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Jeder schlug sich in diesem am Boden liegenden Deutschland so gut durch, wie er es vermochte. Eine der größten Attraktionen meines Vaters als Kind bestand darin, zum Fenster zu eilen, sobald er das Hupen der schweren Jeeps hörte, die vor dem Hauseingang hielten, wenn amerikanische Soldaten kamen, um ihre Begleitung für den Abend abzuholen. »Es gab die beiden Töchter der Dame über uns sowie eine Nachbarin, die zwar verheiratet war, aber nicht wusste, ob ihr Mann zurückkehren würde, und man musste ja doch weiterleben«, erinnert er sich. Zahlreiche deutsche Kriegsgefangene kehrten erst viele, manche sogar erst zehn Jahre nach Kriegsende heim, während sie ihre Ehefrauen allein auf sich gestellt und voller Ungewissheit zurücklassen mussten. Etwa 1,3 Millionen von ihnen kehrten niemals aus der Sowjetunion zurück und wurden unter verabscheuungswürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen, nachdem das Reich seinerseits 3,3 von 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen ermordet oder sterben lassen hatte.
Materiell war für eine deutsche Frau in dieser Zeit ein für tot erklärter Ehemann besser als ein vermisst gemeldeter. Im ersten Fall konnte sie sofort eine Rente erhalten, im zweiten musste sie oft über mehrere Jahre kümmerlich ihr Leben ohne Pension oder Witwenrente fristen und dabei häufig doch nur auf die Bestätigung warten, dass der Ehemann tatsächlich tot war. »Die jungen Frauen aus Mannheim begannen mit den Amerikanern auszugehen, die sie in ihre Kasernen mitnahmen, wo sie tanzen, ins Kino gehen, sich satt essen und sich mit den jungen Männern amüsieren konnten, die in ihren Uniformen ziemlich attraktiv wirkten«, erzählt mein Vater.
Manchmal bildeten diese Zusammenkünfte den Anfang einer schönen Liebesgeschichte, wie etwa bei einem der beiden Mädchen aus dem oberen Stockwerk, das einen Amerikaner geheiratet hatte und dessen Tochter Cynthia dann die Kindheitsfreundin meines Vaters wurde, bevor ihre Eltern 1949 in die Vereinigten Staaten umsiedelten. Für andere wiederum, wie etwa für die mit einem Mann in Gefangenschaft verheiratete Nachbarin, glichen diese Treffen eher einer Art Prostitution. Alle im Gebäude wussten Bescheid, aber schlecht angesehen war sie deshalb nicht, denn die Zigaretten der Amerikaner konnten manchmal einer ganzen Familie helfen zu überleben. »Offiziell hatten die Amerikaner ihren Soldaten verboten, mit deutschen Mädchen zu verkehren, aber das funktionierte nur wenige Monate. Und wenn mein Vater sie in seinem Hause akzeptierte, dann geschah dies wahrscheinlich im Austausch gegen einige Geschäfte und Zigaretten.« Mit dem Wertverfall der Reichsmark waren Zigaretten zur Referenzwährung auf dem Schwarzmarkt gediehen und es gab keinen Weg an ihnen vorbei, da die Lebensmittelmarken 1946 je nach Versorgungslage für einen Erwachsenen täglich zwischen 800 und 1.500 Kalorien vorsahen. Viele hungerten, einige starben, selbst vor Kälte, da auch die Kohle rationiert und der Winter 1946/47 extrem hart war. In Opas Fotoalbum gibt es ein Bild des zugefrorenen Rheins, auf dem Mannheimer flanieren, als befänden sie sich auf der Newa in Sankt Petersburg.
Weitere neue Besucher des Wohnhauses waren die sogenannten »Onkel«. Da die Rente an Kriegswitwen nur unter der Bedingung ausgezahlt wurde, dass sie alleinstehend blieben, hatten sie keinerlei Interesse daran, wieder zu heiraten. Und da das Gesetz es nicht verheirateten Paaren verbot zusammenzuleben, machte sich die Gewohnheit breit, seinen neuen Partner als einen Onkel vorzustellen. Der Vermieter war angehalten, auf die Einhaltung dieses Gesetzes von seinen Mietern zu achten, andernfalls hatte er eine Strafe zu zahlen. Karl Schwarz aber drückte ein Auge zu, brillierte er doch selbst in der Illegalität. Er war ein großzügiger Mensch und teilte seine Beute vom Schwarzmarkt gern mit seiner Familie und Freunden an einem sonntäglichen Tisch. »Die Gespräche handelten von den Renten, die nicht zu erhalten man befürchtete, wenn man im Dritten Reich Beamter oder Soldat gewesen war. Die Inflation, die unauffindbaren Produkte und der Klatsch der Nachbarschaft … das waren die Hauptfragen der Zeit – und nicht etwa, wer was unterm Nationalsozialismus gemacht hatte«, erklärt mein Vater.
Manchmal beklagte man jene, deren Schicksal noch schlimmer war, wie etwa die Berliner, deren Zukunft ebenso unfassbar erschien wie der Anblick der Ruinen, in denen herumirrende Flüchtlinge spukten, die nach Ratten jagten, um was zu essen zu haben, oder Frauen, die sich als Prostituierte den Soldaten vor den Augen von Kindern hingaben, die vorbeiziehenden Kleinlastern auflauerten, um etwaige herunterfallende Kohlestücke aufzusammeln. Der Film Deutschland im Jahre Null von Roberto Rossellini, der 1947 in Berlin gedreht wurde, ist eines der atemberaubendsten Zeugnisse dieser vom Gefühl des Nichts angefassten Zeit. Inmitten der Ruinen der Hauptstadt erzählt der italienische Regisseur die Geschichte eines zwölfjährigen Jungen, Edmund, der seiner Familie im Elend hilft, indem er mehrere kleine Jobs an Land zieht. Um seinen kranken Vater zu retten, ruft er seinen ehemaligen Schullehrer zu Hilfe, der ihm, beherrscht von der Nazi-Ideologie, rät, sich vom kranken Glied der Familie zu befreien, welches das Überleben der Gruppe gefährde. Nachdem er seinen Vater vergiftet hat, springt Edmund von einer Ruine in den Tod.
1Pseudonym
2Pseudonym

3Das Phantom der Löbmanns
DIE VERGANGENHEIT, die meine Großeltern für immer unter den Ruinen des Dritten Reiches verschüttet glaubten, tauchte eines Morgens im Januar 1948 im Briefkasten wieder auf, als Karl Schwarz einen Umschlag vorfand, dessen Absender auf Anhieb das Unheil ankündigte: Dr. Rebstein-Metzger, Rechtsanwältin – Mannheim. In dem Brief teilte die Anwältin kurz gefasst mit, dass ihr Klient, ein gewisser Julius Löbmann, der in Chicago lebte, von der Schwarz & Co. Mineralölgesellschaft rund 11.000 Reichsmark kraft eines Gesetzes einfordere, das in der amerikanischen Zone eingesetzt worden sei und Wiedergutmachungen für die unter dem Nationalsozialismus ihres Eigentums beraubten Juden vorsehe.
Von der Geschichte dieses Briefes und dessen, was er auslöste, haben weder mein Vater noch meine Tante – die es liebt, Familiengeschichten zu erzählen – jemals gesprochen. Ich wusste, dass Opa Mitglied der NSDAP war und seine Firma einst Juden gehört hatte – mein Vater muss es mir wohl im Vertrauen gesagt haben, als ich in der Schule die Geschichte des Dritten Reiches studierte, aber ich war damals noch zu jung, um mich für die Hintergründe zu interessieren. Es geschah sehr viel später aufgrund einer Bemerkung meiner Tante Ingrid, dass ich mich entschloss, die Ordner von Opa zu durchstöbern, die seit dem Tod meiner Großeltern im Keller des Mannheimer Wohnhauses aufbewahrt wurden. Unter den Papieren, die im Laufe der Zeit zwar vergilbt, deren aufgedruckte Buchstaben aber noch immer gut lesbar waren, fand ich einen Vertrag, der bezeugte, dass Karl Schwarz zwei jüdischen Brüdern, Julius und Siegmund Löbmann, sowie deren jüdischem Schwager, Wilhelm Wertheimer, dessen Schwestern Mathilde und Irma sie geheiratet hatten, eine kleine Gesellschaft für Mineralölprodukte abgekauft hatte. Die Firma Siegmund Löbmann & Co. lag in der Gegend des Industriehafens von Mannheim nahe am Neckar gelegen, in der Helmholtzstraße 7a. Es ist aber vor allem das Datum, das von Interesse ist: August 1938, für die deutschen Juden das Jahr des endgültigen Absturzes in die Hölle, denn nun nahm der Druck durch Verfolgung und Diskriminierung in geradezu schwindelerregender Weise zu und zwang sie, ihr Eigentum zu Niedrigstpreisen aufzugeben.
Von der Familie Löbmann konnte ich nur recht wenige Spuren finden, bis ich im Internet auf eine Familie Loebmann stieß, die tatsächlich in Chicago lebte, wo Julius wohnte, als er von meinem Großvater Wiedergutmachungsleistungen einforderte. Die darauffolgende Entdeckung einer langen Liste an Loebmanns im Onlinetelefonbuch aber setzte meinen Hoffnungen ein jähes Ende. Ebenso gut konnte man eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen. Ich begann also meine Nachforschungen auf die Linie der Wertheimer zu konzentrieren, den Namen der Familie des dritten Eigentümers der Siegmund Löbmann & Co., Wilhelm, dessen zwei Schwestern Julius und Siegmund geheiratet hatten. Dabei stieß ich auf einen Artikel, der eine Lotte Kramer, geborene Wertheimer, erwähnte, Tochter von Sophie, der dritten Wertheimer-Schwester. Lotte war eine der letzten noch lebenden Zeuginnen der Kindertransporte, einer Rettungsaktion, mit der mehr als 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei zwischen 1938 und 1940 nach England gelangten. Ich fand ihre Spur in einem Seniorenheim in Peterborough, einer kleinen, gut eine Stunde nördlich von London gelegenen Stadt. Sie stimmte umgehend einem Treffen mit mir zu.
Lotte Kramer ist 95 Jahre alt. Eine kleine, zierliche Frau mit feinen Gesten und so höflich, wie es nur Engländerinnen sein können. Sie hatte zwei Sessel einander gegenüber gestellt, nah genug, damit wir uns gut verstehen konnten, und erzählte mir von ihrem Leben und was sie über das der Löbmanns wusste.
»Meine Mutter Sophie und ihre beiden Schwestern liebten sich sehr«, sagt sie und nimmt eine Schwarz-Weiß-Fotografie von der Wand, auf der drei junge Frauen zu sehen sind. Die Jüngste von ihnen, Mathilde, mit einem dicken Knoten im Haar und einer gestreiften Bluse, hat ein hübsches, zielgerichtetes und offenes Gesicht; ihr zur Seite Irma, die Älteste der drei, trägt einen Kragen mit Häkelsaum, der ihre müden und vielleicht ein wenig traurigen Züge aufheitert; die Letzte, Sophie, sitzend, eine Medaille um den Hals tragend, zeigt einen unsicheren Blick, der mit vager Hoffnung erfüllt ist. Lotte wurde 1923 in Mainz geboren, wo sie auch aufwuchs. Regelmäßig legte sie die knapp 100 Kilometer zurück, die sie von Mannheim trennten, um ihre heiß geliebte Cousine Lore zu besuchen, die Tochter von Siegmund und Irma Löbmann. Sie erinnert sich an ihre ausgedehnten Spaziergänge in den Gärten am Fuße des Wasserturms, an das Flanieren auf den belebten Straßen und den nie fehlenden Kaffee und Kuchen ihrer Tante Irma, einer »hervorragenden Köchin«. »Es kam sogar vor, dass wir alle gemeinsam zum Urlaub im Kraichgau aufbrachen, ins Geburtsdorf der Löbmanns, wo auf einem Bauernhof damals ein Teil ihrer Familie lebte. Wir waren sehr verbunden miteinander.«
Die Wertheimer-Schwestern hatten drei Brüder: Siegfried, der in den Zwanzigerjahren fortgezogen war, um sich in den USA niederzulassen, Paul, der in der Zeit des Nationalsozialismus nach Frankreich ins Exil ging, und Wilhelm, der zu Beginn der Dreißigerjahre in die Firma Siegmund Löbmann & Co. investierte, um seinen beiden Schwägern zu helfen, das von der Wirtschaftskrise 1929 schwer getroffene Haus zu retten. Dank dieser Unterstützung erholte sich die Firma wieder, bevor sie dann unter der Bürde der zunehmenden Diskriminierung jüdischer Geschäfte im Nationalsozialismus wieder abrutschte.
Lotte war neun Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Im Januar 1933 hatte der deutsche Präsident Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg angesichts der Wahlerfolge der NSDAP, die im Juli 1932 mit 37 Prozent und im November desselben Jahres mit 33 Prozent der Stimmen zur ersten politischen Partei des Landes geworden war, klein beigegeben: Er hatte den Chef der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Adolf Hitler, zum Kanzler ernannt. Der zögerte nicht lange, löste den Reichstag auf, rief Neuwahlen aus und inszenierte mit dem Ziel, die absolute Mehrheit im Parlament zu erreichen, eine aggressive Kampagne, die geprägt war von Propaganda, Parteiverboten, Repressalien und Drohungen gegen andere Kandidaten. Trotzdem verfehlte Hitler sein Ziel, da seine Partei im März nicht mehr als 43,9 Prozent der Stimmen erhielt.
In Mannheim, einer Stadt, in der traditionell die SPD und die KPD besonders stark vertreten waren, kam die NSDAP Ende der Zwanzigerjahre auf keine 100 Mitglieder. Aber nachdem sich mit der Wirtschaftskrise von 1929 die Zahl der Arbeitslosen verdreifacht hatte, wurde mit den Parlamentswahlen vom Juli 1932 die NSDAP mit 29,3 Prozent der Stimmen zur stärksten politischen Kraft der Stadt. Kurz nach ihrer Machtergreifung 1933 zerschlugen die lokalen Nazi-Autoritäten sowohl die SPD als auch die KPD, verboten Zeitschriften und zwangen den Bürgermeister von Mannheim, beim Verbrennen der Fahne der Republik zuzuschauen, bevor sie ihn in ein Krankenhaus sperrten. Unmittelbar darauf wurden mehr als 50 jüdische Beamte entlassen, noch bevor das Regime am 7. April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erließ, um schon bald darauf alle »nicht arischen« oder politisch missliebigen Beamten ihres Dienstes zu entheben, Universitätsangestellte und Wissenschaftler inbegriffen.
Mit rasanter Geschwindigkeit verbreitete sich in Mannheim, wo mit gut 6.400 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde Badens lebte, ein Antisemitismus neuer Ordnung. In der gesamten Region waren die Veränderungen zu spüren. »Plötzlich gab es überall antisemitische Propaganda, auf der Straße, in den Zeitungen, im Radio«, erinnert sich Lotte. »Eines Tages haben wir mit der Schulklasse einen Propagandafilm für Kinder gesehen, der die Geschichte eines zum Nazismus konvertierten Jungen zeigte, was uns unglaublich beeindruckte, wir wollten alle sein wie er.« Auf ihrem Heimweg von der Schule ging sie tagtäglich an der Hitlerjugend vorbei. »Ich war eifersüchtig, ich träumte davon, eine von ihnen zu sein, sie wirkten in ihren Uniformen so unglaublich glücklich.« Es war vor allem die Normalität, die sie beneidete, sie, das kleine jüdische Mädchen, das schon als Kind die Ausgrenzung, Erniedrigung und Scham zu ertragen hatte, die ihrer Gemeinschaft aufgebürdet worden waren.
In einem hervorragenden Buch mit dem Titel Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt – Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim erklärt die Historikerin Christiane Fritsche, wie in vielen Bereichen auf lokaler Ebene zahlreiche antisemitische Maßnahmen ergriffen wurden, ohne dass ein nationales Gesetz sie gerechtfertigt hätte. Die Handelskammer von Mannheim gab den Ton an, indem sie sich Ende März ihrer jüdischen Mitglieder entledigte, sprich: ihres eigenen Präsidenten und eines Drittels ihres Personals. Parallel dazu, und aus eigener Initiative, schlossen zahlreiche Institutionen und Verbände von Kaufleuten, Rechtsanwälten, Medizinern mit irritierender Geschwindigkeit Juden aus ihren Reihen aus. Damit wurden ihnen nicht nur die wesentlichen professionellen Netzwerke genommen, sondern auch ihr Ruf geschädigt, womit sie einen Teil ihrer Kundschaft verloren, was den Niedergang ihrer finanziellen Lage und ihres Lebensmuts noch weiter beschleunigte.
Eine weitere Form der Stigmatisierung und Isolation der Juden bestand im Aufruf zum Boykott ihrer Läden. In vielen deutschen Städten gab es schon bald nach der »Machtergreifung« kleinere Aktionen: SA- und SS-Männer standen vor den Türen jüdischer Geschäfte, um die Kundschaft abzuschrecken. Voller Ungeduld stimmten sich auf lokaler Ebene Vertreter der NSDAP und andere Nazi-Organisationen miteinander ab, um endlich zur Tat schreiten zu können und für den 1. April 1933 einen nationalen Tag des Boykotts aller jüdischen Geschäfte auszurufen. Schon Tage zuvor druckten die Zeitungen unablässig Boykottaufrufe und Plakate. Quer durch das gesamte Land stellten sich Mitglieder der SS und SA in Uniform vor jüdische Geschäfte, um Kundschaft beim Betreten derselben zu behindern, Schaufenster mit antisemitischen Botschaften vollzuschmieren, Reden an die Menge zu halten oder Spruchbänder zu schwingen, auf denen geschrieben stand: »Deutsche, wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!« An diesem Samstag hatten viele Läden und Kaufhäuser, da sie vorgewarnt waren und weil orthodoxe Juden den Sabbat feierten, ihre Türen verschlossen gehalten und ihre Jalousien heruntergelassen. Andere wurden verwüstet und ausgeplündert, Juden zusammengeschlagen. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht aktiv mitgemacht hatte, zeigte sich, dass die Nazis nicht mit Widerstand rechnen mussten.
Wenige Monate später, so erläutert Christiane Fritsche, ließ das Reichswirtschaftsministerium die Industrie- und Handelskammer wissen, dass eine »Unterscheidung zwischen arischen oder nicht rein arischen Firmen innerhalb der Wirtschaft nicht durchführbar« sei, denn eine »solche Unterscheidung mit dem Zwecke einer Boykottierung nicht arischer Firmen (würde) notwendig zu erheblichen Störungen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus führen«. Diese Angst vor Arbeitslosigkeit war einer der Gründe, warum das NS-Regime zunächst nicht per Gesetz gegen Juden in der Wirtschaft vorging, erklärt die Historikerin. Bis Mitte der Dreißigerjahre beteuerten daher Reichsminister und NS-Größen immer wieder, »dass es kein Sondergesetz gegen Juden in der Wirtschaft geben werde und dass Übergriffe gegen jüdische Betriebe zu unterbleiben hätten«. Dieses Signal jedoch wurde auf lokaler Ebene nicht respektiert.
Eines der wirkungsmächtigsten Instrumente in Mannheim war die örtliche Nazi-Zeitung Hakenkreuzbanner, die tagtäglich dazu aufrief, die 1.600 jüdischen Geschäfte der Stadt zu boykottieren, indem sie deren Namen und Adressen bekannt gab, ja, manchmal sogar jene ihrer Kunden, die sie weiterhin aufsuchten und dafür der Illoyalität gegenüber dem Führer bezichtigt wurden. Christiane Fritsche, die Tausende Seiten dieser Tageszeitung durchforstet hat, fand in ihr »praktische Tipps«, welche das Hakenkreuzbanner den Ehemännern erteilt hatte, um ihre Frauen davon abzubringen, weiterhin bei Juden einzukaufen. Sie sollten ihnen drohen, das Haushaltsgeld zu kürzen: »Wenn Du zum Juden läufst, weil er angeblich billiger ist, dann brauchst Du auch nicht so viel Haushaltsgeld, als wenn Du bei einem anständigen deutschen Kaufmann kaufst.« Die Zeitung drohte ebenfalls damit, die Namen der »Judenliebchen« zu veröffentlichen, von Frauen also, die angeblich Beziehungen mit Juden unterhielten. Diese Einschüchterungskampagnen konnten in Städten mittlerer Größe wie Mannheim mit damals etwa 280.000 Einwohnern greifen, da die Bürger eine öffentliche Verunglimpfung mehr fürchten mussten als in einer anonymen Großstadt wie Berlin.
Eine weitere Methode zur Hetze bestand nach Fritsche darin, Gerüchte über den hygienischen Zustand in der Küche eines jüdischen Restaurants oder die sexuellen Vorlieben eines jüdischen Firmenchefs in Umlauf zu bringen. In einigen Fällen führte dies sogar bis zu den Schmutzprozessen, die auf Grundlage falscher Anklagen wegen Gaunerei, sexueller Belästigung oder Hehlerei geführt wurden. Jüdische Unternehmer waren häufig von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen und wurden daran gehindert, ihre Produkte auf Messen auszustellen. Andere lokale Direktiven verboten Juden, ihre Schaufenster in der Vorweihnachtszeit mit »christlichen« Dekorationen zu schmücken, also mit Engeln, einem Weihnachtsbaum oder einer Krippe, was darauf hinauslief, ihnen ein »nicht arisches« Etikett zu verpassen, womit ihre Umsätze während dieser Hochsaison noch einmal deutlich gesenkt wurden. Das Hauptaugenmerk galt den großen jüdischen Kaufhäusern, von denen es in Mannheim vier gab. Die Stadt verbot ihren Beamten sogar unter Androhung von Strafe, in diesen Häusern einzukaufen. 1936 waren bereits drei von ihnen wegen finanzieller Notlage an »Arier« veräußert worden.
»Ich glaube, dass die Löbmanns dem Schlag standhielten, da ich mich nicht erinnern kann, bei meinen Besuchen einen Wandel in ihrer Lebensführung bemerkt zu haben. Das heißt, sie lebten bescheiden, sie waren verhältnismäßig religiös, religiöser als wir«, berichtet Lotte Kramer. Da die Löbmanns keinen Einzelhandel betrieben, waren sie von dieser Hexenjagd wahrscheinlich in einem geringeren Maße betroffen als andere. Ihre Kundschaft war weniger sichtbar als jene, die durch die Türen eines Schneiders oder Bäckers ging, und ließ sich daher nicht so leicht von angedrohten Verleumdungen abschrecken. Aber eben nicht alle, denn der von 1933 an sichtbare Einsturz der Umsatzzahlen der Firma Siegmund Löbmann & Co., deren Auflistung ich in Opas Papieren gefunden habe, zeigt, dass auch diese unter der Illoyalität einiger Kunden gelitten hatte, sei es aus Angst oder aus Antisemitismus.
Anfangs noch schöpfte die deutsche Gesellschaft ihren Enthusiasmus gegenüber dem Nationalsozialismus eher aus einem neuen Vertrauen auf die Stärke ihres Vaterlands als aus der antisemitischen Besessenheit ihrer Nazi-Führer, die lauthals hinausschrien, dass nur ein von seinen »nicht arischen« Elementen gereinigtes Deutschland aus seiner Asche neu auferstehen könne – und zwar dank eines Volkes, dem seine rassische Harmonie eine in der Geschichte der Menschheit nie da gewesene Kraft verleihen werde. Dieser Wahn war zudem pure Mythologie, da sich die Deutschen, wie alle anderen auch, bereits unendlich viele Male mit anderen Völkern vermischt hatten, und dies schon Jahrtausende vor der Ankunft Adolf Hitlers und Joseph Goebbels’ auf Erden, die im Übrigen keinem einzigen morphologischen Kriterium eines vermeintlichen Ariers entsprachen.
Viele Bürger hatten anderes zu tun, als Juden zu jagen, nur weil sie Juden waren. Da sich aber rasch Gelegenheiten boten, aus dieser Verfolgung persönlichen Nutzen schlagen zu können, steigerte sich die Begeisterung für die rassische Sache – und zwar quer durch sämtliche Schichten der Gesellschaft. So fanden sich selbst in den gebildeten Milieus kaum Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, Anwälte oder Juristen, die sich dem Ausschluss jüdischer Kollegen widersetzt hätten, brachten deren nun frei gewordene Posten doch all jenen einen unverhofften Vorteil, denen es aufgrund mangelnder Kompetenz nicht gelungen war, eine solche Stelle zu besetzen.
Der Fall des Philosophen Martin Heidegger, Mitglied der NSDAP bis zum Ende des Krieges und von 1933 bis 1934 Rektor der Universität in Freiburg, spiegelt das vorherrschende damalige Klima in den Universitätszirkeln wider, deren Professoren mehrheitlich die Einführung einer Quotenregelung wünschten, um die »Überrepräsentation« von Juden an den Hochschulen und allgemein bei intellektuellen Posten zu beenden. Bereits 1916 schrieb Heidegger in einem Brief an seine spätere Ehefrau Elfriede, die eine notorische Antisemitin war: »Die Verjudung unserer Kultur und Universitäten ist allerdings schreckerregend.« 1929 schrieb er Victor Schwoerer, dem Vizepräsidenten der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft: »[…] es geht um nichts Geringeres als um die unaufschiebbare Besinnung darauf, dass wir vor der Wahl stehen, unserem deutschen Geistesleben wieder echte bodenständige Kräfte und Erzieher zuzuführen oder es der wachsenden Verjudung im weiteren u. engeren Sinne endgültig auszuliefern.« Andere Akademiker neideten ihren jüdischen Kollegen schlicht und einfach den Erfolg.
Sich seiner Konkurrenten billig entledigen zu können war auch der Hauptgrund eines plötzlich aufkommenden Antisemitismus in der Wirtschaftswelt. Von den Kunden seiner in Schwierigkeiten geratenen Mitbürger profitieren zu können war derart verführerisch, dass Händler in Mannheim nicht zögerten, in ihren Schaufenstern zu verkünden: »Kaufen Sie hier in einem deutschen Geschäft.« Die in Not geratenen jüdischen Kaufleute begannen, ihre Medaillen aus dem Ersten Weltkrieg hervorzuholen und sich an ihre Westen zu heften, andere wiederum versuchten, sich über Wasser zu halten, indem sie Preisnachlässe und Ratenzahlungen für Billigwaren anboten. »Ganz ohne entsprechende Gesetze hatte sich in den Wochen unmittelbar nach der Machtergreifung damit in schier atemberaubender Geschwindigkeit ein Bewusstseinswandel bei vielen Deutschen vollzogen: jüdisch oder arisch – das machte auf einmal auch im Geschäftsleben einen Unterschied«, analysiert Christiane Fritsche.
Es geschah vielleicht auch vor diesem Hintergrund, dass Karl Schwarz die Wappenzeichnung anfertigen und in seinem Büro aufhängen ließ, die seine arischen Wurzeln bekräftigte und die mein Vater bei seinem Tode vorgefunden hat.
Die Diskriminierung im gesellschaftlichen Leben war ebenso erbarmungslos: Verbote für Juden, ins Kino zu gehen, auf Bälle, ins Theater, in öffentliche Schwimmbäder; Ausschlüsse aus den Sporthallen und bei sämtlichen Arten von Vereinen. Es gibt ein Foto, auf dem Frauen und Männer in Badekleidung zu sehen sind, die ganz offensichtlich zu Tode erschrocken über Bootsanleger im Rhein bei Mannheim laufen, um den paramilitärischen SA-Angehörigen zu entkommen, die sich zu den Badenden gesellten, um Juden niederzuknüppeln. Diese Szene ging dem nächsten, noch umfassenderen Schritt beim Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft voraus: den Nürnberger Rassengesetzen von 1935, die sie zu Bürgern zweiter Klasse degradierten und sie der Rechte beraubten, die einem deutschen Staatsbürger zustanden.