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Für das Interview wurde allerdings ein anderes, »banales Foto«, ausgewählt, wundert Letizia Battaglia sich auch jetzt noch. Nach einigem Überlegen hat sie das Porträt daher selbst veröffentlicht.
Anfang des Jahres 2020 kommt Rosaria Costa Schifani erneut unfreiwillig in die Schlagzeilen. Ihr Bruder wird verhaftet. Er soll für die Mafia Schutzgelder eingetrieben haben. In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera sagt die in Norditalien lebende Rosaria, sie sei völlig zerstört. Die Frau, die die Mafia herausgefordert hat, ist vom eigenen Bruder »verraten« worden. Eine weitere Tragödie, meint Letizia Battaglia, eine Tragödie, die zeigt, wie tief die Gräben innerhalb der Familien nach wie vor sind. »Man kann auch heute noch in ein und derselben Familie völlig integre Personen finden, die alles richtig machen, und gleichzeitig andere, die sich dem Bösen verpflichtet haben.«
Sie selbst hatte sich dem Engagement für ihre Stadt verpflichtet, doch 1983 kommt sie an einen toten Punkt. Die Ermordung des Richters Rocco Chinnici löst in ihr eine tiefe Krise aus. Zu viele Leichen haben sich in ihren Kopf eingebrannt und liegen gleichzeitig als Negative in ihrem Archiv. Letizia Battaglia nimmt Abstand von ihrem Fotoapparat und versucht sich anderwärtig für Gerechtigkeit zu engagieren. Sie geht in die Politik. 1985 zieht sie für die Grünen ins Stadtparlament von Palermo ein. Bürgermeister Leoluca Orlando führt in den kommenden Jahren eine Fünf-Parteien-Koalition an. Die Jahre seiner Regierung gelten als »Palermitanischer Frühling«. An den vielen Kampagnen zur Verbesserung der Lebensqualität der Stadt nimmt auch Letizia Battaglia teil.
Sie lässt Bäume pflanzen, öffentliche Räume gestalten, kämpft verbissen gegen den Drogenhandel und ermöglicht erstmals eine erwähnenswerte Kulturförderung. Auch als Politikerin dokumentiert sie Missstände und versucht nah an den Menschen zu sein. Diese Zeit bezeichnet sie später oft als die glücklichste in ihrem Leben. »Es war eine Art Privileg, in den Strukturen der Macht tätig zu sein. Es war eine Art Luxus, sich für sein Land einsetzen zu können und die Mittel dazu zu haben. Ich konnte von dort die Macht der Mafia bekämpfen. So wie ich es auch mit dem Fotoapparat tat.«
Manchmal zeigte sich die Frucht dieses Kampfes erst viele Jahre später. 1993 klagt die Staatsanwaltschaft in Palermo Giulio Andreotti wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Mafia an. Der siebenfache Ministerpräsident hat knapp 30 Anträge zur Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität abwehren können, doch nun steht er als Angeklagter im Gerichtssaal. Er, das Aushängeschild der Democrazia Cristiana, leugnet beharrlich, jemals Kontakt mit Mitgliedern der Cosa Nostra gehabt zu haben. Eine Begünstigung der Mafia durch ihn habe es niemals gegeben. Da erinnern sich die Ermittler an das umfassende Fotoarchiv von Letizia Battaglia. Sie beginnen zu suchen und werden tatsächlich fündig. Zwei Aufnahmen fallen ihnen in die Hände, eine davon findet das besondere Interesse der Ankläger und wird als Beweismittel im Prozess herangezogen. Das Foto zeigt Giulio Andreotti während einer Wahlkampagne im Juni 1978 in der Empfangshalle des Hotels Zagarella nahe Palermo. An seiner Seite ist der Mafiaboss Nino Salvo zu sehen, der als schwerreicher Unternehmer sowohl die Subventionspolitik der EG für sich nützte als auch seine guten Verbindungen zu den Mächtigen in Rom. Im Gegenzug verschaffte er den Politikern der Democrazia Cristiana Wählerstimmen.
»Ich habe Giulio Andreotti mit diesem Foto große Schwierigkeiten bereitet«, sagt Letizia Battaglia, »denn er wurde dadurch als Lügner entlarvt. Ab diesem Zeitpunkt war klar: Der mehrfache Regierungschef kannte diesen einflussreichen Mafioso.« Sie selbst hatte dem Foto ursprünglich keine besondere Bedeutung zugemessen, da ihr der gut getarnte Mafiaboss Nino Salvo zur Zeit der Aufnahme kein Begriff war. Daher hatte sie das Foto nicht veröffentlicht. Trotzdem legte sie es fein säuberlich ab. Sie steckte es in einen Umschlag und schrieb »Andreotti« darauf. Dann vergaß sie jenen unauffälligen Abend, der 15 Jahre später zum entscheidenden Indiz in den Ermittlungen wurde. Der Prozess gegen Giulio Andreotti zog sich über Jahre hin. Letztlich musste er »wegen Verjährung freigesprochen werden. Aber«, fügt Letizia Battaglia hinzu, »dank dieses Fotos kann er nicht als wunderbarer Politiker in die Geschichtsbücher eingehen. Er war der erste Regierungschef, der Schmutz auf sein Amt geladen und es damit verraten hatte. Er hat die Mafia in Palermo und in Sizilien für sich genützt. Und das ist ganz, ganz schrecklich.«
Das Foto selbst bezeichnet sie als eines ihrer schlechtesten. Es sei unscharf, verwackelt und einfach hässlich. »Aber es war nützlich«, sagt sie. Und darüber sei sie immer noch froh.
Aufgeben? Niemals!
Letizia Battaglia verfügt über ein riesiges Archiv. 600.000 Fotos stammen aus ihrer Zeit als Fotoreporterin für die Tageszeitung L’Ora, die 1992 eingestellt worden ist. Heute fotografiert sie nicht mehr. Sie steckt ihre ganze Energie in das von ihr gegründete Internationale Zentrum für Fotografie, das 2017 »in einem ehemaligen Industriegebäude« eröffnet worden ist. »Kein reines Museum«, winkt sie ab, das wäre nicht in ihrem Sinn. Und so gibt es neben hochkarätigen Ausstellungen auch Fördermaßnahmen für junge Fotografen aus aller Welt. »Es ist ein Ort der Kultur, an dem man frei denken und kreativ sein kann. Das ist ein ganz wichtiger Teil im Kampf gegen die Mafia.«
Dieser Kampf ist in ihrem Bereich heute viel schwieriger. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Mafia der Gegenwart ist nicht mehr fotografisch zu dokumentieren. Sie trägt Krawatte, hat einen Hochschulabschluss, investiert in Kunst und ist in der Finanz zu Hause. »Das hässliche Gesicht der Mafia mit coppola (Anm. typische sizilianische Schirmmütze) und lupara (Anm. Jagdgewehr) gehört der Vergangenheit an. Ich hatte aber mit dieser Mafia zu tun. Meine Fotos kommen daher ohne begleitende Anmerkungen aus. Sie sprechen allein für sich. Heute hingegen bräuchten wir mindestens zehn Zeilen Text, um zu sagen: Dieses saubere Arschgesicht gehört einem Mafioso.« Das machte das organisierte Verbrechen vielleicht sogar noch gefährlicher, denn es sei teilweise nicht mehr erkennbar. »Aber die Mafia ist präsenter denn je. Sie hat in alle Gesellschaftsschichten Einzug gehalten.«
Eines schmerzt Letizia Battaglia zutiefst, wenn sie die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren lässt: Sie kann nicht verstehen, warum es dem Staat nicht gelungen ist, die Mafia zu bezwingen. »Ich könnte heulen«, sagt sie, »denn sie haben uns leiden lassen. Nicht alle Sizilianer sind mafiös. Wir wurden vielmehr unterdrückt und man hat uns nicht geholfen.«
Sie selbst wurde darüber hinaus auch immer wieder an Leib und Leben bedroht. Die Angst war oft so groß, dass sie krank wurde. Aber ans Aufgeben hat sie nie gedacht. Im Namen der Freiheit und der Unabhängigkeit machte sie immer wieder weiter. »Ich bereue nichts«, sagt sie zum Abschluss, »das Leben ist wunderschön und außergewöhnlich. Damit das so bleibt, kämpfe ich weiter. Ich denke, wir haben die Aufgabe, bis zum Schluss zu kämpfen, um so das Beste für die Gesellschaft zu erreichen.«
Für ihren leidenschaftlichen Einsatz und ihr fotografisches Werk ist Letizia Battaglia vielfach geehrt worden. Viele nationale und internationale Preise geben Zeugnis ihres außergewöhnlichen Wirkens.
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