griff in seine Hosentasche und tippte eine Nummer in sein Handy. Auf dem Display erschien: ›Anrufe werden umgeleitet‹.
Horst Sibold wurde ungeduldig. Unwillig schaute er dem Schauspiel, das die beiden Burschen boten, weiter zu.
Mit der Wiederholungstaste versuchte er erneut, eine Verbindung in das Kommissariat herzustellen. Immer noch war besetzt. Jetzt wählte Sibold die Nummer der Zentrale. Es dauerte verhältnismäßig lange, bis abgenommen wurde. Sibold hätte am liebsten losgepoltert, doch er musste leise sein. Also nannte er nur kurz seinen Namen und gab an, was er gerade sah.
»Ein möglicher Autoschieber juckt uns gerade wenig, Herr Hauptkommissar«, urteilte der diensthabende Telefonist in der Einsatzzentrale am anderen Ende der Leitung, »hier ist die Hölle los, ein Kollege des Zolls wurde gerade angeschossen.«
»Wo?«, fragte Sibold.
»Beim Grenzübergang Bibern.«
»Wie ging das vor sich?«
»Ich habe jetzt keine Zeit, Herr Hauptkommissar«, entschuldigte sich der Telefonist und wollte das Gespräch beenden.
»Glauben Sie, ich?«, stöhnte Sibold. »Glauben Sie, ich habe Zeit? Ich habe dienstfrei! Schicken Sie eine Streife, aber hopp!«
»Kollege! Es gibt hier keine Streife, die ich schicken könnte. Alle Mann sind im Einsatz, wir haben im Moment Wichtigeres zu tun, als einem Autodiebstahl nachzugehen.«
Horst Sibold hörte nur noch ein Klicken. Er schluckte trocken und zwang sich zu innerer Ruhe. Er spähte zu den beiden Burschen hinüber und sah, wie sie jetzt wieder im Wagen saßen und rückwärts auf die Straße stießen.
Schnell schlug er sich die Saiblinge aus dem Kopf und den Kofferraumdeckel zu. Klar, stimmte er der Einsatzentscheidung zu: Versuchter Mord an einem Kollegen, da hatte alles andere hintenanzustehen. Aber er konnte deshalb doch nicht diese zwei Trübspitze einfach laufenlassen. Dazu war er viel zu sehr Polizist, als dass er nicht zumindest erfahren wollte, was da vor sich ging.
Kaum hatte der silberne Daimler sich auf der Landstraße Richtung Singen eingefädelt, setzte sich auch Sibold mit seinem grünen Omega auf die Fährte der beiden. Nur zwei Autos waren zwischen dem Daimler und ihm. Langsam wurde es dunkel, er musste nahe dranbleiben.
*
Sven und Bernd fuhren über Gottmadingen nach Singen. Bernd fummelte an einem Weltempfänger und suchte auf dem UKW-Bereich den Polizeisender.
»Das kannst du lassen, die wissen doch eh nichts«, versuchte Sven seinen Bruder zu beruhigen.
»In der Karre sind wir mit den neuen Nummernschildern vorerst sicher, das sehe ich auch so«, überlegte Bernd laut, »aber wenn der Zollbeamte überlebt, wird er dich identifizieren, das ist dann wohl ein Leichtes für ihn.«
»Blöd, ich weiß, aber ich hatte keine Zeit für einen weiteren Schuss, hinter uns standen schon die Schweizer Bullen. Jetzt lass uns erst mal unseren Schatz in deinem Golf verstauen.«
»Dann fahren wir aber sofort damit zu Opa, du musst erst mal für eine Zeit verschwinden!«, riet Bernd seinem Bruder.
*
Auch Horst Sibold hatte den Polizeifunk eingeschaltet. Allerdings genügte ihm ein Knopfdruck, und er war auf Empfang. Er hörte die Ringfahndungsanweisungen seiner Kollegen und konnte sich schnell ein genaues Bild über den Umfang der Straßensperren machen, die im gesamten Hegau errichtet worden waren. Es mussten auch Kollegen aus Villingen-Schwenningen und Rottweil vor Ort im Einsatz sein, dachte Sibold, denn sie hatten schon fast alle wichtigen Kreuzungsstraßen gesperrt.
Er überlegte kurz, ob er den Daimler vor sich nicht fahren lassen und sich sofort im Kommissariat melden musste, um sich ebenfalls dem großen Fahndungsring anzuschließen. Dann aber verwarf er den Gedanken schnell wieder. Seine Neugier siegte: Welches Geheimnis hatten die zwei Jungs zu verbergen?
*
Sven und Bernd nutzten die Südtangente in Richtung Innenstadt.
Der Kommissar lächelte zufrieden. Wenn sie nicht bald wieder die Tangente verließen, würden sie genau auf eine Sperre seiner Kollegen zurasen, das war ihm nach Sachlage klar. Gerade hatte er noch gegrübelt, wie er die beiden Burschen allein stellen könnte, da schien sich das Problem schon zu lösen.
Entschlossen griff Kommissar Sibold erneut zum Handy. Er telefonierte, während er seinen Wagen steuerte. Diesmal ließ er sich von dem jungen Schnösel in der Leitstelle nicht abweisen. Ruhig und sachlich stellte er klar: »Wir bewegen uns auf die Sperre der Südtangente Richtung Innenstadt zu. Vor mir fährt ein silbergrauer Mercedes mit folgendem Kennzeichen …«
Weiter kam er in seinen Ausführungen nicht. Der Telefonist unterbrach lebhaft: »Silbergrauer Mercedes, sagen Sie? Ist das der Wagen, den Sie bei Randegg sahen, bei dem zwei junge Männer die Kennzeichen tauschten?«
»Ja doch, aber nun lassen Sie mich doch …«
»Vorsicht, Kollege Sibold, es sieht so aus, als würden Sie dem gesuchten Tatfahrzeug folgen. Die beiden Burschen fuhren ebenfalls einen silbergrauen Mercedes.«
Horst Sibold stöhnte. Er dachte an seine Saiblinge und hätte am liebsten auf der Stelle umgedreht. Doch jetzt steckte er mitten im Schlamassel. Er war noch nie während seiner Laufbahn auf Verfolgungsjagden scharf gewesen. Er hatte Angst vor hilflosen Verbrechern, die eine Pistole in der Hand hielten, und noch mehr vor schießwütigen Kollegen.
Doch vor ihm zuckte schon das kalte Blau der Warnlichter der Einsatzfahrzeuge der Polizei durch die Nacht. Sibold wusste, dass die Einfahrtsschleuse zur Straßensperre immer 1.000 Meter vor der Kontrollstelle begann. Die Kollegen mussten sie schon im Auge haben.
*
Sven hatte ebenfalls die Sperre erkannt. »Du Volltrottel!«, zischte er seinem Bruder zu. »Die Bullen suchen uns am Tatort. Versteck dein Volksradio und schnall dich an!« Gleichzeitig holte er wieder seine Pistole aus dem Handschuhfach.
*
Im Wagen hinter den beiden Flüchtenden entsicherte Kommissar Horst Sibold seine Waffe. Er war mit dem Einsatzführer der Straßensperre Südtangente über eine Ringleitung mit der Zentrale verbunden. Der Einsatzleiter hatte schnell entschieden. Alle Autos vor dem Mercedes wurden hektisch ohne Kontrolle durchgewunken. Dann rannten vor dem herannahenden Mercedes schnell einige Beamte über die Fahrbahn. Im Schlepptau zogen sie Kunststoffhürden, ein Nagelbrett und zwei Straßensperren aus Kunststoff, wie sie Bauarbeiter auf Autobahnen verwenden, mit sich. Wie im Schulbuch beschrieben, ordneten sie die Barrieren hintereinander an. Selbst für einen Lastwagen war ein Durchkommen nicht mehr möglich. Daraufhin rannten die Polizisten in Deckung.
Sven hatte die ausweglose Sackgasse schnell erkannt. Es waren vielleicht noch 100 Meter bis zur Kontrollstelle. Er fluchte, trat entschlossen das Gaspedal ganz durch, drückte mit dem linken Fuß die berühmte Daimler-Handbremse bis zum Anschlag und riss gleichzeitig das Lenkrad so herum, dass der schwere Mercedes ausbrach und sich um 180 Grad drehte. In neuer Fahrtrichtung, so dachte Sven, könne er vielleicht ausbrechen.
Doch Horst Sibold stand mit seinem grünen Omega quer hinter ihm. Er hatte ebenfalls schnell reagiert und seinen Wagen so auf die Fahrbahn gestellt, dass es fast aussichtslos war, zwischen den Leitplanken und ihm durchzukommen.
Sibold saß noch im Wagen, er schwitzte. Er sah die Xenonleuchten des Mercedes wie eine Drohung auf sich gerichtet. Reflexartig öffnete er die Fahrertür und ließ sich seitlich aus dem Auto fallen. Zunächst musste der Wagen ihm Schutz bieten, dann robbte er mit seinem Revolver in der Hand von dem Fahrzeug weg, sprang, als er außerhalb des Lichtkegels des Mercedes war, ins Dunkel und verkroch sich hinter der nächsten Leitplanke. Sein Jägerhut blieb auf der Fahrbahn zurück.
Die Autos hinter ihm waren stehen geblieben. Einige Fahrer suchten hektisch einen Fluchtweg und legten die Rückwärtsgänge ein. Sibold grinste. Zwar war die Lage für die unbeteiligten Autofahrer prekär, aber ihre Sperre für den Mercedes war perfekt. Der Weg zurück, an ihm vorbei, wurde durch das Chaos versperrt.
Der schwere Daimler stand mitten auf der Straße: das Heck Richtung Straßensperre, wo die Polizei in circa 50 Metern Entfernung wartete; die Schnauze des Mercedes rund 20 Meter vor Sibolds Omega.
Sibold selbst kauerte unterhalb der Leitplanke im Gras. Er spähte zu den beiden Burschen, wollte gerade näher an den Wagen kriechen, da zischten unvermittelt vier Schüsse durch das Dunkel.
Der Daimler senkte sich mit einem Knall.
Sibold war klar, dass seine Kollegen aus der Deckung der Kontrollstelle die Reifen zerschossen hatten. Bravo, dachte er, alle vier auf einen Streich!
Dann war es still.
Eine Ruhe wie kurz bevor ein Fisch anbeißt, dachte Sibold, verscheuchte diesen Gedanken aber schnell wieder.
Über ein Megafon hörte er jetzt die Stimme seines Chefs: »Werfen Sie die Waffen aus Ihrem Wagen und steigen Sie mit erhobenen Händen aus. Sie haben keine Chance, unsere Scharfschützen haben Sie im Visier!«
Sibold lächelte. Eine bevormundende Anweisung, typisch sein Boss. Gerade hatte er sie zur Weiterbildung ›Psychologische Ansprache während Extremsituationen‹ geschickt. Als erstes Gebot hatten sie gelernt: Treiben Sie nie den Täter in die Enge! Doch sein Chef liebte nun mal Fakten. Und Sibold war klar: Wenn die beiden Burschen nicht schnell der Aufforderung nachkommen würden, dann würde die Androhung zur definitiven Realität werden. Vermutlich hatten die beiden in dem Wagen den Kollegen angeschossen, da lagen die Nerven und auch die Revanchegelüste bei jedem Polizisten blank.
Ein weiterer Einzelschuss hallte durch die angespannte Stille.
Die Heckscheibe des Daimlers barst.
Sibold drückte sein Gesicht ins Gras, es roch widerlich. Vorsichtig hob er seinen Kopf.
Der Wagen stand noch immer unbeweglich da, es tat sich nichts.
Kaum war der Hall verklungen, klinkte sich das Megafon erneut ein, die Stimme des Chefs klang jetzt ungehalten: »Wir zählen bis drei, dann sollten Sie die Türen geöffnet haben!«
Doch bevor irgendjemand mit Zählen beginnen konnte, hallte schon ein weiterer Schuss durch das Dunkel. Dieser aber klang deutlich anders – wie ein dumpfer, lauter Silvesterkracher. Gleichzeitig war es kurz blitzhell in dem Mercedes geworden, dann schien es, als würde dieser brennen. In Sekundenschnelle umhüllten Rauchwolken den Wagen.
Flutlichter gingen fast gleichzeitig wie aus dem Nichts an und setzten den Mercedes in ein gleißendes Licht.
Sibold sah, wie die beiden Türen aufflogen und die beiden jungen Männer hustend und keuchend aus dem Wagen flüchteten. Sie hielten ihre Hände schützend vor ihre Augen und bewegten sich, als wüssten sie nicht, wohin sie liefen.
Sibold sprang über die Leitplanken aus seiner Deckung.
Doch bevor er bei dem Wagen angekommen war, standen auch schon Polizeibeamte mit schusssicheren Westen und mit Maschinenpistolen im Anschlag neben ihm. Sie warfen die jungen Männer zu Boden und fesselten sie mit Plastikbändern an Armen und Beinen.
Der Einsatzleiter kam hinzu, hob Sibolds Jägerhut von der Straße auf und setzte ihm diesen auf den Kopf: »Du hast dir die Krönung heute verdient.«
Svens Waffe sowie Goldbarren, einige Edelsteine und Bargeld im Kofferraum des Mercedes wurden sichergestellt. In der Bilanz des Polizeiberichts stand noch am selben Abend in korrektem Beamtendeutsch: Hoch steuerbare Waren: Gold-/Silbermünzen im Wert von circa drei Millionen Euro; Schmuck im Wert von circa 800.000 Euro; und unter der Rubrik Bargeldaufgriffe war ein Wert von rund zwei Millionen Euro angegeben, aufgeteilt in verschiedene Währungen.
Kapitel 3
Der freie Journalist Leon Dold las die Polizeimeldung an seinem Bildschirm in seinem Büro in Überlingen. Er hatte für Eilmeldungen ein akustisches Signal auf seinem PC installiert. ›Zwei Zöllner nach Schießerei verletzt, einer schwebt in Lebensgefahr‹. Kurz überlegte Leon Dold, ob er mit seiner Kamera losziehen sollte. Doch am Tatort war für ihn, das war klar, nichts mehr zu sehen. Die Polizei lud am Ende der Pressemitteilung zu einer Pressekonferenz ein. Aber was sollte er dort?, fragte er sich. Für die Kollegen der lokalen Medien wie dem Südkurier würde es morgen der aktuelle Aufmacher sein. Zwei verletzte Zöllner, einer in Lebensgefahr, ein Kofferraum voller geschmuggelter Schätze. Das war der Stoff, von dem die Tageszeitungen tagelang leben würden. Aber für ihn, als freier Journalist, brachten solche Storys nicht viel ein. Diese Geschichten übernahmen die festangestellten Mitarbeiter der Medien. Journalisten, die im Tagesablauf der aktuellen Redaktionen integriert und jederzeit einsatzbereit waren. Das war er nicht. Er produzierte meist längere Storys, Features genannt. Er recherchierte intensiv, investigativ und gründlich. Deshalb notierte er sich die Polizeimeldung zunächst nur im Kopf – als Anregung für den eventuellen Einstieg in eine Reportage über den letzten Grenzzaun im Herzen Europas. Die Geschichte hatte er gerade jüngst wieder verschiedenen Sendern vorgeschlagen. Eine Reise entlang des Zauns sollte der rote Faden für eine halbstündige Fernsehreportage sein. Er hatte das Exposé dem Regionalprogramm angeboten sowie dem ZDF. Schließlich sei diese Staatsgrenze zwischen der Schweiz und Deutschland heutzutage, in Zeiten der weltweiten Globalisierung, irgendwie ein Anachronismus, hatte er argumentiert. Die Schweiz, sie war in sämtlichen Gremien der EU vertreten, trotzdem aber nicht ordentliches Mitglied der EU.
Wer von Singen nach Schaffhausen fährt, benötigt noch immer einen Pass, als Deutscher zumindest einen Personalausweis. Ausländer aber brauchen einen Reisepass, schließlich verlassen sie die EU. Dagegen kann längst jeder ungehindert von Singen bis nach Lissabon fahren, ohne sich auch nur einmal auszuweisen. Vor allem amerikanische Touristen staunen über die deutsch-schweizerische Grenze. Sie fragen sich, wo sie denn nun gelandet sind? Von wegen good old Europe.
Die grenzfreie Fahrt von Singen nach Schaffhausen war seit 1548 vorbei. Damals verabschiedeten sich die Eidgenossen aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, und seither sind Singen und Schaffhausen Grenzstädte. Endgültig festgezurrt hat Napoleon diese Grenze, nicht etwa Wilhelm Tell. Dieses Märchen, von dem Schwaben Friedrich Schiller geschrieben, glauben nur die Schweizer selbst. Tatsache ist, dass Napoleon nach französischem Vorbild den Zentralstaat Helvetische Republik schuf und die Grenzen dafür endgültig festlegte, wie sie heute noch gelten. Aus seinen französischen Departements wurden schweizerische Kantone, Schaffhausen war einer von ihnen.
Leon überlegte, wie er den Themenvorschlag aktualisieren könnte. Keine Redaktion, der er die Geschichte bisher angeboten hatte, schien sich dafür zu interessieren. Mit einer lässigen Handbewegung verscheuchte er die miesen Gedanken und schloss das aktuelle Nachrichtenfenster auf dem Bildschirm seines PCs.
Er hatte anderes zu tun, er musste sich jetzt konzentrieren: ›Es werden festgesetzt, Sonderausgabenpauschbeträge, abziehbare Sonderausgaben …‹ Leon stöhnte. Doch einmal im Jahr musste er in diesen sauren Apfel beißen. Er saß in seinem Büro, in einer Überlinger Altstadtvilla, über der Einkommensteuer: Tankquittungen, Übernachtungsbelege, Parkhausquittungen galt es zu sortieren. Es war schon November, und das seit elf Monaten vergangene Vorjahr war von ihm noch immer nicht steuerrechtlich aufgearbeitet worden.
Er tippte in seine Fahrtentabelle: Überlingen–Zürich, 108 Kilometer. Er schrieb dazu: Recherche wegen Titelhandels, das war für eine Dokumentation der ARD, die er im vergangenen Jahr abgedreht hatte. Dabei fiel ihm ein, dass er damals in einer stinkvornehmen Zürcher Bank einen alten südafrikanischen Krügerrand verkauft hatte. Den Krügerrand hatte er von seinem Opa geerbt. Doch Leon brauchte immer eher Geld als Geldwertereserven. In Zürich hatte er den Krügerrand in einer Bank umgetauscht, weil er dort für ihn mehr Geld bekommen hatte als in Deutschland.
Gold hatte in der Schweiz einen höheren Kurs. Jeder Schweizer sollte Gold als Geldanlage besitzen, rieten die Schweizer Banken ihren Kunden. 20 Prozent der Ersparnisse sollten in Gold angelegt sein, empfahl eine Bankenstatistik der Schweizer Kredithäuser.
Leon erinnerte sich an das Geld, das ihm der Krügerrand eingebracht hatte. Es waren rund 300 Euro. Die Frage, ob er dieses Geld als Einnahme des vergangenen Jahres in seiner Steuererklärung nun angeben müsste, stellte er sich lieber nicht. Dafür fragte er sich jetzt, ob er damals geschmuggelt hatte. Er hatte das Gold aus Deutschland in die Schweiz ausgeführt. Plötzlich wurde er unruhig. Nicht wegen der 300 Euro, die waren längst wieder im Umlauf. Aber er hatte Gold ausgeführt in die Schweiz, weil er wusste, dass dessen Wert in der Schweiz höher notiert war. Und in der Pressemeldung der Polizei war von zwei jungen Männern berichtet worden, die Gold aus der Schweiz nach Deutschland hatten schmuggeln wollen. Und das im Wert von drei Millionen Euro. Eine Summe, die sich in der Schweiz umzutauschen proportional um ein Vielfaches mehr lohnen würde als sein läppischer Krügerrand!
Plötzlich erkannte er das Rätsel: Warum wollten die beiden jungen Männer so viel Gold aus der Schweiz schmuggeln, wo doch der Wert für Gold in der Schweiz höher lag?
Leon schob die Steuerunterlagen von seinem Tisch, griff nach einem Telefonbuch und rief einen Freund bei der Überlinger Volksbank an. Dieser bestätigte ihm, dass der Kurs von Gold an der Zürcher Börse immer höher notiert sei als in Frankfurt bzw. in der EU. »Nur ihr Fränkli haben wir geschlagen«, lachte er hämisch, »für unseren Euro müssen die Chaibe jetzt das Eineinhalbfache hinblättern.«
»Dafür bekommen sie die bessere Schokolade«, brummte Leon und legte schnell wieder auf, bevor sein Bankkumpel ihn noch an seinen, bis auf den letzten Cent ausgenutzten, Überziehungskredit erinnern konnte.
Aber damit war Leon wieder bei seinem eigentlichen Thema gelandet: die Steuererklärung des längst vergangenen Jahres. Wenn er endlich die zwölf Monate aufgearbeitet hätte, würde er sicherlich Geld vom Finanzamt zurückerstattet bekommen. Trotzdem wählte er die Telefonnummer des Zolls in Singen und ließ sich mit der dortigen Pressestelle verbinden.
Ein freundlicher, aber wortkarger Herr wollte ihn zunächst abwimmeln: »Wir haben zu diesem Fall in einer Stunde eine Pressekonferenz angesetzt. Da wird Sie unser Chef persönlich informieren.«
»Kann er uns auch schon etwas zu dem Motiv sagen?«, fragte Leon schnell, noch bevor der Pressesprecher wieder auflegen konnte.
Der Mann lachte: »Geld, was denn sonst? Immer das Gleiche, wir haben es hier nur mit Kapitalverbrechen im wahrsten Sinne des Wortes zu tun.«
»Und warum wollten die beiden Gold und Geld aus der Schweiz nach Deutschland schmuggeln?«
»Geldwäsche, was denn sonst?«, lag für den Polizeibeamten der Fall klar auf der Hand.
»Geldwäsche, verstehe ich schon«, blieb Leon unerbittlich, »aber geht da die Richtung nicht immer von Deutschland aus in die Schweiz? Warum also nun umgekehrt?«
Der Pressesprecher schwieg. Er schien zu überlegen. Dann gab er zu: »Eine gute Frage. Kommen Sie doch zur Pressekonferenz, dann können Sie ja unseren Chef direkt ansprechen.«
Entmutigt legte er auf und widmete sich wieder seinem ursprünglichen Vorsatz. Er musste diese verdammte Steuererklärung zu Ende bringen. Er suchte den Übernachtungsbeleg für sich und sein Kamerateam in Zürich. Er hatte, wie immer, alles in einer Schublade abgelegt. Und wie jedes Jahr musste er nun für die Steuer alle Belege, Rechnungen und Quittungen wieder zu einer Einheit zusammenfügen, um sie danach wieder getrennt nach Ausgabearten in einem Ordner abzuheften.
›Nächstes Jahr wird alles besser organisiert‹, schwor er sich jedes Jahr zornig. Frustriert fuhr er den Computer herunter, löschte das Bürolicht, schnappte sich entschlossen seinen grünen Parka vom Kleiderhaken im Flur und stieg in seinen alten 911er-Porsche.
*
Leon Dold fuhr von Überlingen in Richtung Ludwigshafen, er bediente, während der Porschemotor betulich schnurrte, sein Autoradio. Er suchte den Seefunk. Vielleicht wussten sie schon mehr zu der Schießerei am Zoll und der anschließenden spektakulären Festnahme. Doch der Sender nudelte, wie jeden Tag, Oldies der 70er ab.
Leon wurde nervös. Die ängstlichen Nebelkriecher vor ihm nervten. Bei den miesen Sichtverhältnissen konnte er aber auch nicht überholen. Deshalb fuhr er bei Stockach auf die Autobahn. Er fädelte sich schnell auf die linke Fahrbahn ein und konnte endlich Gas geben. Zwar hatte er noch Zeit bis zum Beginn der Pressekonferenz in Singen, trotzdem wollte er früher vor Ort sein. Die wirklichen Infos gab es immer vor und nach den Pressekonferenzen in kleinen Zirkeln. Was öffentlich vorgetragen wurde, das stand in der Regel nicht nur in den Pressemappen, sondern meist auch schon in den verschiedenen Meldungen der Kollegen.
*
Vor dem Hauptzollamt Singen, in der Bahnhofstraße, war großer Bahnhof angesagt. Der Eingang war mit Flutlichtern verschiedener Fernsehstationen hell erleuchtet. Aus Stuttgart waren Kollegen des SWR, der aktuellen Landesschau, angereist, verschiedene Privatsender hatten ihre Übertragungswagen direkt vor den Eingang gestellt. Fernsehkabel führten aus den kleinen Transportfahrzeugen der TV-Sender direkt in das große Besprechungszimmer des Zollamtes.
Drinnen rüsteten Zoll- und Polizeibeamte zur großen Pressekonferenz. Auch einige Beamte aus der Schweiz waren anwesend.
Die Kameras der Fernsehsender waren positioniert. Einige Kollegen sendeten sogar live, weil ihre Nachrichtensendungen bereits begonnen hatten. Sie wussten allerdings nicht viel mehr zu sagen, als den ganzen Abend über schon in jeder Meldung zu hören gewesen war, trotzdem redeten sie unablässig.
Leon grinste, als er im Vorübergehen belauschte, wie ein Kollege eines deutschen Privatsenders einem Schweizer Zöllner eine Sprachlektion verpassen wollte: »Bitte verstehen Sie, wir senden nicht nur in Süddeutschland, man muss Sie auch in Hamburg und Berlin verstehen.« – »Säg nüüt. I verschtand di scho«, antwortete der Schweizer entrüstet und grinste entschlossen in die Kamera.
Leon suchte nach ihm bekannten Gesichtern. Er hatte bisher wenig mit der Polizei in Singen zu tun gehabt. Er selbst war erst vor einem halben Jahr an den See gezogen. Der Liebe wegen, wie er jedem versicherte. Für ihn war es auch die Liebe zum See, für seine Freundin Lena Rößler in erster Linie die Liebe zu ihr.
Leonhart Dold lachte verunsichert, wenn der Widerspruch zur Sprache kam. Er hatte sich gerade auf seine Gradlinigkeit immer etwas eingebildet. Als gebürtiger Schwarzwälder, und dann noch Leonhart mit einem harten t, damit war er doch dazu geboren, deutlich und kompromisslos seine Meinung zu sagen. Aber in Sachen Liebe, musste er zugeben, eierte er schon sein ganzes Leben lang weich herum. Trotzdem hielt er sich zugute: Er war von Stuttgart weg zu Lena an den Bodensee gezogen, das war doch eindeutig!
Und Lena? Lena Rößler studierte an der Uni in Konstanz. Er hatte sie kennengelernt und sich Knall auf Fall in sie verliebt, als er am Bodensee für eine Fernsehdokumentation drehte. Daraufhin wollte er nicht mehr weg von ihr, oder eben vom See? Getrennt hatte er sich diese Frage noch nie beantwortet. Er hätte jedenfalls nach dieser heftigen Liebesattacke in Stuttgart nicht mehr einfach so weitermachen können wie bisher. Er war nun mal verknallt über beide Ohren. Lena war klug und äußerst attraktiv. Eine Kombination, die es in Leons Augen bei Frauen nicht allzu oft gab. Sie hatte von Anfang an immer klar und deutlich gesagt, was sie wollte bzw. was nicht. Das hatte ihm imponiert. Und als seine Dreharbeiten am See beendet waren, machte sie ihn mit ihrer Tante Helma bekannt. Sie hatte eine kleine Wohnung in ihrer alten Villa mit Seeblick leer stehen. Da konnte er nicht widerstehen.
Doch an Terminen wie heute verfluchte er diese Liebe, gleichgültig, ob sie nun in erster Linie Lena oder dem See galt. Denn in Stuttgart hatte er ein enges Netzwerk aufgebaut. Dort hätte er längst einen Polizisten intern anzapfen können. Öffentliche Pressekonferenzen taugten für Insidernews wenig. Jetzt stand er hier in einem großen Pressepulk und doch irgendwie allein.





