Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37

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2.4 Säkularisierung der messianischen Eschatologie bei Walter Benjamin
Auf den ersten Blick lässt sich die Vorstellung von Auferstehung und Sieg über den Tod nicht mehr säkularisieren. Tatsächlich aber ist eben dies in Benjamins Geschichtsdenken unter den Begriffen der Rettung, des Eingedenkens und der Aktualisierung (Vergegenwärtigung) geschehen. Diese Transformation der Auferstehungshoffnung ins Historische hat auf die Stellung zum Messianischen insbesondere bei Adorno einen unübersehbaren Einfluss, wenn sie auch keineswegs unmittelbar übernommen wird. Für Benjamin ist in seiner materialistischen Phase der messianische Begriff der Erlösung von dem historischen der Befreiung nicht zu unterscheiden. Die klassenlose Gesellschaft, um die der historisch-revolutionäre Kampf geführt wird, ist eine »Welt allseitiger und integraler Aktualität.«22 In ihr gibt es universale Erinnerung oder vielmehr ein Eingedenken, in dem das Vergangene »zitiert«, vollzogen und so vergegenwärtigt und in diesem Sinne auch verlebendigt wird. Das bringt die dritte These über den Begriff der Geschichte zum Ausdruck:
»Der Chronist, welcher die Ereignisse hergezählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit die Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.«23
Im Unterschied zum eschatologischen Vergessen des Alten ist der Stand der Erlösung für Benjamin eine historische Existenz: »Die ewige Lampe ist ein Bild echter historischer Existenz. Sie ist das Bild der erlösten Menschheit – der Flamme, die am jüngsten Tag entzündet wird und ihre Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat.«24
Natürlich liegt der Einwand nahe, dass auch eine solche historische Transformation der Auferstehungshoffnung die Toten nicht wirklich lebendig macht und die eschatologische Vorstellung sich somit nicht ohne Rest säkularisieren lässt. Während wir bei der Utopie des Friedens wenigstens denken können, dass ihre Verwirklichung das Resultat menschlicher Anstrengung ist, und wir einzelne Schritte angeben können, die uns diesem Ziel vielleicht näher bringen, kann dies für die Hoffnung gegen die Endgültigkeit des Todes nicht gelingen. Wir müssen also damit rechnen, dass sich an die Gestalt des Messias eschatologische Hoffnungen knüpfen, die sich nicht ohne Rest säkularisieren lassen, ohne darum an Berechtigung und Bedeutung zu verlieren.
2.5 Die Gestalt des Messias, Art und Umstände seines Eingreifens
Auch was die Gestalt des Messias und die Weise seines Auftretens betrifft, lassen sich der biblischen Tradition Bestimmungen entnehmen, die sich als messianische Motive bei Benjamin (sowie bei Adorno und Horkheimer) wiederfinden lassen. Der Ausdruck »Messias« leitet sich aus dem Partizip Perfekt des hebräischen Worts für »Salben« ab. Der Gesalbte ist ursprünglich König, Priester oder Prophet, die Salbung selbst Ausweis einer göttlichen Legitimation. Zum Verheißenen und Erwarteten wird der Messias erst unter dem Eindruck der politischen Katastrophen, denen die Nachfolgestaaten des Reichs Davids ausgesetzt waren. Ein restauratives Moment in den Verheißungen der Propheten wird darin deutlich, dass der Messias aus dem Hause Davids stammen soll.25 Dabei ist die Rolle eines Messias in den Verheißungen der Propheten keineswegs zentral. Was sich ankündigt, ist der Tag des Herrn, der vor allem ein Tag des Gerichts und der Strafe ist. Erst im zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr., übrigens im Zusammenhang mit einer Ausweitung apokalyptischer Erwartung, gewinnt die Hoffnung auf den Messias als gottgesandten Menschensohn – sei er Priester, König oder Prophet – an Bedeutung. Wie die Resonanz der Taufpredigten Johannes des Täufers zeigt, hat die messianische Erwartung im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung einen hohen Grad der Erregung und Verbreitung erreicht.
Die Vorstellung des Messias als einzelner Person ist einer Säkularisierung eigentlich nicht zugänglich. Wo sie aus ihrem theologischen Kontext gelöst und aufrechterhalten wird, verkommt sie zu einer irrationalen Führerideologie, die mit den unklaren Sehnsüchten der Massen spielt. Andererseits muss eine Kollektivierung der Messiasvorstellung nicht ohne weiteres ihre Verweltlichung bedeuten. Für Hermann Cohen ist – kantianisch, aber abweichend von der dem Judentum wenig gewogenen Bibellektüre Kants – der Messias das »Symbol« der zukünftigen, im Glauben an den einen Gott vereinten Menschheit: »[…] die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit, das ist der Inhalt der Messiasidee«26. Säkularisiert ist dieser Gedanke in Erich Fromms Interpretation der prophetischen Verheißung, der zufolge der Messias »ein Symbol der eigenen Anstrengung« ist.27
Ebenfalls kollektiviert und säkularisiert ist die Messiasgestalt in Benjamins Vorstellung von der Praxis des revolutionären Proletariats oder allgemeiner: vom »Subjekt der Geschichte«, welches »die kämpfende unterdrückte Klasse in ihrer exponiertesten Situation« ist.28 Dem Proletariat sei eine »schwache messianische Kraft mitgegeben«29 – und ebenso dem Historiker, der das Bild der Vergangenheit festzuhalten und zu entfalten sucht, das im Augenblick der Gefahr und der revolutionären Aktion aufblitzt. Die Messianität des Subjekts der Geschichte – der geschichtlichen Tat sowohl wie der ihr zugehörigen Geschichtsschreibung – ist also zunächst definiert durch die Aufgabe, Vergangenes für das universale Eingedenken zu retten. Es gilt, ein unwiederbringliches Bild festzuhalten, »das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.«30 Die Verwendung der religiösen Termini ist in Benjamins eigener Reflexion eine »Indienstnahme« der Theologie für die Praxis und Theorie der sozialen Revolution. »Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muß sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst.«31 Die Selbstinterpretation in theologischen Begriffen – und deren Instrumentalisierung ist schon ihre Verweltlichung – kommt der revolutionären Sache in Benjamins Augen vor allem deshalb zugute, weil Hass und Opferwillen »sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Bild der befreiten Enkel«32 nähren.
Auch das Auftreten des Messias und seine Begleitumstände können ein säkulares Denken der Befreiung inspirieren. Da ist zunächst das Beieinander von Unheil und Heil wie noch in Hölderlins Patmos-Hymne: »wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.« In der Bibel sind Gefahr und Rettung das Wirken Gottes. In einer säkularen Betrachtung gibt es für das Katastrophische zunächst zwei Möglichkeiten: Es ist entweder Manifestation der durch die Zivilisation unterdrückten finsteren Natur des Menschen oder eine Reaktion auf die Einschränkungen, die Zivilisation der menschlichen Natur überhaupt auferlegt, also eine innerhistorische Kraft, kein Ausbruch von unten. Möglicherweise können diese beiden Modelle auch ergänzt und kombiniert werden, wichtiger jedoch ist, dass es eine weitere Möglichkeit der Säkularisierung gibt, nämlich die strikte Veralltäglichung des Katastrophalen, wie sie von Walter Benjamin vollzogen wird: Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe – natürlich nicht für die jeunesse doreé, sondern für die im Dunkeln.33 Angesichts dieser Alltäglichkeit des Katastrophischen, die im Ablauf der Zeit Trümmer auf Trümmer häuft, kann der wahre Fortschritt nur darin bestehen, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.«34 Diese Zeitvorstellung ist in der Tat »messianisch«, denn auch »der Tag des Herrn« setzt ein Ende, bricht eine historische Dauer ab, ist nicht das immanente Ziel einer Entwicklung. In der Metapher des Sprengens aber kommt die Immanenz der befreienden Kraft zum Ausdruck.
Die Vorstellung, dass das Anwachsen und die Vollendung des Negativen das Heil, die Erlösung, fördert oder sein Nahen anzeigt oder zumindest sein Wesen verdeutlicht, gehört zu den unverkennbar messianischen Motiven auch in der Philosophie von Adorno und Horkheimer. Es ist dann auch nur konsequent, wenn eine wirkliche Veränderung nur noch von dem Augenblick erwartet wird, für den es keine Vorbereitung gibt, der also schon der nächste sein kann.35 Der Minima Moralia zufolge schließt »die vollendete Negativität, einmal ganz anders ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils«36 zusammen. In der Dialektik der Aufklärung heißt es zur Ideologie des faschistischen Tickets: »Während es keine Wahrheit zuläßt, an der es gemessen werden könnte, tritt im Unmaß seines Widersinns die Wahrheit negativ zum Greifen nahe, von der die Urteilslosen einzig durch die volle Einbuße des Denkens getrennt zu halten sind.«37 Es ist eine original messianische Haltung, die Befreiung in jedem Moment zu erwarten, gerade weil die Last so drückend geworden ist, dass keine planende Vorbereitung mehr möglich scheint. Aber diese Haltung ist eine Schwundstufe revolutionärer Hoffnung auch da, wo sie sich so eindrucksvoll äußert wie in Horkheimers Worten von 1941:
»So verstümmelt alle auch sind, in der Spanne eines Augenblicks könnten sie gewahr werden, daß die unter dem Zwang der Herrschaft durchrationalisierte Welt sie von der Selbsterhaltung entbinden könnte, die sie jetzt noch gegeneinander stellt. Der Terror, der der Vernunft nachhilft, ist zugleich das letzte Mittel, sie aufzuhalten, so nah ist die Wahrheit gekommen.«38
3. Messianische Motive bei Adorno
3.1 Motiv der Rettung; Auferstehungshoffnung und Transzendenz
Das messianische Motiv, das im philosophischen Denken Adornos im Mittelpunkt steht, ist das Motiv der Rettung. Sie sei »der innerste Impuls jeglichen Geistes«.39 Erstaunlicherweise zieht Adorno die säkularisierte Version dieses Motivs, wie es sich bei Benjamin findet, nicht in Betracht. Für ihn ist nicht mehr und nicht weniger gemeint als »leibhafte Auferstehung«, die ihm als Inhalt christlicher Dogmatik vor Augen steht.40 Angesichts der oben erwähnten theologiekritischen Voraussetzungen kann Adornos Position nur in Paradoxa gipfeln: »Wer an Gott glaubt, kann deshalb an ihn nicht glauben. Die Möglichkeit, für welche der göttliche Name steht, wird festgehalten von dem, der nicht glaubt.«41 Das gleicht von ferne dem Leitmotiv der Bloch’schen Religionsphilosophie, nach der nur ein Atheist ein guter Christ sein kann, aber eben nur von ferne. Denn bei Bloch wird der Gegensatz von Erlösung und göttlicher Herrschaft betont, während sich Adorno für einen Abbruch der Reflexion einsetzt: »Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr und arbeitet ihr entgegen.«42 Aus welchem anderen Grund aber sollte ihre Reflexion der eschatologisch gefassten Hoffnung entgegenarbeiten, als dass sie deren Grundlosigkeit zu Tage fördern könnte? Eine Hoffnung, die nicht mehr gedacht werden kann, hat jedoch keinen Inhalt mehr und verdient diesen Namen nicht. Eschatologische Hoffnung verdankt sich der Verheißung oder wenigstens einem Vernunftschluss, der auf Transzendentes – ein Anderes als diese Welt – geht. Wird weder das eine noch das andere geglaubt, kann sich jene Hoffnung nicht erhalten. Sie zieht sich zurück auf ein unbestimmtes Sehnen: »Keine Transzendenz ist übrig als die von Sehnsucht.«43 Aber die Sehnsucht beweist nicht, dass es das Ersehnte gibt. Was bleibt, ist eine wehmütige Erinnerung, die von der stets sich erneuernden Sehnsucht wach gehalten wird. Für sie kann allerdings gelten, dass ihr Fehlen das Menschliche um eine wichtige Dimension ärmer macht.
Das Denkverbot über die Hoffnung ist umso unverständlicher, als Adorno behauptet, dass Erkenntnis auf den Gedanken der Erlösung, Wahrheit auf den des Absoluten, Geist auf eschatologische Hoffnung angewiesen ist. Reklamiert wird »die Erfahrung, daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre.«44 Adorno setzt die Erfahrung dem Argument entgegen, aber metaphysische Erfahrung selbst, in der das Moment des Dabeiseins des individuellen Subjekts betont werden soll, ist notorisch unverlässlich.45 Deshalb ist es auch für Adorno nicht möglich, den Antinomien des Argumentierens durch die Berufung auf Erfahrung auszuweichen. Dass der Gedanke, wenn er sich lebendig halten will, in die Transzendenz der eschatologischen Hoffnung münden muss, wird in einer erkenntnistheoretischen Überlegung behauptet. Es ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der spezifischen Weise, in der Adorno Philosophie und Theologie verbindet, dass er dabei nicht, wie Kant und Bloch, von der praktischen Vernunft ausgeht, sondern wahrheitstheoretisch zu argumentieren sucht.46
3.2 Wahrheitsbegriff und eschatologische Hoffnung
Das zentrale Argument besagt, dass die Wahrheit dauern muss, um Wahrheit zu sein. Es bleibt allerdings unklar, wo hier die Beziehung zum individuellen Tod sein soll. Der Gedanke, »der Tod sei das schlechthin Letzte«, ist nach Adorno »unausdenkbar«. »Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken. Denn es ist ein Moment von Wahrheit, daß sie samt ihrem Zeitkern dauere«47. Nun lässt sich daraus, dass ein mit einem Zeitindex versehener empirischer Satz zu jedem Zeitpunkt, an dem er geäußert wird, gültig sein muss, sicher nicht schließen, dass er in alle Ewigkeit muss ausgesagt werden können. Dies würde bedeuten, dass jede relative Wahrheit Element eines absoluten Wissens sein muss, das an keinen Zeitindex mehr gebunden ist. Möglicherweise ist der Begriff eines absoluten Wissens notwendig, um die Relativität des menschlichen Wissens zu erkennen; daraus folgt aber nicht – so hatte schon die kantische Kritik der theoretischen Vernunft argumentiert – dass es das Subjekt dieses Wissens gäbe.
Jedoch bedeutet Adornos Argument vielleicht nicht mehr, als dass es für die Anstrengung der Erkenntnis notwendig ist, für jemanden zu schreiben, der, wenn die Mitwelt taub und die Nachwelt womöglich noch unzugänglicher wäre, nur ein »eingebildeter Zeuge«48 oder gar einzig der totgesagte Gott sein kann.49 Und das ist schwerlich völlig falsch: Denn jeder Versuch, etwas zu sagen, das nicht den gängigen Konventionen sich unterordnet, geht an die Grenzen der Sprache, enthält ein individuelles Moment, das nur missverstanden werden kann, und wendet sich so an einen imaginären, unbekannten Hörer. Der Gedanke einer so verstandenen Dauer ist freilich nicht mehr als die subjektive Bedingung dafür, die Anstrengung der Erkenntnisarbeit auf sich zu nehmen; in diesem Sinne kann der Satz verstanden werden, ohne Transzendenz würde sich Erkenntnis zum absolut Gleichgültigen.50
Allerdings ist noch völlig ungeklärt, warum dieser Gedanke der Transzendenz den Sieg über den Tod implizieren muss. Geschichtlich hat das Judentum Jahrhunderte lang den Begriff des transzendenten, ewigen und allwissenden Gottes gekannt, ohne die Überwindung des menschlichen Todes daran zu knüpfen. Und logisch gesehen fordert die Aufbewahrung eines endlichen Wissens im Absoluten nicht die Erhaltung seines Trägers, nicht einmal dann, wenn wir einen anderen Begriff von Wahrheit und Erkenntnis geltend machen als jenen objektiven, der alle Beziehung auf die subjektive Lebendigkeit des Erkennenden eliminieren möchte. Einen solchen Wahrheitsbegriff müssen wir bei Adorno voraussetzen; es ist der von Affinität im Unterschied zum klassischen der adaequatio.51 In ihm soll am Objekt, das den Vorrang hat, Nichtidentität hervortreten können, deren Organ im Erkennenden der begriffslose Teil am begrifflich identifizierenden Denken ist: mimetischer Ausdruck. Adornos Wahrheitsbegriff misst sich am »Äußersten, das dem Begriff entflieht«, nämlich an der sinnfernen Schicht des Somatischen als dem Schauplatz des Leidens. Alles andere als der Versuch, ihm Ausdruck zu verleihen, ist für Adorno »vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.«52 Es ist demnach »das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, Bedingung aller Wahrheit.«53 Erst ein Denken, das in sich Drang, Bedürfnis, Verlangen wahrzunehmen vermag, beginnt unter Wahrheit den Ausdruck des Leidens zu verstehen; und erst wenn Wahrheit so verstanden wird, erweist sich Dauer als ihre notwendige Eigenschaft: Sie wird zum Eingedenken, das die Erinnerung an vergangenes Leid bewahren soll.
Auch in dieser Version ist das Beweisziel nicht erreicht. Es bleibt unklar, warum die Voraussetzungen, unter denen die Hoffnung des Eingedenkens säkularisiert werden musste, nicht mehr gelten sollen, wenn aus ihr ein Begriff mimetisch-expressiver Wahrheit entwickelt wird. Vor allem wäre zu bedenken, dass die Hoffnung des Eingedenkens, ob eschatologisch oder geschichtlich gefasst, eine Hoffnung einzig um der Vergangenheit willen ist. Dies bedeutet nicht, dass Hoffnung aus dem Vergangenen kommt, wie Adorno interpretiert,54 sondern dass wir nur für die Toten – die nicht mehr hoffen können – hoffen dürfen.55 Hoffnung für die eigene Person wäre als Ausgangspunkt egoistisch und würde vor allem die Aktualität der messianischen Befreiung negieren: Wenn jeder Augenblick die kleine Pforte sein kann, durch die der Messias kommt,56 brauchen wir uns um unsere Zukunft keine Gedanken zu machen. Andererseits: Wenn das Totengericht und die Auferstehung glaubhaft sind, ist das menschliche Gedächtnis vergangenen Leidens überflüssig.
3.3 Der Schlussaphorismus der Minima Moralia: Erkenntnis und Erlösung
Auch der Schlussaphorismus der Minima Moralia behauptet einen engen Zusammenhang zwischen Erlösungshoffnung und Erkenntnis: »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.«57 Einzig im messianischen Licht erscheint die Welt so, wie sie erkannt werden muss, aber von selbst sich nicht zu erkennen gibt, nämlich zerrissen, diskontinuierlich, bedürftig. »Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird.«58 Erlösungshoffnung gibt sich hier als ihrer Sache gewiss, ihr Gehofftes erscheint als Quelle des Lichts, in dem allein die Dinge wirklich gesehen werden können, mithin als objektive Bedingung ihrer Erkennbarkeit. Freilich wüsste man gerne, woraus – angesichts von Verzweiflung – eine solche Gewissheit sich speist. Zunächst jedenfalls ist »Erlösung« etwas Subjektives, ein Gedanke, eine Hoffnung, ein »Standpunkt«: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten.«59 Der Konjunktiv verweist auf ein Gesetztsein, etwas Fakultatives; als »Standpunkt« ist die Erlösung ein »Als ob«. Was als nicht bloß Subjektives gewiss ist – »das Licht, das von der Erlösung her auf die Welt scheint« – ist unmittelbar zuvor eine subjektive Veranstaltung. Wäre die Erlösung objektiver Grund der Erkenntnis, bräuchte sie kein Standpunkt zu sein. Insofern zeugt der ganze Aphorismus von dem, was der Schlusssatz ausspricht: dass »die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig«60 ist.
Nach Adorno ergibt sich diese Gleichgültigkeit erst aus den Schwierigkeiten, ja der Unmöglichkeit, den Standpunkt der Erlösung überhaupt einzunehmen. Erkenntnis im messianischen Licht ist »das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat.«61 Der Standpunkt der Erlösung ist deshalb unmöglich einzunehmen, weil er etwas Subjektives ist, errungen und abgetrotzt, eben »Standpunkt« ist. Damit aber ist der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Erlösung wieder zerrissen. Weil »jede mögliche Erkenntnis« dem Bestehen »abgetrotzt« werden muss, ist sie ihm auch verfallen und befindet sich nicht auf einem Standpunkt jenseits desselben. Verständlicherweise hat Adorno auch nie versucht, Erkenntnisse, die er, wie die Marx’sche Tauschwertanalyse, als verbindlich anerkennt, auf den Standpunkt der Erlösung zurückzuführen.
3.4 Ausweitung des Bildverbots und die Unmöglichkeit von Praxis
Die Unmöglichkeit, den Standort der Erlösung einzunehmen, ergibt sich auch aus einem anderen Motiv, dem der Ausweitung des Bildverbots. Dessen allgemeine Begründung ist die Verfallenheit der Vorstellungen und Gedanken ans Bestehende, ihre nähere Bedingung die Unmöglichkeit revolutionärer Praxis, die für Adornos als die wahre Praxis gilt. In der Bibel – zuerst 2. Mose 20, 4 f. – bezieht sich das Verbot eindeutig auf den Versuch, Gott in menschlichen Werken anschaulich zu machen und anzubeten. Sinn des Bildverbots ist die Betonung des Abstands zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen, das Wissen um seine Transzendenz und Unvergleichlichkeit. Gott spricht zu den Menschen, aber er zeigt sich nicht. »Seine Worte hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da« (5. Mose 4, 12). Was in der Stimme erscheint, ist Geist, keine Naturgewalt.
Bei Adorno wird das »Bildverbot« ausgeweitet auf die eschatologische Hoffnung wie auf die messianische Utopie. Die jeweilige Begründung lässt es als fraglich erscheinen, ob der theologische Begriff überhaupt angemessen ist. Was die eschatologische Hoffnung betriff, läuft das »Bildverbot«, wie gesehen, auf ein Denkverbot hinaus. Im Hinblick auf die mögliche Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft verweist Adorno auf den historischen Materialismus von Karl Marx, der das Bildverbot säkularisiert habe, »indem er nicht gestattete, die Utopie positiv auszumalen.«62 Tatsächlich folgt die Marx’sche Kritik des utopischen Sozialismus einem Motiv, das mit dem Adornos übereinkommt. Es besteht nämlich die Gefahr, beim Entwurf der zukünftigen Gesellschaft nur Ideale der bestehenden auszugestalten, ohne nach dem Zusammenhang dieser Ideale mir der schlechten Wirklichkeit zu fragen. Diese Utopiekritik hat Marx freilich nicht daran gehindert, Prinzipien einer aus der Überwindung der kapitalistischen hervorgehenden Gesellschaft anzugeben. Ihre nähere Ausgestaltung sollte der geschichtlichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, überlassen bleiben. Dass eine solche Praxis ohne Antizipationen, Programme und Pläne ebenso wenig auskommt wie ohne Experimente, Fehler und Korrekturen, war ihm selbstverständlich.
Für Adorno hingegen besteht das eigentliche Problem darin, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung gescheitert ist. Dies ist das Problem eines jeden, der an der Analyse des Kapitals festhält und praktische Konsequenzen zu ziehen sucht; Horkheimer und seine Mitarbeiter haben es nur relativ früh gemerkt, schon nach der Konsolidierung der Diktatur Stalins in den 1930er Jahren. Unter diesen Voraussetzungen kann nicht verboten werden, was es nicht gibt: konkrete Antizipationen einer klassenlosen Gesellschaft. Nötig wäre nicht ein Bildverbot über der sozialen Utopie, sondern eine Kräftigung der Phantasie, die freilich nur im Zuge der praktischen Anstrengungen erwartet werden kann.
Die messianische Tradition bietet ein beeindruckendes Beispiel utopischer Phantasie, die auch heute noch gleichsam als Fundus utopischer Archetypen dienen kann. Indem Adorno sein Bildverbot auf messianische Utopie und eschatologische Hoffnung gleichermaßen erstreckt, drohen die begrifflichen Differenzierungen zwischen beiden verloren zu gehen. Das ist vielleicht der Grund, warum die zentralen messianischen Motive von Gerechtigkeit und Frieden bei Adorno meist nur eine implizite, jedenfalls eher unscheinbare Rolle spielen. Bisweilen ist unklar, ob zwischen sozialer Utopie und Eschatologie überhaupt noch unterschieden werden kann.63 Zwischen befreiter Gesellschaft und der Möglichkeit einer Erfüllung der transzendenten Sehnsucht besteht aber, wenn es diese Möglichkeit überhaupt gibt, ein Bedingungsverhältnis: »Die metaphysischen Interessen der Menschen bedürfen der ungeschmälerten Wahrnehmung ihrer materiellen. Solange diese ihnen verschleiert sind, leben sie unterm Schleier der Maja. Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.«64