Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37

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Was somit für Agamben »von Auschwitz bleibt«, ist seine eigene Homosacer-These, führt doch ein Abstreifen vermeintlich verfehlter Projektionen vom Kern der Ethik in letzter Konsequenz auf die Einsicht, dass nichts anderes als das nackte, dem Tod ausgesetzte Leben das ursprüngliche politische Element ist.63 Schon im ersten Homo-sacer-Buch hat Agamben festgehalten, dass der Muselmann der Homo sacer ist, und die Unschärfe (s)einer angemessenen Wahrnehmung als Homo sacer auf eine unangemessene moralische Überblendung mit einem Opferstatus zurückgeführt, die zugleich verdeckt, dass »wir alle virtuell homines sacri sind.«64
Dieser Schlüsselsatz bildet den Ausgangspunkt für Agambens Herleitung seiner These vom Lager als biopolitischem Paradigma und nómos der Moderne.65 Die Schlüssigkeit von Agambens These einer »inneren Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus«66 sowie seiner Argumentation für eine nicht historisch-spezifische, sondern strukturelle Lesart der nationalsozialistischen Lager67 muss an dieser Stelle nicht weiter beurteilt werden.68 Stattdessen ist zu der Generalisierung der Homo-sacer-Situation zurückzukehren, auf die Agambens neue Ethik führt. Aufgrund seiner Privilegierung einer strukturellen gegenüber einer historischen Perspektive ist diese für ihn keineswegs gleichbedeutend mit einer Relativierung von Auschwitz. So ist Auschwitz Todeslager, doch »zuvor noch« Ort eines nicht gedachten Experiments, bei dem Mensch und Nicht-Mensch zusammenfallen.69 Entscheidend ist dabei aber gar nicht die nicht neue Erfahrung, dass das Leben kein Leben mehr ist, sondern die wirklich neue Erfahrung, dass der Tod kein Tod ist.70
Mit dieser Einsicht stellt sich Agamben zunächst einmal ausdrücklich in einen Traditionszusammenhang mit Martin Heideggers Bremer Vorträgen von 1949.71 Heidegger hat bekanntlich vier Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus den millionenfachen Judenmord in den Konzentrationslagern nüchtern als historische Tatsache erwähnt und anstelle einer moralischen Wertung den entscheidenden Akzent darauf gelegt, dass das »Wesen des Todes« diesen Opfern nicht zukomme, da sie eben nicht als Menschen, d. h. in bewusster Konfrontation mit ihrem Tod, gestorben seien.72
Auch den von Heidegger geprägten Terminus einer »Fabrikation von Leichen«73 führt Agamben zunächst als Stütze seiner eigenen These an, nach der die traditionelle Ethik im Umgang mit Auschwitz versagen muss, da in den Konzentrationslagern eben keine Menschen, sondern bereits entmenschte Wesen gestorben seien.74 Bei der Frage der Ursache für die Entmenschlichung widerspricht Agamben dann aber Heidegger: Für diesen hat das Verstellt-Sein der existenziellen Erfahrung eines »Seins zum Tode« dafür gesorgt, dass in Auschwitz nicht gestorben, sondern lediglich umgekommen worden sei. Agamben sieht stattdessen Auschwitz aus der Erfahrung des Todes generell ausgeschlossen, weil für ihn der Ausfall der Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sterben gleichbedeutend mit dem Verlust der Grundlage für diejenige traditionelle Ethik ist, die auch noch Heideggers Diagnose leitet.75
Agambens Argumentation für eine Ersetzung der traditionell moralischen durch eine neue biopolitische Begründung der Ethik bezieht aus dieser Revision Heideggers auf eine durchaus nachvollziehbare Weise ihre philosophiegeschichtliche Legitimation. Weniger nachvollziehbar erscheint hingegen Agambens überraschender Rekurs auf Adorno als Beleg für die »Unfähigkeit der Vernunft« im Umgang mit Auschwitz, wird doch dessen Position, zumal seine eigene Ethik, schon grob verfehlt, wenn Agamben vermutet, Adorno hätte Heideggers Überlegungen zur »Fabrikation von Leichen« wohl zugestimmt.76
Nun hat Adorno zwar festgehalten, dass »in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar«, eben diesen Umstand aber doch als Bestätigung für das »Philosophem von der reinen Identität als dem Tod« (ND, 355) bezeichnet und damit als letztgültige Bekräftigung seiner ethisch fundierten entschiedenen Identitätskritik gefasst. So kann Agambens Auffassung nur irritierend erscheinen; gegen sie spricht schon das von Hassan Givsan aufgewiesene apologetische und revisionistische Moment, das Heideggers Formulierung im historischen Kontext unabweislich zukommt, da sie die Bedeutung persönlicher Schuld und Verantwortung herunterspielt.77 Heideggers Fabrikations-These leistet schließlich eine virtuelle Suspendierung der realen Taten und Täter, indem sie das reale Geschehen des Holocaust in den vermeintlich »höheren« Zusammenhang eines »Seins-Geschicks« einordnet. Ist aber das Böse als »vom Sein geschickt« zu betrachten, sind die Menschen bloß »Werkzeuge des Sich-ins-Werk-setzens der Wahrheit des Seins. So gibt es keine ›Schuld‹ und kein ›Entschuldigen‹.«78
Eben dieses Motiv hat auch Adorno bereits kritisch gegen Heidegger in Stellung gebracht:79 Indem dessen Geschichtsauffassung unbesehen dem jeweils geschichtlich Mächtigen »Seinsmächtigkeit« attestiert, lässt sie sich zugleich als Versuch lesen, »die Unterordnung unter historische Situationen zu rechtfertigen, als werde sie vom Sein selbst geboten« (ND, 135). Gerade diejenige grundsätzliche Abwertung der konkreten historischen Wirklichkeit gegenüber der Abstraktion des Seins, die Adorno hier bei Heidegger ausmacht, findet sich ungeachtet aller Abgrenzungen auch bei Agamben, der den millionenfachen Massenmord schließlich nicht als »Vollzug eines Todesurteils« bezeichnet wissen will, sondern als »Verwirklichung einer schieren ›Tötbarkeit‹, die der Bedingung des Juden als solcher inhärent ist.«80 Die Holocaust-Darstellung in Was von Auschwitz bleibt ist ungeachtet all ihrer Ausführlichkeit insgesamt sublimer und abstrakter als in der Negativen Dialektik. Bei Adorno brüllt der Gemarterte (vgl. ND, 355); bei Agamben herrscht das Schweigen der Muselmänner.81
IV.
Adornos bescheidenes Gegenprogramm zum unabweislich in Herrschaft verstrickten Identitätsanspruch, die Rettung des Nichtidentischen durch die Hinwendung auf das Somatische des leidenden Leibs, ist sicher der Biopolitik näher als der traditionellen akademischen Philosophie. Eine Kompatibilität zum biopolitischen Diskursraum wird beispielsweise unübersehbar, wenn Adorno das zentrale Problem bei einer Erfassung des Stofflichen, des materiellen Moments der Menschen, in der gefährlichen Tendenz ausmacht, dass der Mensch um seiner erfassten Nichtigkeit willen zum Objekt von Beherrschung herabgesetzt wird.82 Zugleich wird allerdings auch eine strukturelle Unvereinbarkeit mit der biopolitischen Diskurspraxis daran deutlich, dass Adorno die von ihm selbst diagnostizierte Tendenz nicht etwa positivistisch, und damit wertfrei, wahrnimmt, sondern nach dem Grundmuster kritischer Gesellschaftstheorie aus der Konfrontation einer schlechten konkreten Wirklichkeit mit besseren Möglichkeiten die Hoffnung auf Veränderung ableitet.83
Adornos Ansatz entzieht sich dem aktuellen Diskursraum der Biopolitik, indem er sich weder auf eine (wie immer auch kritisch intendierte) Beschreibung von qua definitionem unüberwindlichen Herrschaftspraktiken noch auf einen (bei aller Emphase letztlich nur begrifflich-abstrakt zu postulierenden) emanzipatorischen Perspektivenwechsel festlegen lässt. Stattdessen bezieht seine Konzeption eben die Position des ausgeschlossenen Dritten, die auch sein Verhältnis zur traditionellen (Moral-)Philosophie maßgeblich prägt, denn entscheidend ist gerade die Entwertung von logisch unüberwindlich erscheinenden Alternativen durch die Einbeziehung historisch-konkreter Konstellationen.
Und diese Sprengkraft geht auch bei einer Übertragung auf das Projekt der Biopolitik keineswegs verloren, erlaubt doch Adornos eigene Position im Gegenzug eine kritische Wahrnehmung dieses Projektes: Im Zentrum von Adornos Privilegierung des somatischen Moments steht, zumal nach Auschwitz, die originär kritische Dimension der Betrachtung, nämlich die Engführung biopolitischer Motive mit gesellschaftlicher Verantwortung. Bei Agamben fehlt dieses Motiv hingegen (wie schon bei Heidegger) völlig. Auch Foucault, der mit Adorno immerhin die Auffassung von der modernen Gesellschaft als »Freiluftgefängnis«84 teilt, kann mit dieser Verantwortung nichts anfangen, da ihn sein diskursives und konstruktivistisches Verständnis vom Individuum vor den konkreten Menschen schützt und ihm gar keine Wahrnehmung von Beschädigungen einer Entität erlaubt.85 Für diese pragmatische Ausschaltung der (tendenziell romantischen) kritischen Hinsicht auf die Möglichkeit von Veränderung bei Ansehung der Wirklichkeit hat Adorno eine drastische Formulierung gefunden: »Wer das Seiende unterschiedslos und ohne Perspektive aufs Mögliche der Nichtigkeit zeiht, leistet dem stumpfen Betrieb Beihilfe« (ND, 390).
Adornos kritischer Impetus provoziert freilich die geschichtsphilosophische Frage nach dem Verhältnis zwischen dem subjektiven Bewusstsein des Einzelnen und dem Weltlauf. Die Möglichkeiten und Chancen hat Adorno dabei sicher nicht überschätzt. Für seine durchaus realistische Wahrnehmung spricht schon die lose-lose-Situation, die er in der Negativen Dialektik skizziert hat:
»Subjektives Bewußtsein, dem der Widerspruch unerträglich ist, gerät in verzweifelte Wahl. Entweder muß es den ihm konträren Weltlauf harmonisch stilisieren und ihm, gegen die bessere Einsicht, heteronom gehorchen; oder es muß sich, in verbissener Treue zur eigenen Bestimmung, verhalten, als wäre kein Weltlauf, und an ihm zugrunde gehen« (ND, 155).
Hans-Ernst Schiller
In der Spanne eines Augenblicks
Messianische Motive bei Benjamin, Adorno und Horkheimer1
Anleihen am politischen Messianismus sind gefährlich, wie wir aus dem 1000-jährigen Reich der Deutschen wissen. Wer sich messianischen Motiven bei kritischen Theoretikern zuwendet, tut deshalb gut daran, sich der Tradition der Aufklärung zu versichern. Er muss sich abgrenzen gegen die messianische Verkleidung autoritärer Führer, die ihrer reaktionären Politik eine pseudoreligiöse Form zu geben suchen. Aus der Verehrung des einen Gottes, welche die Menschheit vereinigen soll, wird die Berufung auf eine höhere Macht, die das nationale Kollektiv begünstigt. Aus der Utopie des Friedens wird das Ziel einer imperialistischen Herrschaft, gegen die keiner mehr aufzumucken wagt. Und die Idee der Gerechtigkeit verwandelt sich in das maßlose Verlangen, den nationalen Stolz zu befriedigen. Wo hingegen die Anknüpfung an die messianische Tradition legitim ist, ruht sie auf einer universalistischen Moral, die sich aus der menschlichen Vernunft begründet.
1. Philosophie und messianischer Offenbarungsglaube bei Kant
Nach Kant liefert die autonome Moral die Gründe, welche Überzeugungen der Religion Gültigkeit beanspruchen können. Wenn der religiöse Glaube begründet ist, kann er »Vernunftglaube« heißen.2 Vernunftglaube ist also kein Glaube an die Vernunft, sondern ein religiöser Glaube, der durch die Vernunft legitimiert ist. Er ist zu unterscheiden vom Offenbarungsglauben, der sich auf die Autorität heiliger Schriften beruft. Die Gründe des Vernunftglaubens sind moralischer Natur. Sie erweisen den notwendigen Zusammenhang der Moral mit den Ideen von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Diese Ideen gelten als Möglichkeitsbedingungen zur Verwirklichung des von der praktischen Vernunft gebotenen Endzwecks, des höchsten Guts. Aber die Verbindung von Religion und Moral darf nicht die Autonomie der praktischen Vernunft gefährden; der moralisch Handelnde muss sich allein durch die kategorischen Forderungen der praktischen Vernunft bestimmen lassen, ohne auf eine irdische oder überweltliche Belohnung zu schielen. Religion ist durch Moral notwendig, aber nicht zur Moral.3
Das für Kant maßgebliche Dokument des Offenbarungsglaubens ist die Bibel.
»Der biblische Glaube ist ein messianischer Geschichtsglaube […] und besteht aus einem mosaisch-messianischen und einem evangelisch-messianischen Kirchenglauben, der den Ursprung und die Schicksale des Volks Gottes so vollständig erzählt, daß er von […] dem Weltanfang (in der Genesis), anhebend, sie bis zum Ende aller Dinge (in der Apokalypsis) verfolgt«4 .
Zwischen Vernunftglaube und Offenbarungsreligion besteht nach Kant nicht nur ein Gegensatz. Allerdings muss die Schrift so ausgelegt werden, dass sie mit dem Vernunftglauben in Übereinstimmung steht. Dabei müssen freilich die meisten Dogmen der auf die Bibel sich berufenden Religionsgemeinschaften verabschiedet werden, so z. B. die Messianität Jesu in dem spezifisch christlichen Sinn seiner Gottessohnschaft. Nachfolge bedeutet, in Jesus das Symbol der moralischen Vollkommenheit der Menschheit zu sehen, denn wenn er
»als die in einem wirklichen Menschen ›leibhaftig wohnende‹ und als zweite Natur in ihm wirkende Gottheit vorgestellt wird: so ist aus diesem Geheimnisse gar nichts Praktisches für uns zu machen, weil wir doch von uns nicht verlangen können, daß wir es einem Gotte gleich thun sollen, er also in so fern kein Beispiel für uns werden kann […].«5
Der Endzweck des moralischen Handelns ist das höchste Gut. Es wird bei Kant definiert als Verbindung von Moral und Glückseligkeit in ihrer Vollkommenheit. Bezogen auf die Gesinnung existiert diese Verbindung in einer unsichtbaren Kirche, dem Reich Gottes, das auf Erden in einer sichtbaren Kirche erscheint.
»Weil der Mensch die mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des höchsten Guts […] nicht selbst realisieren kann, gleichwohl aber darauf hinzuwirken in sich Pflicht antrifft, so findet er sich zum Glauben an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist, und nun eröffnet sich vor ihm der Abgrund eines Geheimnisses von dem, was Gott hiebei thue, […] indessen daß der Mensch an jeder Pflicht nichts anderes erkennt, als was er selbst zu thun habe, um jener ihm unbekannten, wenigstens unbegreiflichen Ergänzung würdig zu sein.«6
Grübeln über das Zutun Gottes ist also sinnlos, seine nähere Bestimmung bloße Einbildung. Wie die Vorstellung von Jesus als göttlicher Person uns von der Erfüllung unserer moralischen Pflichten eher ablenkt als uns zu ihr anspornt, so schwächen alle messianisch-apokalyptischen Phantasien die Autonomie der praktischen Vernunft, die Unbedingtheit ihrer Forderung.
Neben der metageschichtlichen Dimension des höchsten Guts, dem inwendigen Reiche Gottes, in dem die moralische Gesinnung herrscht und das in einer Kirche nur erscheint, gibt es für Kant auch eine geschichtlich-politische Dimension. Es ist die des Rechts, das die äußeren Verhältnisse der irdischen Vernunftsubjekte zueinander betrifft. Das von praktischer Vernunft gebotene Ziel ist die Verrechtlichung der Verhältnisse der Individuen in den Staaten und der Verhältnisse der Staaten in einem Völkerbund. Ohne die Herrschaft des Rechts gibt es keinen Frieden. Da sich Kant bewusst ist, dass die Idee des Friedens historisch zunächst im Zusammenhang messianischer Hoffnung stand, bemerkt er: Auch die Philosophie könne ihren Chiliasmus haben.7
Kant meint natürlich nicht, dass die Philosophie es der Offenbarung des Johannes gleichtun und ein messianisches Reich des Friedens und der Gerechtigkeit voraussagen könne, welches buchstäblich 1000 Jahre bis zum Ende dieser Welt währen soll.8 »Chiliasmus« ist hier vielmehr ein Bild, das auf einer Analogie, einem Vergleich ähnlicher Verhältnisse beruht. Wer sagt, dass die Flossen die Beine des Fisches sind, behauptet nicht, dass der Fisch Beine hat. Er hat vielmehr einen Vergleich unter dem abstrakten Begriff des Fortbewegungsorgans angestellt, der beides, Flosse wie Bein, umfasst. Wer das Marx’sche Kapital als »Bibel der Arbeiterklasse«9 bezeichnet hatte, konnte im Ernst nicht meinen, dass dieses Buch eine göttliche Offenbarung ist. Er hat vielmehr, mit welchem Recht auch immer, Ähnlichkeiten zwischen der Haltung der Autoren oder der Rezipienten festgestellt: So wie der Gläubige nicht am Wort Gottes, so zweifeln Proletarier nicht an den Analysen und Prognosen des Karl Marx. Bei der kantischen Formulierung, dass auch die Philosophie ihren Chiliasmus haben könne, ist der abstrakte Vergleichspunkt sowohl der Inhalt der irdischen Zielvorstellung als auch sein Verhältnis zur Transzendenz. Im Medium der Begriffe, genauer: der Rechtsbegriffe, die in der Vernunft ihren Ursprung haben, wird, wie im Medium der religiösen Vision, die Idee des irdischen Friedens artikuliert; und beide Male ist sie nicht ein Letztes, sondern wird von der Hoffnung auf eine universale Gerechtigkeit, die auch den Toten zuteil wird, übertroffen.
Indem bei Kant an die Stelle der biblischen Geschichten die Begriffe der Vernunft treten, werden Moral und Theologie aus einer ausschweifenden kirchlichen zu einer knappen philosophischen Angelegenheit. Nicht jede Verbegrifflichung ergibt, wie der kantische »Vernunftglaube« zeigt, eine Verweltlichung oder »Säkularisation«. Das freilich ist der Fall bei der Verwandlung von Hoffnungen, die sich mit der Gestalt eines Messias verbanden, in Zielbegriffe menschlich-geschichtlichen Handelns.
2. Messianismus und Benjamins Löschblatt
2.1 Theologiekritische Voraussetzungen und messianische Motive
»Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.«10 Diese Äußerung Adornos zeigt, dass bei ihm nicht nur die »Rationalisierung« der Religion, wie sie im Zeitalter der Aufklärung vollzogen wurde, historische Voraussetzung ist, sondern auch die ihr folgende Religionskritik von Autoren wie Feuerbach und Marx. Adorno sieht »keine andere Möglichkeit als äußerste Askese jeglichen Offenbarungsglauben gegenüber«11 und verwirft zugleich die Begriffsreligion Kants, die er freilich missversteht.12 Horkheimer erinnert an Schopenhauer, dem zufolge »Gläubige, die einen Weltschöpfer, gar einen gütigen, anbeten, […] irregeleitet« sind.13 Benjamin schließlich hat seiner theologiekritischen Haltung einen wunderbaren metaphorischen Ausdruck verliehen: »Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.«14
Von »Messianismus« in ursprünglicher Bedeutung dürfte unter dieser Voraussetzung eigentlich keine Rede mehr sein. Der Messias, der Gesalbte – griechisch Christos – ist nämlich, was immer er sonst sein möge, ein Auserwählter und Gottgesandter, ein Werkzeug des Herrn. Unter theologiekritischen Prämissen kann es nur »messianische Motive« geben, Motive also, die sich der Auseinandersetzung mit dieser religiösen Tradition verdanken, von ihr angeregt sind, sie aber auch den neuen gedanklichen Vorausetzungen gemäß verändern, ihnen anverwandeln. »Motive« werden dabei die messianischen Offenbarungen in einem genauen Sinn: Beweggründe des menschlichen Handelns, in dem allein, wenn irgend, sich jene Hoffnung verwirklichen können.
Der Gang vom Messianismus zu den messianischen Motiven ist ein Prozess der Säkularisation. Verweltlicht werden die Ziele durch rationale Begründung und die Mittel als menschliche Taten. Wer freilich Motive ausmachen will, die sich einer Säkularisierung von Vorstellungen über das Wirken des Messias verdanken, muss sich zunächst im Klaren darüber sein, dass es »den Messias« in der Religionsgeschichte nicht gibt. Zu unterscheiden sind zumindest der jüdische und der christliche Messianismus, wobei sich auch im Islam messianische Vorstellungen finden lassen.15 Selbst »innerhalb des Judentums wie innerhalb des Christentums [existieren] unterschiedliche Messias-Vorstellungen mit gänzlich verschiedenen Zeit-, Zwischenzeit-, Epochen-, Geschichts-, Reichs- und Weltvorstellungen nebeneinander […], und zwar schon in den Quelltexten der jeweiligen heiligen Schriften.«16 Wir beschränken uns hier auf biblische Texte,17 wobei sich im Hinblick auf unsere Absicht zwei Fragestellungen unterscheiden lassen. Die eine betrifft die Gestalt des Messias, sein Verhältnis zum historischen Geschehen und die Begleitumstände seines Auftretens. Die andere Fragestellung betrifft die Verheißungen, die sich an sein Auftreten knüpfen, die Bestimmungen des messianischen Zustands.
2.2 Das Werk des Messias: Gerechtigkeit und Friede
Diese Bestimmungen des messianischen Zustands lassen sich unter den Begriffen der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit und des Friedens zusammenfassen. Im messianischen Zustand gibt es keine Abgötterei und keinen Verstoß gegen die göttlichen Gebote. Es gibt somit keine Ungerechtigkeit, insbesondere keine Ausbeutung.18 Vom Friedensfürsten heißt es in Psalm 72: »Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen. […] er wird den Armen erretten, der um Hilfe schreit, und den Elenden, der keinen Helfer hat. […] Er wird sie aus Bedrückung und Frevel erlösen […].« Ein solcher durch Gerechtigkeit geschaffener sozialer Friede ist das erste messianische Motiv, dem sich eine säkulare, von theologischen Voraussetzungen unabhängige Form geben lässt.
Die Vorstellung des sozialen Friedens ist schon in den biblischen Verheißungen eingebettet in die Utopie eines Völkerfriedens. Die eindrucksvollste Stelle findet sich bei Micha, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts wirkte (sie ist von seinem Zeitgenossen, dem ersten Jesaja übernommen worden): Der Herr »wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben […]« (Micha 4, 3 f.). Bemerkenswert an solchen Visionen – man denke an Deuterojesaja 45, 22 f. und 49, 6 – ist ihre universalistische Dimension, die philosophisch vor allem von Hermann Cohen hervorgehoben wurde.19 Schließlich ist die Friedensutopie bei einigen Propheten auch auf die den Menschen umgebende Natur ausgedehnt: Da »werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben« (Jesaja 11, 1-9).
2.3 Messianismus und Eschatologie; Auferstehung
Der Friede in und mit der Natur ist das letzte Motiv, das in der neueren Philosophie verweltlicht wurde. Nicht schon in der Aufklärung, sondern erst unter dem Eindruck der mit der Industrialisierung unvorhersehbar gesteigerten Naturbeherrschung wird der Naturfriede zu einem Moment der Utopie, die in menschlicher Praxis wirklich werden muss. Es nimmt mit Tritojesaja eine eschatologische Form an: »Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird« (Jes. 65, 17). Die messianische Utopie tritt in Beziehung zur Vorstellung des Endes aller Tage, der letzten Dinge, so zum ersten Mal bei Deuterojesaja (51, 6), aus den letzten Jahren des babylonischen Exils.20 Vom zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis ins erste Jahrhundert n. Chr. wird die Eschatologie in einer weit verzweigten apokalyptischen Literatur ausgearbeitet, von der nur das Buch Daniel kanonisch wurde. Die Katastrophen, die als geschichtliche in Form sozialer Bedrückung und kriegerischer Eroberungen, Zerstörung und Verschleppung dem Kommen des Messias vorausgehen, erhalten in der Eschatologie eine kosmische Dimension. Ideengeschichtlich ist diese Weiterung auf den Einfluss der persischen Religion zurückzuführen, die den jüdischen Eliten im babylonischen Exil bekannt wurde. Die Vereinigung der Messias-Tradition mit der Eschatologie hat zu unterschiedlichen Konzeptionen geführt.21
Mit der Eschatologie verbindet sich ein Motiv, das für unsere Säkularisierungsproblematik von entscheidender Bedeutung ist: die Auferstehung der Toten und der Sieg über den Tod. Eine Schlüsselstelle findet sich im Buch Daniel aus der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts: »Zu jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einem zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande« (Daniel, 12, 1 f.). Schließlich wird die Verheißung von der Wiederkehr Christi mit dem Gedanken der Auferstehung, des Totengerichts und des endgültigen Siegs über den Tod verbunden. Die Offenbarung des Johannes nimmt das Gesicht (die Vision) des dritten Jesaja auf: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde […] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. […] Siehe, ich mache alles neu!« (20,1-59).