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In der Mittagspause nahm sie das Blatt und las den ganzen Artikel durch.
»Am Mittwoch wurde eine fünfundzwanzigjährige Tote in ihrer Wohnung in Saarbrücken, Preußenstraße, gefunden. Die Nachbarn wurden durch den bestialischen Geruch aufmerksam.
Im Verdacht steht ein junger Mann, der der jungen Frau ständig nachstellte – aber auf Ablehnung stieß. Nach Aussagen der Nachbarn ließ das Opfer den Besucher nicht in ihre Wohnung, sondern stritt sich mit ihm lautstark im Treppenhaus. Die Polizei schließt auf eine Tötung im Affekt.«
Der Bericht erschütterte Trixi. Das war ihre Geschichte. Das sollte doch für die Polizei eine Warnung sein, aufdringliche Besucher genauer unter die Lupe zu nehmen. Den Rest des Tages verbrachte sie wie in Trance. Sollte sie froh darüber sein, dass dieser Bericht in der Zeitung stand, weil sie dadurch vielleicht glaubwürdiger werden könnte? Oder sollte sie vorsichtiger sein, weil sie darin lesen konnte, wie weit die Verfolger gingen?
Den Kopf voller zermürbender Gedanken radelte sie in der Dunkelheit nach Hause. Sie musste sich unbedingt ablenken. Das würde ihr am besten gelingen, wenn sie Haus und Zimmer weihnachtlich schmückte.
In ihrem Haus brannte Licht.
Vergessen war der gute Vorsatz.
Erschrocken blieb sie vor der alten Brücke stehen und schaute auf das hell erleuchtete Fenster. Sie war ganz sicher, am Morgen alle Lichter ausgeschaltet zu haben. Was sollte sie tun? Wenn sie das Haus betrat, und Roland dort schon auf sie wartete, wäre sie ihm hilflos ausgeliefert.
Voller Angst drehte sie sich um und hetzte zielstrebig zur Polizeidienststelle in der Saarbrücker Straße.
Ein junger Polizeibeamter hatte Dienst. Als sie ihm außer Atem berichtete, in welchem Zustand sie ihr Haus vorgefunden hatte, zögerte er. Trixi schaute ihn eindringlich an, doch er erwiderte den Blick, ohne einen Kommentar abzugeben.
»Haben Sie heute schon die Saarbrücker Zeitung gelesen?«
»Nein. Warum?«
»Da gibt es einen Artikel über eine Frau, die von ihrem Verfolger getötet wurde. Das könnte mir auch passieren, wenn Sie nichts unternehmen.«
Daraufhin las er aufmerksam den besagten Bericht auf der Titelseite. Währenddessen schaute er sie immer wieder an.
»Sie glauben also, dass Sie ein Stalking-Opfer sind?«
»Genau das«, antwortete Trixi aufgeregt. Der Polizeibeamte sprach genau das aus, was sie empfand.
Sie fuhren mit einem Dienstfahrzeug in den Grumbachtalweg. An der alten Brücke musste er das Auto abstellen. Zu Fuß legten sie das letzte Stück zurück.
Das Haus lag in völliger Dunkelheit.
»Eben hat noch Licht gebrannt.« Trixi war verzweifelt.
Der Polizist ging mit ihr hinein. Alles war dunkel und still. Er durchsuchte jedes Zimmer, um sich davon zu überzeugen, dass dort niemand lauerte. Vor der Tür, die zum Treppenhaus führte, blieb er erstaunt stehen und schaute Trixi fragend an.
»Wo führt diese Tür hin?«
»Zur Treppe nach oben.«
»Haben Sie dort immer abgeschlossen?«
»Ja!«
»Warum?«
»Ich benutze die oberen Etagen nicht mehr, seit meine Eltern tot sind.«
»Ich möchte mir gern die oberen Zimmer ansehen. Wenn sich wirklich jemand unbemerkt im Haus aufhält, hätte er ein leichtes Spiel.«
Sie eilte in die Küche, zog mehrere Schubladen auf, bis sie den passenden Schlüssel fand. Als sie sich umdrehte, stand der Polizist dicht hinter ihr. Aber ihr erster Eindruck, dass er sich ihr nähern wollte, wurde mit seiner nächsten Frage zunichte gemacht: »War der Schlüssel schon immer in dieser Schublade?«
Trixi war unsicher. Sie hatte den Schlüssel in einer der oberen Schubladen vermutet, könnte sich aber auch irren. Sie las den Namen auf der Uniform des Polizisten:
H. Hollmann, Polizeihauptmeister.
»Ich weiß es nicht«, meinte sie dann.
»Dann kommen wir nicht umhin, die obere Etage zu überprüfen.«
Er sperrte die Tür auf und schaltete das Licht an. Langsam stieg er nach oben, gefolgt von Trixi, die sich immer unbehaglicher fühlte. Der Polizist durchsuchte jedes Zimmer – ohne Ergebnis. Wieder im Erdgeschoss wollte er auch den Keller sehen. Trixi nickte mutlos, weil sie inzwischen die Hoffnung aufgegeben hatte, dass es irgendwo im Haus eine Spur des Eindringlings geben würde. Dieser Kerl war einfach zu geschickt.
Die Kellerräume waren feucht und dunkel. Die Glühbirne an der Decke spendete nur wenig Licht. Hollmann schaltete zusätzlich seine Taschenlampe an, um etwas erkennen zu können. Die Rückseite des Hauses war direkt an den Berg angebaut. Dadurch zog Feuchtigkeit in die Wände. Hässliche Ränder zeichneten sich vom grauen Putz ab.
Spuren eines Einbrechers fand er nicht.
Wieder im Hausflur standen sie sich schweigend gegenüber, bis sein Blick auf die Tür zur Abstellkammer fiel.
»Was befindet sich dort?«
»Meine Abstellkammer. Ziemlich überfüllt.«
Trotzdem warf er einen Blick hinein, wobei er das bestätigt fand, was Trixi geschildert hatte.
Für den Polizisten gab es nichts mehr zu tun. Es fiel Trixi schwer, ihn gehen zu lassen. Seine Anwesenheit gab ihr das Gefühl von Sicherheit, genau das, was sie brauchte. Aber sein Blick verriet Zweifel an ihrer Geschichte.
Wie ein Hüne stand er vor ihr, seine grünen Augen schauten auf sie hinab, sein rötlichblondes Haar war zu einem Bürstenschnitt gestutzt. Er war ein attraktiver Mann.
»Haben Sie einen Computer?« Mit dieser Frage holte er sie in die Gegenwart zurück.
»Ja, im Wohnzimmer.«
»Dann haben Sie sicherlich auch eine E-Mail-Adresse?«
»Ja, aber ich benutze den Rechner selten.«
»Sollte es sich wirklich um einen Verfolger handeln, der es auf Sie abgesehen hat – so wie Sie die Sachlage schildern – besteht die Möglichkeit, dass er auch diese Technologie nutzt, um mit Ihnen in Kontakt zu treten. Oftmals geschieht das durch beleidigende E-Mails. Schauen Sie bitte nach, ob in letzter Zeit eine Nachricht bei Ihnen eingegangen ist?«
Trixi war erleichtert. Damit bewies er ihr einerseits, dass er ihre Situation trotz der fehlenden Spuren ernst nahm. Andererseits legte er es nicht darauf an, so schnell wie möglich zu verschwinden. Hoffnung keimte in ihr auf.
Sie sagte ihm, wo der Computer stand. Während er vor ihr herging, ließ sie ihren Blick über seine Statur wandern. Seine enganliegende Uniform betonte seine breiten Schultern und seine sportliche Figur. Er hielt sich gerade, seine Bewegungen waren zackig, fast militärisch.
Wie konnte sie ihn dazu bringen zu bleiben?
Sie fuhr den Rechner hoch und checkte den Posteingang durch. Nichts.
»Ein seltsamer Verehrer«, meinte Hollmann. »Solange er nichts hinterlässt, womit sich seine Aktivitäten nachweisen lassen, können wir nichts tun. Ein eigener Straftatbestand zum Schutz gegen Stalking besteht in Deutschland noch nicht. Zwar erfüllen viele Handlungen von Stalkern Kriterien wie Hausfriedensbruch, Körperverletzung oder sexuelle Nötigung, ein eigenständiger Tatbestand ist hingegen nicht Gegenstand des deutschen Strafrechts.«
»Was heißt das?«
»Es wird uns nicht gelingen, die Staatsanwaltschaft von strafbaren Handlungen zu überzeugen, wenn wir keine Fakten liefern.«
»Also sind Sie hier fertig?«
»Ich werde Ihre Anzeige auf jeden Fall weiterleiten.«
»Wie wär’s mit Personenschutz?«
»Wie bitte?«
Erstaunt drehte Hollmann sich zu ihr um.
»Sie beschützen mich, bis der Stalker gefasst ist.«
»Ideen haben Sie! Vermutlich sind Sie übernächtigt. Da ist es nicht auszuschließen, dass die Fantasie mit Ihnen durchgeht. Schlafen Sie sich mal aus, dann sieht die Welt wieder anders aus.«
Vorbei die Vorstellung von einem aufregenden Stelldichein mit ihrem Beschützer.
Wortlos ließ sie ihn gehen.
Als sie wieder allein war, ließ sich Trixi resigniert aufs Sofa fallen. Die Stille wirkte beunruhigend auf sie. Was war nur aus ihrem Leben geworden? Als ihre Eltern noch lebten, war sie von dem Wunsch getrieben, alles zu tun, wonach ihr der Sinn stand. Nun hatte sie die idealen Voraussetzungen, jetzt liefen ihr die Männer davon oder spielten Poltergeist mit ihr. Zuerst Bruno Dold und jetzt Roland Berkes. Lastete ein Fluch auf ihr? Über diesen entmutigenden Gedanken schlief sie nach einer Weile ein. Sie wälzte sich hin und her, Träume vermischten sich mit schrecklichen Fantasien.
Plötzlich schreckte sie durch Klappern und Quietschen auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Lärm kam nicht von der Tür, sondern vom Wohnzimmerfenster. Sie löschte die kleine Stehlampe, die neben dem Sofa stand und schaute zum Fenster. Tatsächlich sah sie dort die Silhouette eines Mannes. Wie konnte das sein?
Sie ließ den Fensterschutz mit Schwung heruntersausen. Diese Prozedur wiederholte sie an jedem anderen Fenster. Hatte sie schlecht geträumt? Wie sollte ein Mann bis zu dieser Höhe gelangen. Das musste ein Hirngespinst gewesen sein.
Müde legte sie sich ins Bett, lag aber den Rest der Nacht wach.
*
Täglich freute sich Trixi mehr auf die Mittagspausen. In der angrenzenden Kammer konnte sie bei einer Tasse Kaffee mit ihrer Freundin Käthe plaudern und die Welt um sich herum vergessen. Sie genoss es, mit Käthe zu lachen und Pläne zu schmieden, von denen beide wussten, dass sie sie niemals umsetzen würden. In dieser Zeit herrschte angenehme Stille im Salon, die sie sich nicht gerne nehmen ließen.
Und ausgerechnet zur Mittagszeit klopfte an diesem Tag ein Kunde an die Tür. Trixi erhob sich nur unter Protest und schwor sich, es demjenigen zu sagen. Doch der junge Mann, den sie zu sehen bekam kaum, dass sie die Tür geöffnet hatte, ließ sie ihren Ärger vergessen.
»Was darf es sein?«, fragte sie honigsüß.
Er lachte mit perfekten, weißen Zähnen und antwortete: »Meine Haare sind zu lang. Können Sie etwas dagegen tun.«
»Klar«, antwortete Trixi. Sie bot ihm einen Stuhl an und begann mit flinken Händen zu schneiden. Der junge Mann ließ sie dabei nicht aus den Augen.
»Haben Sie kein Vertrauen?«, fragte Trixi deshalb neckend.
»Oh doch«, versicherte er. »Ich schaue Sie einfach nur gern an.«
Diese Antwort brachte sie ein wenig aus dem Konzept, aber sie riss sich zusammen.
»Das ging aber schnell«, bemerkte er hinterher.
Leider, dachte Trixi und machte die Rechnung fertig.
»Ich werde mir Ihren Salon merken.«
»Wie soll ich das verstehen? Positiv oder negativ?«
»Positiv natürlich.«
»Dann möchte ich gern Ihren Namen notieren«, reagierte Trixi prompt. »Ich lege eine Kundenkarteikarte für Sie an.«
»Ob das eine gute Idee ist? Mein Name klingt nicht gut.«
»Meiner auch nicht. Ich heiße Trixi, hört sich albern an.«
»Nein, das klingt schön. Ich heiße Fritz.«
»Ist doch ein interessanter Name. Da kann sich alles Mögliche dahinter verbergen.«
»Sie haben viel Fantasie, wenn Ihnen dazu etwas einfällt.«
»Wie heißen Sie noch?«
»Lörsch«, gab er an und ging grüßend davon.
Käthe kam aus dem Kämmerchen und lachte: »Mann oh Mann, du kennst wirklich alle Tricks. Welche Kundenkartei soll das denn sein?«
*
Der Tag verflog. Die Menschen unterbrachen ihre Einkäufe im Salon, wärmten sich unter den Trockenhauben auf, bevor sie sich wieder hinaus in die Kälte und die Hektik begaben. Trixi sah in diesen Tagen zum ersten Mal einen Vorteil darin, an Weihnachten allein zu sein. Sie musste sich nicht in das Gewühl der Einkaufshäuser stürzen, denn sie hatte niemanden zu beschenken.
Nach Feierabend sperrte sie den Salon ab und merkte erst jetzt, dass Roland Berkes an diesem Tag nicht gekommen war. Aber leider sollte ihre gute Laune ein schnelles Ende finden. Neben ihrer Haustür hing ein großer Nikolaus, eine Dekoration, wie sie sie an vielen Häusern in der Stadt gesehen hatte. Normalerweise gefiel ihr dieses weihnachtliche Beiwerk. Allerdings nicht, wenn es ohne ihre Zustimmung angebracht wurde. Es gab keinen Zweifel, wem sie das zu verdanken hatte.
Es war ein schöner Nikolaus, der von einer Lichterkette angeleuchtet wurde. Eine Weile überlegte Trixi, was sie tun sollte. Die Figur machte sich gut an ihrem Haus, was ihre Wut über die Unverfrorenheit dämpfte. Gegen jede Vernunft beschloss sie, alles so zu lassen wie es war, und ging hinein. Als das Telefon klingelte, hob sie nicht ab. Sie ahnte, was Roland Berkes wissen wollte. Da sie nicht die geringste Lust verspürte, ihm das Gefühl zu geben, er hätte ihr einen Gefallen getan, ließ sie es einfach klingeln.
So begann der nächste Arbeitstag mit Roland Berkes als erstem Besucher.
»Ich habe mehrmals versucht, dich anzurufen. Ich dachte schon, es sei etwas passiert.«
»Was soll schon passieren?« Trixi versuchte, ihn mit Unfreundlichkeit abzuwimmeln, was ihr jedoch nicht gelingen wollte.
»Wie gefällt dir der Weihnachtsschmuck an deiner Tür?«, fragte er mit einem strahlenden Lachen, als sei er der Weihnachtsmann höchstpersönlich.
Trixi überlegte sich die Antwort gut. Ein Lob könnte ihn ermuntern weiterzumachen – das Allerletzte, was sie wollte. Deshalb war ihr Ton schärfer als beabsichtigt. »Hast du nichts Besseres zu tun, als fremde Häuser zu schmücken?«
Wie ein begossener Pudel stand Roland vor Trixi, schaute sie eine Weile an, bis er sich umdrehte und wortlos verschwand.
So betroffen hatte sie ihn noch nicht gesehen. Wie ein begossener Pudel wirkte er plötzlich auf sie. Aber Zeit, darüber nachzudenken, blieb ihr nicht, denn die Arbeit wartete. Fast alle Stühle im Salon waren besetzt.
Bei ihrer Rückkehr am Abend war der Nikolaus verschwunden. Ihre Reaktion war wohl doch zu heftig ausgefallen. Obwohl Trixi Rolands Liebeswerben nicht nur verabscheute, sondern sogar fürchtete, war sie enttäuscht. Obwohl … welche Gedanken hegte sie da? Die Dekoration war eine Grenzverletzung von einem Mann, den sie nicht mochte und der das nicht einsehen wollte. Also musste sie sich selbst am Riemen reißen und diese Tatsache als Triumpf betrachten.
Vielleicht hatte sie endlich erreicht, was sie wollte: Roland Berkes gab auf.
Doch leider war der Wunsch der Vater des Gedankens. Nur wenige Tage später ging der Spuk weiter. Trixi kam von der Arbeit nach Hause, müde, erschöpft, keine Spur von Weihnachtsstimmung. Kaum hatte sie das Haus betreten, spürte sie, dass dort etwas anders war. Gänsehaut kroch in ihr hoch, sie bekam Angst. Leise schlich sie durch den schmalen Flur bis zur Wohnzimmertür. Alles war still. Erst als sie im Zimmer stand, erkannte sie, was anders war: Tannenduft stieg ihr in die Nase. Neugierig geworden schaltete sie das Licht ein. Anstelle der Deckenlampe leuchtete im Erker ein Tannenbaum in den schönsten Farben auf. Gleichzeitig ertönte das Lied: Ich find dich scheiße von Tic Tac Toe.
Trixi wich erschrocken zurück.
Bestürzt beäugte sie die vielen, kleinen Figuren, in den Zweigen. Nichts daran war anstößig, nichts, was nicht an einen Weihnachtsbaum gehörte. Auch kein Hinweis, kein Brief, keine Botschaft.
Sie nahm die CD aus der Musikanlage und warf sie weg. Dabei fiel ihr nur eine Erklärung ein: Roland Berkes war ein Psychopath – eine gespaltene Persönlichkeit. Die eine Hälfte wusste nicht, was die andere tat. Während seine gute Seite den Baum schmückte, legte die schlechte Seite dieses scheußliche Lied auf.
Eine Weile betrachtete sie den Tannenbaum, der mit einer Präzision geschmückt worden war, die große Geduld erforderte. Ihm war nichts zu viel gewesen.
Was tun?
Wenn sie alles so ließ, kam auch das einem Einverständnis gleich. Das Gespräch mit dem Polizisten fiel ihr wieder ein. Das war so ergebnislos verlaufen, als gäbe es keinen Grund, ihre Situation als gefährlich einzustufen. Und wenn sie ehrlich zu selbst war, riskierte sie ihre Glaubwürdigkeit endgültig, wenn sie den Baum einfach stehen ließ? Aber sollte sie jetzt, nach einem arbeitsreichen Tag einen großen, mit bunten Kugeln, elektrischen Lichtern und glitzernden Sternen überhäuften Baum entsorgen? Und wo und wie? Dazu hatte sie nicht die geringste Lust. Weihnachten war nicht mehr weit. Auch wenn die Herkunft des Baumes zweifelhaft war; seine Wirkung verfehlte er nicht.
sollte er stehen bleiben.
In der Nacht regnete es. Die Temperaturen sanken bis unter null Grad, der Regen fror zu Glatteis. An Schlafen war nicht zu denken. Die Selbstzweifel, dass sie gerade einen entscheidenden Fehler machte, hielten Trixi wach. Sie fühlte sich mit dieser Situation überfordert. War es das Alleinsein, das ihre Motivation lähmte? Oder waren es die Gesten, die Roland Berkes zeigte, die sie verwirrten. Unter Belästigung verstand sie unangenehme Dinge. Doch der Tannenbaum stellte diese Theorie total auf den Kopf.
*
Mit dem Fahrrad konnte Trixi an diesem Morgen nicht zur Arbeit fahren. Es war spiegelglatt. Also machte sie sich zu Fuß auf den Weg. Die sonst stark befahrene Kaiserstraße war fast leer. Nur ein Auto näherte sich und hielt direkt neben ihr. Verunsichert schaute sie sich um. Es war der Lieferwagen von Roland Berkes.
Sie stöhnte innerlich.
»Steig ein. Ich fahre dich zur Arbeit.« Er öffnete die Beifahrertür, als erwartete er keinen Widerspruch von Trixi.
Trixi schüttelte den Kopf und schlitterte weiter.
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich dich vom Eis kratzen muss.«
Stur rutschte sie weiter.
Roland folgte ihr im Schritttempo.
Trotz aller Vorsicht rutschte sie aus und landete unsanft auf dem Boden. Roland hielt an, stieg aus und half ihr aufzustehen.
»Wirst du jetzt einsteigen? Oder willst du dir alle Knochen brechen?«
Gegen ihren Willen musste Trixi einsehen, dass er recht hatte.
Während der Fahrt sprachen beide kein Wort. Einerseits verwunderlich, andererseits gut so. Am Salon angekommen, stieg Trixi aus und warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Heute habe ich keine Lieferung für euch. Leider muss ich sofort weiter.«
Sie konnte sein Verhalten nicht einordnen. Bisher hatte er jedes Mal nachgefragt, wie seine Einfälle bei ihr angekommen waren. Nur dieses Mal nicht. Wäre es nicht sinnlos, sich diese Arbeit zu machen, ohne eine Reaktion darauf zu erwarten?
2. Kapitel
Feierabend! Trixi wusste gerade nicht, ob sie sich freuen sollte. Zumindest die Straßen waren nicht mehr glatt. Saukalt war es aber immer noch. Trixi beschloss, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie stellte sich auf dem Heimweg vor, wie sie sich einen lauschigen Abend vor dem geschmückten Tannenbaum machte. Über seine zweifelhafte Herkunft wollte sie einfach nicht nachdenken. Einfach nur ungestört die weihnachtliche Atmosphäre genießen. Die Vorstellung klang verlockend.
Sie betrat das Haus, schaltete sie die Beleuchtung ein und ließ sich aufs Sofa plumpsen. Das klappte ja schon prima. Der Baum war eine Wucht. Niemals wäre ihr selbst ein derartiges Kunstwerk gelungen. Sie versank in ihren Betrachtungen dieser glitzernden Lichter.
Es klopfte an der Tür.
Erstaunt darüber, warum ihr Besucher nicht klingelte, erhob sie sich und ging das kurze Stück durch den Flur auf die Tür zu. Kurz davor blieb sie stehen. Es wäre sicher nicht klug zu öffnen. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, schob sich am Tannenbaum vorbei ans Erkerfenster, das genau auf die Haustür zeigte.
Kein Mensch war zu sehen. Aber etwas lag auf dem Boden. In der Dunkelheit konnte Trixi nicht erkennen, was es war.
Scheiße! Da war sie wieder – ihre Angst. Sie hatte doch abschalten wollen, Abstand gewinnen und sich durch nichts mehr erschüttern lassen. Doch mit diesem kleinen Paket vor ihrer Tür waren alle ihre Vorsätze zunichte gemacht. Allein die Vorstellung, jetzt nach draußen zu gehen und das Paket anzunehmen ließ sie zittern.
Morgen früh, wenn sie das Haus verließ, konnte sie sich darum kümmern.
Aber den Entschluss umzusetzen kostete sie mehr Nerven, als sie geahnt hatte. Unentwegt ging sie von Zimmer zu Zimmer, fühlte sich in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr wohl. Wie lange sollte das so weitergehen? Jeglicher Anfall von Normalität wurde durch eine neue Attacke zerstört. Oder war Normalität für sie nur eine Ausflucht, nicht wieder zur Polizei gehen zu müssen. Die Abfuhr dieses Bullen in dem Büro – und der Korb von Polizeihauptmeister Hollmann – hatten sie an sich selbst zweifeln lassen. Doch das war falsch. Sie spürte, dass sie nicht weiter tatenlos abwarten konnte, sie musste etwas tun. Ihr Blick fiel auf den Computer. Dabei kamen ihr wieder die Worte des Polizeihauptmeisters in den Sinn: »So wie Sie die Sachlage schildern, besteht die Möglichkeit, dass er auch diese Technologie nutzt, um mit Ihnen in Kontakt zu treten. Oftmals geschieht das durch beleidigende E-Mails.«
Also schaute sie nach. Immer noch nichts.
Es war wie verhext. Entweder besaß Roland Berkes gar keinen Computer oder aber er wusste genau, dass eine E-Mail ihn verraten könnte. Hollmann hatte auch gesagt: »Solange er nichts hinterlässt, womit sich seine Aktivitäten nachweisen lassen, können wir nichts tun … Es wird uns nicht gelingen, die Staatsanwaltschaft von strafbaren Handlungen zu überzeugen, wenn wir keine Fakten liefern.« Roland wollte keine Fakten liefern – er verfolgte sein Ziel mit aller Vorsicht und machte Trixi damit wehrlos.
Das brachte sie auf eine neue Idee. Bevor sie den Rechner wieder ausschaltete, startete sie eine Recherche bei Google über Stalking. Es gab erstaunlich viele Treffer. Sie las fasziniert einiges über dieses unerwünschte Nachstellen und die psychischen und physischen Auswirkungen. Darin fand sie auch bestätigt, was Hollmann ihr gesagt hatte. In Deutschland war es schwierig, mit dem Problem Stalking bei Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht Gehör zu finden, weil es erst allmählich ins Bewusstsein drang.
Eine Weile starrte sie auf die vielen Informationen auf ihrem Bildschirm, bis die Buchstaben vor ihren Augen flimmerten. Besser wäre ein Buch. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Kurzerhand klickte sie den Internetkatalog der Stadtbibliothek an, der ihr unvermittelt anzeigte, dass einige Titel verfügbar waren. Aufgeregt suchte sie die Spalte mit den Öffnungszeiten. Erleichtert las sie, dass die Bibliothek von Dienstag bis Samstag durchgehend geöffnet hatte. Also würde sie gleich morgen in der Mittagspause dorthin gehen, sich Fachlektüre über das Phänomen Stalker heraussuchen und im Lese-Café, das eigens dafür eingerichtet worden war, darin schmökern.
Dieser Entschluss gab ihr das beruhigende Gefühl, nicht tatenlos zuzusehen. So gelang es ihr, mit der Tatsache, dass jemand etwas vor ihre Haustür gelegt hatte, besser fertig zu werden.
*
Am nächsten Morgen stolperte sie über einen Käfig. Ihr Herzschlag setzte aus, ihr wurde ganz schlecht. Vor ihr stand ein Katzenkäfig, in dem ein kleines Kätzchen lag – erfroren!
Nach mehrmaligem Würgen machte sie sich auf den Weg zur Arbeit. Den Katzenkäfig stellte sie zur Seite, weil sie das arme Geschöpf jetzt nicht anfassen konnte. Sie schob ihr Fahrrad an den Autowracks vorbei, als sie eine Stimme hörte: »Mörderin! Mörderin! Du bist schuld an ihrem Tod.«
Diese körperlose Stimme, die vom Autofriedhof herüberklang, ging ihr durch Mark und Bein. Diese hässlichen Worte klangen in ihren Ohren, bis sie am Friseursalon ankam. Sie war zu spät dran. Käthe bedachte sie mit einem besorgten Blick und fragte: »Ist wieder etwas passiert?«
Trixi schämte sich maßlos, dass sie das arme Kätzchen hatte erfrieren lassen. Deshalb wollte sie den Vorfall lieber für sich behalten.
»Du hast doch was.«
»Ich werde von dir immer nur belehrt, wie ich es besser machen könnte. Darauf kann ich verzichten.«
»Entschuldige, dass ich es gut mit dir meine.«
»Mit diesem Kerl ist einfach nicht zu reden, er ist ein Psychopath. Er tut Dinge, die mir Angst machen.«
»Ich glaube nicht, dass er gefährlich ist. Du hast zu viel Fantasie. Zurzeit schadet sie dir. Denn so viel, wie du in der kurzen Zeit erlebt haben willst, schafft einer allein gar nicht anzustellen.«
»Egal«, murrte Trixi. »Ich möchte heute kurz weggehen. In der Mittagspause. Ist das okay für dich?«