Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37

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Die metaphysische Wahrheitsfrage gründet dann für Adorno keineswegs auf einem abstrakten, gar im engeren Sinne philosophischen Interesse, sondern entspringt dem konkreten physischen Leiden der Menschen: Maß aller Erkenntnis ist, »was den Subjekten objektiv als ihr Leiden widerfährt« (ND, 172). Eben diese Inversion der klassischen Metaphysik liefert erst den systematischen Begründungszusammenhang für Adornos spezifisch negative Dialektik − und sorgt für ihren unversöhnlichen Bruch mit jedem traditionellen Verständnis. Die Wahrnehmung einer »dualistischen Reflexionsphilosophie«14 etwa übersieht, dass für Adorno Dialektik gar keine Frage formaler Logik, also der Nicht-Übereinstimmung von Subjekt-Aussagen darstellt, sondern das Resultat einer objektiven Widersprüchlichkeit der Sachen selbst, die der identifizierende Begriff stets zu Unrecht schlichtet.15 Der Widerspruch verliert seinen abstrakt-theoretischen Charakter und verschmilzt mit der Dialektik zu einer performativen Struktur, wie Adorno sie mit dem Muster »Dialektik als Verfahren« zu beschreiben versucht hat: »Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese« (ND, 148).
Wenn der Widerspruch enthüllt, was an der Sache selbst unversöhnt ist, und nicht etwa formale Logik, sondern die Sache selbst zum Widerspruch führt,16 dann steht der Widerspruch für Adorno nicht nur materiell, als nicht-identischer Rest dem Denken per se unversöhnlich gegenüber. Der Widerspruch ist für ihn vielmehr das physische Leiden der Menschen, das ganz praktisch-somatisch alle überhaupt möglichen abstrakten Sinnstiftungsverfahren und -versprechen de-legitimiert:17 »Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte« (ND 203).
Die apodiktische Gewissheit, mit der Adorno fast schon trotzig immer wieder die Unwahrheit aller begrifflich erzeugten Identität behauptet, besitzt ihre Grundlage in dem begrifflich nicht aufzuhebenden Zusammenhang zwischen physischem Leiden und Nicht-Identität: Ein leidender Leib ist nicht identisch. Diese Einsicht, in der, so Adorno, das »somatische Moment« erkenntnistheoretisch »nachzittert« (ND, 202 f.), initiiert das Projekt einer negativen Dialektik, die der Theorie nicht wiederum Theorie entgegensetzt, sondern das konkrete Phänomen des einzelnen Menschen, der gegen sich selbst denkt, ohne sich preiszugeben. So lautet schließlich die von Adorno im Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit vorgeschlagene »Definition von Dialektik« (ND, 144). Das »Denken gegen sich selbst, ohne sich preiszugeben«, dem Adorno an anderer Stelle einen »handgreiflichen« (ND, 358) Charakter zuschreibt, reagiert auf den Sturz der Metaphysik, indem es unmittelbar auf die buchstäbliche Bedeutung des Materialismus führt, auf Trieb, Natur und Körper, die materiellen Vorgänge des Lebens als Grundlagen und objektive Bedingungen für das Denken. Die brutale Gewalt der Selbsterhaltung, Sexualität, Tod und Verwesung sind dem Denken in Gestalt der Affekte Lust und Leiden präsent und führen notwendig zur Infragestellung eines Sinns des Lebens, nach dem ein Leben, das Sinn hätte, gar nicht fragte (ND, 369).
Indem der Mensch gegen sich als Denkenden denkt, als sinnstiftendes Subjekt, gibt er sich eben nicht preis, sondern denkt zugleich für sich als Seienden, als Nichtidentischen, als leidendes Objekt. Mit diesem eminent subjektivitätskritischen Gehalt führt das Denken gegen sich selbst auf den »Vorrang des Objekts« (ND, 184 ff.), der aber nicht etwa bloß die idealistische Überzeugung von einem Primat des Subjekts ersetzt, sondern gerade auf ein »Mehr« an Subjekt hin errichtet ist, denn er verlangt nach einem empirischen Subjekt, das ihm korrespondiert.18
Mit seinem Beharren auf dem empirischen Subjekt als Einspruchsinstanz gegen die abstrakte Identität eines transzendentalen Subjekts hat Adorno zugleich die Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft verschoben, erkennt er doch nicht abstrakten Wahrheitsansprüchen, sondern ökonomischen Produktivkräften den Primat bei Identitäts-Herstellungs-Prozessen zu: »Gesellschaft ist vor dem Subjekt. Daß es sich verkennt als vor der Gesellschaft Seiendes, ist seine notwendige Täuschung und sagt bloß Negatives über die Gesellschaft« (ND, 132). Erst wenn keinem Menschen mehr ein lebendiger Teil seiner Arbeit vorenthalten würde, erst dann wäre rationale Identität erreicht und die Gesellschaft über bloß identifizierendes Denken hinausgelangt (vgl. ND, 150).
In diesen Passagen der Negativen Dialektik klingt ein frühes Motiv Adornos nach, hatte dieser doch schon Mitte der 1930er Jahre Walter Benjamin darin zugestimmt, dass in der Nützlichkeit der Dinge ihr Fluch und im Warenfetisch die praktisch gewordene Gestalt begrifflicher Identität zu sehen ist.19 In dieser Traditionslinie hält Adorno dreißig Jahre später fest, dass der Tausch falsches Bewusstsein schafft (ND, 190), denn zum einen funktioniert der Tausch als höchst reales gesellschaftliches Modell des abstrakten Identifikationsprinzips, so dass die Welt tatsächlich identisch ist (ND, 149). Weil zum anderen aber über den Tausch auf dem Markt das natürliche Recht des Stärkeren im Konkurrenzprinzip vergesellschaftet wird, kumuliert zugleich im Warencharakter nichts anderes als »vermittelte Herrschaft von Menschen über Menschen« (ND, 101).
Dem Eindruck, Adorno habe sich hier ganz ohne Not ein vulgärmaterialistisches sacrificium intellectus zu Schulden kommen lassen, indem er zentrale Gehalte der okzidentalen Philosophiegeschichte an die kontingente historische Wirklichkeit ausliefert, lässt sich entgegenhalten, dass Adorno der idealistischen Tradition mit einer Gefahrenwarnung begegnet ist. Davon zeugt in der Negativen Dialektik ein eindrucksvolles Bild, das der Metaphysik die Rolle einer strengen Kerkermeisterin zuweist: »Das Subjekt – selber nur beschränktes Moment – ward von ihr für alle Ewigkeit in sein Selbst eingesperrt, zur Strafe seiner Vergottung. Wie durch die Scharten eines Turms blickt es auf einen schwarzen Himmel, an dem der Stern der Idee oder des Seins aufgehe« (ND, 143).20 Wenn die Philosophiegeschichte eine Sackgasse darstellt, an deren Ende unweigerlich das Gefängnis des Selbst wartet, dann besteht zugleich die Notwendigkeit eines Ausbruchs, dessen Möglichkeit allerdings abhängig ist von einer Erweiterung der Perspektive über das mit den Mitteln des identifizierenden Begriffs in sich eingeschlossene Selbst hinaus auf die materielle Welt da draußen. In diesem Zusammenhang entfaltet Adornos negativ dialektische Einsicht in die Nicht-Identität des leidenden Leibs ihre wohl entscheidende Wirkung, denn sie verdeutlicht die von vorneherein bestehende, traditionell jedoch idealistisch ausgeblendete, faktische Zugehörigkeit der Menschen zu eben dieser materiellen Welt.
Dass Adornos Neuansatz eine mehr als nur tendenzielle Entwertung traditioneller Prämissen und Kategorien erfordert, hat er selbst offen eingeräumt: Gerade das, was Dialektik »Ärgernis bereitet«, ihr Nichtaufgehen, »ist der Wahrheitsgehalt, der ihr erst abzugewinnen wäre. Stimmig würde sie einzig in der Preisgabe von Stimmigkeit aus der eigenen Konsequenz«21. An die Stelle einer begrifflichen Identifizierung von Stimmigkeit rückt die dialektische Einsicht, dass eine Realisierung von Identität zu ihrer notwendigen Voraussetzung die historische Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit hat.
II.
Von dieser historischen Dialektik ist auch die somatische Widerlegung der begrifflichen Identität über die Einsicht in die grundsätzliche Nicht-Identität des leidenden Leibes betroffen: In Adornos Konzept ist kein Raum für eine bloße und vermeintlich heile Natur, die Leiden und Nichtidentität kompensieren könnte. Vielmehr hält schon die Dialektik der Aufklärung unmissverständlich fest, dass im ausweglos bis zur letalen Konsequenz entfalteten Recht des Stärkeren mit Vernunft und Zivilisation zugleich auch Natur fadenscheinig geworden ist: »Allein die abgefeimte Kraft, die überlebt, hat Recht. Sie selbst ist wiederum Natur allein, die ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt«22. Eine wie immer auch klare begriffliche Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft verliert ihre Überzeugungskraft angesichts dieser geschichtlich zu Tage getretenen Verschränkung zur Ununterscheidbarkeit, die ihr spezifisch dialektisches Moment23 darin besitzt, dass zum einen die menschliche Geschichte als Fortsetzung eines bloß natürlichen Fressen und Gefressen-Werdens erscheint (ND, 364 f.), während zum anderen zugleich die Unterdrückung der Natur selbst als Naturverhältnis auftritt (ND, 179): »Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft Übernatur« (ND, 285).
Gerade wegen der begrifflichen Unterscheidung zwischen Vernunft und Natur, so lässt sich Adornos Argumentation resümieren, herrscht in der Gesellschaft (noch) dasselbe Prinzip wie in der Natur: Zwang.24 Adorno bestimmt also auch die Natur konsequent negativ, nämlich als mythische Unausweichlichkeit von Untergang, Tod und Verwesung,25 und hält zugleich fest, dass ein Entkommen aus dem Naturzusammenhang überhaupt nur entstelltem Leben versprochen ist.26
Eine Erläuterung dieser zunächst etwas eigentümlich erscheinenden Wendung verlangt nach einer konsequenten Berücksichtigung der negativen Dialektik von Gesellschaft und Natur, in deren Bann schließlich auch der »heile« Leib unausweichlich verbleibt und also noch nicht der Immanenz entkommen ist. Schon im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno diesen Zusammenhang aufgespießt: »Vergnügtsein heißt Einverstandensein.«27 Diese wie immer provokativ verkürzte Formel weist nicht nur dem heilen Leib die Potenz unbefangen-hedonistischen Genießens zu, sondern unterstellt ihm, sicher nicht zu Unrecht, ein grundsätzlich affirmatives Verhältnis zum jeweils Bestehenden. Einen unbeirrt kritischen Orientierungspunkt liefert hingegen der entstellte Leib, dessen Leiden, eben ganz unabhängig vom jeweils Bestehenden, permanent das unbedingte Beharren auf einer notwendigen Veränderung produziert: »Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ›Weh spricht: vergeh.‹ Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis« (ND, 203).
Adornos entschiedene Zurückweisung des »heilen« Leibs markiert eine unüberwindliche Grenze zum emphatisch emanzipatorischen Verständnis der Biopolitik bei Michael Hardt und Antonio Negri, denn diese fassen »Leben« tendenziell überhistorisch, wenn sie in der »Multitude« eine von sich aus egalitäre progressive Kraft bemühen, welche die Immanenz des »Empire« tendenziell bricht.28 Für Adorno ist hingegen der somatisch fundierte Impuls nach dem Muster des »Weh spricht: vergeh« und damit der Affekt konkreter Akteure entscheidend – und eben nicht eine Ontologisierung von Begriffen wie Empire und Multitude, denen sich die Qualität einer »autopoetische[n] Maschine« zubilligen ließe.29
Die scharfe Differenz zwischen Adorno und Hardt/Negri lässt sich terminologisch markieren. Schließlich besitzt die von Hardt/Negri vorgelegte Diagnose einer als »Empire« bezeichneten neuen Souveränitäts-Logik im Zeichen immaterieller Arbeit30 ihre konstitutive Voraussetzung in der Diagnose, dass Natur und Kultur bzw. Gesellschaft einen Immanenzzusammenhang bilden.31 Wenn Adorno hingegen eben diese Immanenz explizit mit dem Prädikat »dialektisch« (ND, 145) belegt, dann hält er fest, dass die Verschränkung von Natur und Gesellschaft für die Reflexion allein so lange undurchdringlich bleibt, bis diese unversehens mit mimetischsomatischen Elementen konfrontiert wird und sich mit ihnen verbindet zu einem unmittelbaren Impuls zu Kritik, Veränderung und Befreiung.32
Erst entstelltes Leben, der als leidende nichtidentische Leib, durchbricht den Bann der Identität, der für das Bewusstsein undurchdringlich sein muss, weil Identität gerade sein Funktionsprinzip ausmacht. Auf diesem eminent rationalitätskritischen Muster gründet Adornos negative Moralphilosophie, die eine rein diskursive Behandlung zurückweist und stattdessen unablässig um ein »Moment des Hinzutretenden am Sittlichen« (ND, 358) als notwendiger Bedingung überhaupt für Moral kreist.33 Eine rein rationale Begründung von Moral erscheint Adorno ausgeschlossen; vielmehr kommt Wahrheit moralischen Sätze wie »Leiden soll nicht sein« nur zu, wenn ihnen ein unmittelbarer Impuls zugrundeliegt: »Wahr sind die Sätze als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden. Sie dürfen sich nicht rationalisieren; als abstrakte Prinzipien gerieten sie sogleich in die schlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit« (ND, 281).
Adornos Moralphilosophie ist hier nicht weiter zu verfolgen; ihre Bedeutung für die behandelten Zusammenhänge lässt sich mit Ulrich Kohlmann auf den Punkt bringen: »Moral ließe sich ohne denkendes Subjekt nicht konkretisieren, aber ohne Physis wäre sie schlechthin nicht.«34 An diese Diagnose ist die Einsicht anzuschließen, dass Adornos Kritik am Identitätsprinzip mit der Privilegierung des Somatischen, des leidenden Leibs, zum entscheidenden Element in der historisch-dialektischen Immanenz von Gesellschaft und Natur, eine strukturell große Nähe zu herrschaftstheoretischen bzw. -kritischen Motiven im aktuellen Diskursraum der Biopolitik aufweist.
Diesen Zusammenhang verdeutlicht schon eine knappe Vergegenwärtigung der Grundlagen dieses Projekts, die Michel Foucault 1978 / 79 in zwei Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität am Collège de France skizziert hat.35 In Foucaults historischer Analyse des Phänomens »Regierung« markiert die Entstehung der Politischen Ökonomie im aufkommenden Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts eine entscheidende Schwelle:36 Das liberale Credo von der Gesellschaft als Naturzusammenhang leistet einen argumentativen Rekurs auf die von der merkantilistischen und kameralistischen Staatsräson gerade verworfene Natur, fasst diese jedoch nicht mehr wie ehedem theologisch geprägt als Material eines Schöpfungsplans auf. Im neuen Verständnis, das sich gemeinsam mit der Durchsetzung des Liberalismus etabliert hat (und bis heute nachwirkt), entspricht der bemühte Naturzustand vielmehr einer vermeintlichen Naturalität der Gesellschaft, die etwa in den Prinzipien des Profits und der Konkurrenz (Adam Smith) sowie des Kampfes ums Dasein bei einem Überleben der Stärkeren (Darwin) auf dem seit dem 19. Jahrhundert etablierten sogenannten freien Markt ihren adäquaten Ausdruck finden soll. Foucault dekonstruiert diese Natürlichkeits-Überzeugung als historisch gewordene »zweite Natur« der bürgerlichen Gesellschaft, in der nicht mehr die Legitimität oder Illegitimität von Macht, sondern Erfolg und Misserfolg als leitende Kategorien wirken.37
In der Negativen Dialektik wird, ohne eine direkte Verwendung des Begriffs »zweite Natur«, der ihm entsprechende Gehalt anlässlich einer scharfen Kritik an Freud als »blinde und bewußtlose Verinnerlichung von gesellschaftlichem Zwang« (ND, 269) erfasst und als »inwendige Natur« ans Ende eines perfiden geschichtlichen Fortschreitens der Naturbeherrschung zur Herrschaft über Menschen gesetzt (vgl. ND, 314). Wenn ausgerechnet Zwang dasjenige Moment darstellt, das Natur und Gesellschaft vereinigt, fällt eine positive Besetzung beider Phänomene aus, so dass die Diagnose ausweglos erscheint. Adornos negative, materialistisch gewendete Moralphilosophie bezieht jedoch in dieser vermeintlich ausweglosen Situation die Position des ausgeschlossenen Dritten: »Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein« (ND, 294).
Mit der konsequenten Entwertung des subjektiv-idealistischen Betrachterstandpunkts lässt sich, einem Hinweis Miguel Vatters folgend,38 Adornos bemerkenswert dialektisches Fazit über den Wahrheitsgehalt von Kants Lehre vom Intelligiblen in der Negativen Dialektik einem Ansatz zur Seite stellen, den einer der wichtigsten Nachfolger Foucaults in die biopolitische Debatte eingebracht hat: Wenn Adorno wie nebenbei die herkömmliche Differenz zwischen Mensch und Tier aufhebt und das Potential zu einer Befreiung der Menschheit nicht etwa einer Negation der Animalität zuspricht, sondern einer entwertenden Überwindung des vorgeschichtlich-basalen abstrakten Gegensatzes von humanitas und animalitas,39 dann befindet sich diese Wendung in einer überraschenden Nähe zu Giorgio Agambens utopischer Idealvorstellung, die »anthropologische Maschine« außer Kraft zu setzen.40
In Agambens originärem Verständnis der Lebenswelt als eines maschinenartigen Prozesses gründet die semantische Erzeugung der Spezies »Mensch« (anthropos) gerade darauf, dass zoé (Leben) und bíos (Welt) nach dem Muster einer »einschließenden Ausschließung« bzw. »ausschließenden Einschließung« in einen permanenten Ausnahmezustand eingebracht werden, als dessen Endergebnis (nur) das »nackte Leben« übrigbleibt.41
Diese anthropologische Maschine aber, die Agamben in Das Offene anführt, funktioniert nach eben der Logik der Identifikation, die Adorno als »totalitär« und »zirkulär« bezeichnet (vgl. ND, 174), da keinerlei »reziproke Kritik« (ND, 149) zwischen dem ausschließenden Moment des Partikularen und dem einschließenden Moment des Universalen vermittelt (vgl. ND, 148 f). Der »dialektische Immanenzzusammenhang« von Natur und Gesellschaft (vgl. ND, 145), der für Adorno aus der Logik der Identifikation hervorgeht und eindrucksvoll die Dialektik der Aufklärung bezeugt, lässt sich mit Agambens biopolitischer Terminologie als Zustand beschreiben, in dem die anthropologische Maschine über die beständige Reproduktion der identifizierenden Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ein perfides Kontinuum des beherrschten Lebens erzeugt, in dem das tierische Leben vermenschlicht und das menschliche Leben animalisiert wird.
Auch Agamben sucht, wie Adorno, durchaus nach einem Ausweg und auch für Agamben kann, wie für Adorno, ein solcher sich nur durch den Abbruch der Identifikation ergeben: Erst eine Außerkraftsetzung der anthropologischen Maschine erlaubt die Hinsicht auf Nicht-Identisches, als das das tierische Leben in einer ansonsten (bei intakter Maschine) von anthropomorphen Identifikationen geschlossenen Welt erscheint.42 Miguel Vatter sieht ein Grundmuster »positiver Biopolitik«43 in Agambens Aufruf an den Menschen wirksam, die Rolle als »Hirte des Seins« anzunehmen, das heißt sich die eigene Animalität anzueignen, die »nicht versteckt bleibt und nicht das Objekt von Beherrschung wird, sondern als solche gedacht wird, als reine Verlassenheit.«44
Vor dem Hintergrund, dass nach der überzeugenden Darstellung Vatters auch Agambens Konzeptionen einen entscheidenden Initiationspunkt in der Kritik am Phänomen des Warenfetisch besitzen, wie sie Benjamin und Adorno in den 1930er Jahren entwickelt haben,45 lässt sich dieser Aufruf in eine Traditionslinie zu Adornos Utopie von einem über Identität wie Widerspruch hinausgelangten »Miteinander des Verschiedenen« (ND, 153) stellen, die sich an einer Stelle der Negativen Dialektik zudem mit einem ganz ähnlichen Appellcharakter vorgetragen findet: »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen« (ND, 192).
III.
Mit ihrer Privilegierung des als leidenden nichtidentischen Leibes zur somatisch-mimetischen Widerspruchsinstanz gegen das abstrakte Identitätsprinzip lässt sich Adornos materielle Metaphysik als eine weitere potentielle Einflussquelle neben Foucault in den maßgeblich von Agamben geprägten Diskursraum der Biopolitik einbringen. Zugleich weisen die beiden Ansätze jedoch auch unüberwindliche Differenzen auf. Die vorliegende Darstellung konzentriert sich im Folgenden darauf, anhand einer Thematik, die in beiden Konzeptionen gleichermaßen behandelt wird, eine unüberwindliche Grenze zu verdeutlichen: Sowohl Adorno als auch Agamben haben eine neue Ethik nach Auschwitz gefordert. Die jeweiligen Entwürfe stehen sich allerdings im Status absoluter Unvereinbarkeit unversöhnlich gegenüber.
Adorno hat seine neue Ethik in der Negativen Dialektik selbst bündig auf den Punkt gebracht: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe« (ND, 358). Mit diesem apodiktischen Postulat korrigiert Adorno zugleich selbst sein zeitgenössisch vielbeachtetes Diktum, »[…] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch […]«.46 Die entsprechende Argumentation in der Negativen Dialektik verdeutlicht jedoch, dass die Korrektur weniger den Gehalt als die Rezeption des berühmten Halbsatzes betrifft. Der Verweis auf die in Adornos Augen typisch bürgerliche »Kälte« als Voraussetzung gleichermaßen für Auschwitz wie für ein Weiterleben nach Auschwitz (vgl. ND, 355 f.) widerlegt das Klischeebild vom weltfremden Gelehrten bzw. eines »genialen, realitätsfernen Kindes«47, dessen entscheidende Wirkung sich auf die Rolle eines aus dem Exil zurückgekehrten, unbequemen Mahners und personifizierten Gewissens reduzieren und somit im Nachhinein bequem als Beitrag zum intellektuellen Gründungsmythos der BRD historisieren ließe.48
Schließlich spricht Adorno Auschwitz nicht nur über die unmittelbare Nachkriegssituation hinaus generell einen »überragenden Stellenwert für die Analyse der Gesellschaft im 20. Jahrhundert zu«.49 Vielmehr besitzt der »neue kategorische Imperativ« eine klare pädagogische Ausrichtung und ist auch von Adorno selbst direkt als Fundament für eine »negative Pädagogik« genommen worden, deren vorrangiges Ziel nur in der zukünftigen Verhinderung von Auschwitz bestehen kann.50 Mit seiner eigenen »negativen Ethik«51 richtet Adorno die Frage nach der Möglichkeit eines glücklichen, gelingenden Lebens gegen die Wirklichkeit des »beschädigten Lebens«, auf die schon der Untertitel der Minima Moralia kritisch Bezug genommen hat. Indem er unerbittlich die Übernahme von Verantwortung fordert, akzentuiert er das bestehende Prinzip der Ethik schärfer und richtet es als Forderung an die gesellschaftliche Wirklichkeit einer historischen Gegenwart nach Auschwitz.
Während also Adorno die historische Wirklichkeit nach Auschwitz kritisch an der Ethik gemessen und für zu leicht befunden hat, dient Giorgio Agamben Auschwitz im Gegenteil als Beleg für einen per se unrealistischen Charakter aller Ethik. Diese pragmatische Feststellung durchzieht als zentrale These den gesamten ersten Abschnitt von Was von Auschwitz bleibt, wo Agamben die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Veränderung der Ethik darlegt.52
Ausgehend von einer »autoreferentielle[n] Natur« des Urteils, nach der das Urteil mit der Strafe in eins fällt, warnt Agamben dabei eindringlich vor einer Vermischung ethischer und juristischer Kategorien.53 Die in Hinsicht auf einen Vergleich mit Adorno fraglos entscheidende Konsequenz besteht darin, dass Agamben, eben ganz im Gegensatz zu Adorno, die Kategorie der Verantwortung entschieden zurückweist, da sie für ihn, wie auch die Schuld, dem Recht und nicht der Ethik zugehört.54 Gerade aufgrund seines fraglosen Charakters eines Extremfalls eröffnet Auschwitz für Agamben die Möglichkeit, die Ethik von verfehlten Projektionen zu befreien, und dabei gleichsam nach dem Muster von Nietzsches genealogischer Moralkritik zu verfahren, die im Namen des Lebens beansprucht, den »Grundtext homo natura« wieder ohne Überschreibungen lesbar werden zu lassen.55 Im Resultat erkennt Agamben eine Reduzierung des Menschen auf sein »nacktes Leben«,56 das nichts fordert, sich nicht angleicht und nicht kommuniziert – und eben deswegen sowohl als einzige Norm anzusehen und zugleich absolut immanent ist.57
Wenn aber Auschwitz belegt, dass lediglich die Zugehörigkeit zur biologischen Gattung den Menschen verlässlich zum Menschen qualifiziert, dann verliert zugleich die Vorstellung einer ethischen Grenze ihren Sinn.58 Diesen paradoxen Zusammenhang verdeutlicht für Agamben das Phänomen des »Muselmanns«59, dessen ausführliche Analyse ihn zu der These führt, dass eine neue Ethik nach Auschwitz von der Unmöglichkeit einer Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch auszugehen hat.60 Indem nach dem Muster der »Einschreibung einer toten Zone in das Leben und einer lebendigen Zone in den Tod«61 in der Gestalt des Muselmanns der Nicht-Mensch als Mensch auftritt, wird das Menschliche des Menschen selbst in Frage gestellt. Schon in Homo sacer hatte Agamben diese Einsicht präsentiert: Eben weil in den Konzentrationslagern »die Juden […], ganz Hitlers Ankündigung gemäß, ›wie Läuse‹, das heißt als nacktes Leben vernichtet worden sind«, scheidet mit der Heiligkeit von Tod und Leben die traditionell angenommene Grundlage der Ethik als Fluchtlinie einer Bewertung aus, so dass zugleich der traditionelle Bereich der Ethik zwischen Religion und Recht entwertet und durch die Biopolitik ersetzt worden ist.62