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»Richtig. Und Sie sind...?«
»Henry Descartes – wie der Philosoph. Nur offensichtlich nicht so schlau.« Henry hatte ein Haus auf dem Montmartre gekauft, was an sich eine gute Investition war, denn die Immobilienpreise im ehemaligen Pariser Rotlichtviertel stiegen rasant.
Offensichtlich war er dabei an einen windigen Geschäftsmann aus dem Gewerbe geraten und seine Investitionsentscheidung drohte in ein finanzielles Desaster abzurutschen, da der Eigentümer von notwendigen Formalitäten nicht viel hielt und Henry ohne notarielle Bestätigung der Verträge bereits einen Haufen Geld als Anzahlung abgenommen hatte.
Der Verkäufer weigerte sich die notwendigen Gutachten ausführen zu lassen, die Henry dann auf eigene Faust durchführen ließ. Der Gebäudekomplex wies einige eklatante Mängel auf, die sich preismindernd ausgewirkt hätten, hätte Henry auf die übliche Prozedur bestanden und den Vorvertrag notariell abgeschlossen, bevor er eine Anzahlung an den Verkäufer übergab. Hatte er aber nicht.
Nun saß er jammernd vor Paul. »Dach- und Kellerrenovierung kosten mich einige Hunderttausend zusätzlich. Wie komme ich bloß aus dieser Nummer heraus?« Er rieb sich mit den Händen die Augen und Paul sah, dass er einen dicken Goldring mit einem roten Stein am kleinen Finger trug. Sicher ein Rubin. Schlecht konnte es dem Mann nicht gehen. »Ihr Vater hätte sicher eine Idee, wie ich jetzt vorgehen sollte.«
»Ich bin meines Vaters Sohn und ich hab auch eine Idee«, sagte Paul kühl. Henry musterte ihn erstaunt und fing dann an zu lachen.
»Ja, tatsächlich. Sie sind der Sohn Ihres Vaters, so hätte der Senior sicher auch reagiert.« Henry entspannte sich und lehnte sich im Sessel zurück. »Sie wissen nicht, wer ich bin, oder?«
»Henry Descartes, sagten Sie.«
»Der Senior und ich haben eng zusammen gearbeitet, als das Landgericht umziehen sollte und ihr Vater im Etablissement Public den Vorsitz hatte.« Paul erinnerte sich dunkel an ein lang vergangenes Debakel: Der Justizpalast war zu klein geworden, das Landgericht sollte auf die Rive Gauche umsiedeln.
Pauls Vater hatte das Projekt geleitet. Er hatte gehofft, dass das Ministerium und die Gerichtstätten weiterhin im Zentrum von Paris zusammen bleiben würden. Aber der Pariser Oberbürgermeister legte ein Veto ein und die Behörden und Verantwortlichen begannen, das Projekt auseinander zu nehmen. Paul senior hatte frustriert den Vorsitz abgegeben. Erst Jahre später war dann endlich ein Entschluss getroffen worden und das Gericht zog nun in den Nordwesten von Paris.
»Ich habe 2005, nach dem Veto, beschlossen, ein paar Jahre ins Übersee-Departement zu wechseln und bin erst vor einigen Monaten aus La Reunion zurückgekommen.« Das erklärte, warum er nichts davon wusste, dass Paul junior die Erbfolge angetreten hatte. »Wenn Sie mir noch einen Cognac anbieten, dann sehe ich allerdings keinen Hinderungsgrund, warum ich nicht auch mit Ihnen vertrauensvoll zusammen arbeiten sollte.«
Das konnte ja heiter werden. Paul war zum Globus gegangen, um Henrys Glas ein zweites Mal zu füllen. Die Verträge, die Henry bereits abgeschlossen hatte, waren alle sauber gewesen und es hatte viel Zeit in Anspruch genommen, ein juristisches Schlupfloch zu finden und Henry aus den Klauen der Immobilienmafia des Montmartre zu befreien. Doch Paul hatte ihm tatsächlich einen Ausweg aufzeigen können und Henry hatte mehrere hunderttausend Euro nicht verloren.
Zum Dank oder vielleicht auch aus alter Freundschaft zu Paul senior hatte Henry den jungen Anwalt zu einem Abendessen nach Hause eingeladen. Marlene, Henrys Frau, hatte zwar eine ähnliche Figur wie ihr Mann, unterschied sich aber ansonsten himmelweit.
Wo Henry laut war, war sie ruhig. Wo Henry schnell war, war sie bedacht. Es hätte kaum ein unterschiedlicheres Paar geben können. Henry war der Draufgänger, Marlene der eher mütterliche Typus. Und sie hatte Paul im Moment seines Ankommens quasi adoptiert. Er hatte den Mantel noch nicht abgelegt, da drückte sie ihn schon an ihren runden Körper, teils aus Dankbarkeit, weil er ihren Mann vor einer Dummheit bewahrt hatte, teils, weil ihr Naturell es ihr gar nicht anders erlaubte. Und Paul, der das ungleiche Paar zunächst mit Distanz beobachtet hatte, konnte nicht anders und hatte die herzliche Umarmung Marlenes erwidert.
Damit war er offiziell zum Teil der Familie geworden und war mindestens einmal im Monat zum sonntäglichen Mittagessen eingeladen worden. Da Paul nach Manus Tod sowieso nichts mit seinen Sonntagen anfangen konnte, hatte er sein Befremden vor der stürmischen Familienaufnahme überwunden und war mit jeder Einladung lieber in das schöne Anwesen im 16. Arrondissement gekommen.
Er hätte ja auch gar nicht anders gekonnt: Wenn er einmal die Einladung absagen musste, weil er andere Verpflichtungen hatte, dann stand Marlene ein paar Tage später in seinem Büro und sah ihn an, als wenn er ihr gesagt hätte, der Coq au Vin wäre ihr nicht gelungen. So war aus der geschäftlichen Beziehung eine Freundschaft und Henry war für Paul eine Art Ersatz für den Vater geworden, den er nur noch selten traf.
»Na, mal sehen, was jetzt wieder anliegt«, dachte Paul und beschleunigte seinen Schritt. Er passierte die Metroschranke und erwischte gerade noch eine Bahn in Richtung La Defense. In diesem modernen Hochhausviertel hatte sein Vater in den frühen Siebzigern ein Grundstück erworben und seine Kanzlei aufgemacht, allen Unkenrufen zum Trotz, die dem Geschäftsviertel keine Zukunft gaben.
Während der Ölkrise war das Projekt La Defense durch den damaligen Premier Valéry Giscard d’Estaing fast gekippt worden. Aber Pauls Vater hatte Recht behalten, das Viertel hatte sich bestens entwickelt. Über 2500 Firmen hatten sich mittlerweile angesiedelt, die gerne auf die Beratungen der alteingesessenen Anwälte zurückgriffen. Die Kanzlei hatte viel Geld in den vergangenen Jahren verdient.
Paul würde für den Rest seines Lebens finanziell abgesichert sein. Aber was nützte all das Geld, wenn er niemanden hatte, mit dem er es teilen konnte. Glück war manchmal eine viel zu flüchtige Bekanntschaft, dachte er und atmete aus.
Er verließ die Metro und eilte zwischen den modernen Gebäudekomplexen entlang zu seiner Firma. Der Wind wehte eisig die breiten Prachtstraßen entlang und rieb sich die Hände warm. La Defense unterschied sich architektonisch gewaltig von den Straßen im Zentrum von Paris. Alles war groß und kühl, nicht nur wegen des Windes. La Defense war unpersönlich und hatte keinen Charme.
Die Menschen hasteten durch die Straßen, blickten auf ihre Telefone oder stur geradeaus, die Menschen waren in schwarze Businessanzüge oder –kostüme gekleidet, alle sahen genau gleich aus. Paul sah an sich hinunter: »Wie ich«, stellte er fest.
Er schlug den Mantelkragen hoch und betrachtete eine Dame, die in viel zu hohen Schuhen über die Straße eilte. Kein Baum säumte die Gehwege, die Grünanlagen waren mit weißem und grauen Schotter gefüllt, vereinzelt gepflanzte Gräser schauten aus den unnatürlichen Beeten. Er dachte an die Kletterpflanze vor dem Eingang seines Hauses.
Er würde morgen Janine fragen, was das für eine Pflanze ist. Sie würde es bestimmt wissen. Die Pflanze hatte gefächerte Blätter und trug im Frühjahr hellviolette Blüten. Sie rankte am Fallrohr bis an die Dachkante empor. Ohne zu wissen, warum, lächelte er bei diesem Gedanken vor sich hin und dachte an die hübsche junge Frau, die ganz offensichtlich zu diesem künstlichen Ort, an dem er jetzt stand, überhaupt nicht gepasst hätte.
Das goldblonde Haar war zu einem wilden Knoten im Nacken geschlungen gewesen, Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten das feine Gesicht mit den durchdringenden, fast grünen Augen. Er hatte ihre Hände betrachtet, die ihm die Rose reichten: Sie waren ein rot gefroren, von Erde beschmutzt und von Dornen zerkratzt gewesen, was sie kein bisschen zu stören schien. Und ganz sicher war er, dass sie keine hohen Schuhe getragen hatte.
Nein, an diesen unnatürlichen Ort würde jemand wie Janine nicht passen. Janine strahlte Natürlichkeit, Lebendigkeit aus, dieser Ort war reines Business und Zweckmäßigkeit.
Im Büro angekommen hängte er seinen Mantel an die Garderobe, begrüßte Claudine und ging in die Küche, um sich einen heißen Kaffee zu holen. Claudine folgte ihm.
»Das kann ich doch machen«, sagte sie und nahm ihm das Kaffeepulver aus der Hand.
»Also ehrlich, Claudine, du bist meine Schwägerin und Büroleiterin, nicht meine Sekretärin. Ich mach das selbst, gib her.« Sie gab ihm den Kaffee zurück, sah ihn aufmerksam an, als wenn sie irgendwas in seinem Gesicht lesen wollte, aber er hatte schon sein berufliches Pokerface aufgesetzt. Keine Regung war in seinen Zügen zu erkennen. Zweckmäßig.
»Henry ist schon wieder gegangen«, sagte sie zu Paul. »Ich hatte versucht, ihn telefonisch zu erreichen, bevor er losfuhr, aber Marlene sagte, er sei heute Morgen schon um fünf aufgestanden und losgefahren.«
Er sah sie erstaunt an. »Um fünf? Das hört sich nicht nach Henry an.«
»Hab ich auch gedacht. Aber Marlene wusste nicht, woran er im Moment arbeitet. Ich hab sie gefragt.« Claudine fuhr sich etwas genervt über das Gesicht.
Irgendetwas war mit ihr, dachte Paul und runzelte seine Stirn. »Dachte ich mir.«
»Uh, du bist ja gesprächig heute.«
Paul sah sie weiterhin verwundert an. »Ich bin so wie immer«, antworte er.
»Aber irgendwas ist heute anders. Ich glaube nicht, dass ich schon mal einen Termin verschieben musste, weil du den Kalender spontan geändert hast. Das ist in den fünf Jahren, die ich für dich arbeite, noch nicht vorgekommen.« Claudine trat näher. »Also, was war heute Morgen?«
Er drehte sich weg und füllte die Kaffeemaschine mit den Kaffeebohnen und Wasser. Ihm kam ganz und gar nicht in den Sinn, seiner Schwägerin zu erzählen, was er heute Morgen gemacht hatte. Das ging sie nichts an.
»Er hat nicht gesagt, was er von dir wollte« sprach sie weiter, als sie merkte, dass Paul nicht antworten würde.
»Ich ruf ihn später an«, sagte er und drehte sich zu ihr um, als sie die Küche verließ. Er betrachtete ihre Gestalt. Claudine war eine schöne Frau. Klein und zierlich. Und wie Manu hatte sie langes, schwarzes Haar. Doch ihr fehlte jegliche Ungezwungenheit und Leichtigkeit. Die Haare waren streng zurück gekämmt und in einem engen Knoten gebändigt. Das enge, dunkelblaue Kostüm saß perfekt und betonte ihre schlanke Figur. In der linken Hand hielt sie ihre Brille, eine elegante Schwarze, deren Bügel ein goldenes Chanelzeichen zierte.
Wie sie allerdings die zugigen Straßen von La Defense auf ihren Stöckelschuhen bei Wind und Wetter meisterte, war ihm schleierhaft. Er hatte sie noch nie ohne die hohen Schuhe gesehen. Er nahm an, dass sie ihm ohne Schuhe allerhöchstens bis zur Brust reichen würde.
»Da habe ich wohl etwas verpasst?« fragte sie schnippisch. Sie drehte sich um und erwischte ihn bei seiner Musterung.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er unendlich dämlich aussehen musste, wie er sie ansah und dabei kein Wort sagte. Wieso um alles in der Welt war er so in seine Gedanken vertieft? Das passiert ihm doch sonst nicht. »Nein, Claudine. Alles ist gut.« Langsam drängte er sich an ihr vorbei. Mit Schuhen war ihr Scheitel etwa auf Höhe seines Kinns. 10 Zentimeter größer in 10 Sekunden, dachte er und grinste unwillkürlich. Er ließ sie stehen und ging in sein Büro.
Claudine konnte manchmal wirklich anstrengend sein und ihr schnippischer Kommentar hatte Paul darauf hingewiesen, dass dies einer der anstrengen Momente war. Vermutlich war seine Büroleiterin verärgert, weil sie nicht wusste, wo er den Vormittag verbracht hatte. Sie übernahm gern die Kontrolle und wollte immer alles ganz genau wissen. Claudine machte ihren Job sehr gut.
Er hatte sich zunächst gesträubt, jemanden aus der nahen Verwandtschaft von Manu in die so wichtige Position einzustellen. Aber Manu hatte ihn mit nach allen Regeln der Kunst bearbeitet, mehrere Wochen lang, und am Ende hatte er ihr wie immer nicht widerstehen können.
»Nun gut, Manu, ich probiere es mit deiner Schwester«, hatte er ihr versprochen. »Aber wenn es nicht passt, muss sie sich etwas anderes suchen.« Die ersten Tage liefen nicht gut, aber nach und nach erkannte er ihre Qualitäten als Büroleiterin. Sie war der Drache vor seiner Tür. An ihr kam keiner vorbei, wenn sie es nicht wollte. Und nachdem Manu gestorben war, war ihm das genau recht, auch wenn er wusste, dass manch einer seiner Klienten sich ein wärmeres Willkommen in seiner Kanzlei wünschte.
Claudine war streng, lächelte wenig und verschanzte sich hinter einer höflichen Korrektheit, die manchmal nur haarscharf neben Unhöflichkeit und kalter Distanz lag. Es mangelte ihr gegenüber anderen an Einfühlungsvermögen. Paul glaubte, dass es sich um Selbstschutz handelte, denn ihm gegenüber hatte sie sich seit Manus Tod einigermaßen mitfühlend und zum Teil wirklich besorgt gezeigt. Sie konnte also auch ganz anders, wenn sie wollte. Das einzig schwierige war nur, dass er in ihr einen kleinen Teil von Manuela sah.
Und das Tag für Tag …
Kapitel 3 – Aller Anfang ist schwer
Janine hing ihren Gedanken an den ihren ersten Kunden noch immer hinterher, als die Türglocke ein zweites Mal an diesem Morgen bimmelte. Herein kam Jean.
»Salut, Jean! Wie geht es dir?« Janine freute sich, Jean zu sehen. Er gehörte der Trödelhandel, wo sie Tische, Dekoration und allerlei Utensilien in den letzten Wochen für ihren Blumenladen erstanden hatte und in den letzten Wochen und Monaten, war er zu einem echten Freund geworden. »Das freut mich aber, dass du mich besuchen kommst. Du bist heute schon der dritte Besucher.«
»Was? Schon drei Kunden heute Morgen und das am ersten Tag? Es ist doch erst zehn Uhr. Das geht ja gut los.« Er strahlte sie an.
»Ich muss zugeben, dass von drei Besuchern nur einer ein Kunde geworden ist, es sei denn, du möchtest ein paar Blumen kaufen?« Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
»Eigentlich wollte ich nur mal nachsehen, was du mit all den Schätzen, die du bei mir erworben hast, angestellt hast.« Er schaute auf die Holztische, die in frischem Grün lackiert waren, auf die Glasvasen, die Dekoration. Sein Blick blieb an der Holzkiste, die Janine als Kasse diente, hängen.
»Aber ...«, sagte er geflissentlich, »… eine meiner alten Gewürzkisten mit dem Grünzeug darin kauf ich dir natürlich ab. Könnte ja vielleicht meine Kunden inspirieren, was man mit dem alten Kram noch so alles anstellen kann.«
»Das Grünzeug hat blaue oder rosa Blüten, Jean. Grünzeugs ist wirklich nicht der passende Ausdruck für meine schönen Hyazinthen«, sagte sie lächelnd. Während sie hinausging und mit der Hyazinthe wieder hineinkam, erzählte sie von ihrem ersten Gast, dem kleinen Kater und ihrem ersten Kunden, seinem Besitzer.
»... und so hat der kleine Kater mir meinen ersten Kunden gebracht. Prima, nicht wahr?«
»Ja, das war Paul. Den kenne ich gut. Der wohnt ein oder zwei Stockwerke über dir. Netter Kerl.« Die Stimme kam von irgendwoher, Jean war jedenfalls nicht mehr zu sehen.
»Jean? Wo bist du denn hin?«
»Hier unten«, kam seine Stimme von irgendwo unter den Tischen.
»Was machst du denn da?«, wollte Janine wissen und beugte sich nach vorne.
»Ich schaue mir an, was du mit meinem schönen alten Art-Deco-Tisch aus Eiche gemacht hast. Du hättest ihn abschleifen können. Wieso schmierst du da Farbe rauf? Der war doch noch gut«, klang seine Stimme dumpf an ihr Ohr.
»Der war noch gut? Der hatte Holzwurm und das Furnier war zum Teil schon abgefallen«, sagte sie ruhig und stellte die Hyazinthe neben ihn auf den Boden. Sie kniete sich hin und krabbelte unter den gleichen Tisch, unter dem Jean auf dem Rücken lag. Sie drückte mit dem Zeigefinger von unten gegen die Tischplatte. Ein paar Stückchen rieselten herunter.
»Naja, gut, hier ist er tatsächlich ein bisschen morsch«, gab er zu und robbte mühsam unter dem Tisch hervor. »Autsch, meine Knie. Man wird auch nicht jünger.« Jean war mindestens siebzig, schätzte Janine. Als sie den Tisch im Trödelladen gekauft hatte und Jean ihn zwischen den Kartons mit alten Landkarten und dem Bücherregal hervorholen musste, war ihr aufgefallen, dass er sich schwerfällig bewegte.
Nun sah sie ihn besorgt an. Jean strich den nicht vorhandenen Staub von seiner Kleidung, den er dort vermutete. »Du hättest mir die Tische niemals so günstig verkauft, wenn nicht irgendetwas mit ihnen gewesen wäre«, sagte sie ein wenig vorwurfsvoll.
»Ja, du hast ja recht, ich wollte mich auch nur nochmal versichern, dass ich kein schlechtes Geschäft gemacht habe und es meine Tische bei dir gut haben.« Er lächelte sie mit einem jungenhaften Grinsen an und sie erinnerte sich an ihren ersten Besuch in seinem Trödelladen.
Ziemlich genau sogar, denn er war alles andere als besonders freundlich gewesen. Nachdem sie eine Weile durch die Laden gestrichen war, die Möbel betrachtet hatte, die alten Lampen, die Gemälde an der Wand, sprach sie Jean an, um den Preise für fünf Tische, die sie sich ausgesucht hatte, zu erfragen. Sie hatte auf diejenigen gezeigt, die am wenigsten gut erhalten waren und gehofft, dass er ihr einen guten Preis machen würde.
Jean hatte sie fast ein wenig verächtlich angesehen. Es war ihr so vorgekommen, als wolle er seine Tische eigentlich gar nicht verkaufen und vor allem nicht an sie. Er hatte kaum gesprochen. »Sie wollen fünf Tische kaufen?«, war das einzige, was er über die Lippen brachte. Bei der Preisverhandlung hatte er ihr zwar einen einigermaßen akzeptabel günstigen Anfangspreis vorgeschlagen, aber als sie nachverhandeln wollte, war er ihr kein Stück entgegengekommen und hatte immer nur mit dem Kopf geschüttelt.
Sie hatte die Tische trotzdem gekauft, weil sie allemal günstiger waren als neue. Und der alte Trödel hatte natürlich viel mehr Charme. Nicht so, wie die neuen Tische aus Pressholz mit Plastikfurnier. Janine hatte eine genaue Vorstellung, wie die Einrichtung ihres Blumenladens aussehen sollte. Und Plastik hatte in ihrem Konzept keinen Platz. Also hatte sie den Trödel dennoch gekauft, obwohl der alte Kauz so unfreundlich zu ihr war.
Bei ihrem zweiten Besuch im Trödelladen, sie wollte zwölf alte Glasvasen kaufen, hatte er es doch glatt über sich gebracht und sie aktiv angesprochen. Er wollte wissen, warum sie von allem große Mengen kaufte. Fünf Tische und zwölf Vasen schienen ungewöhnliche Mengen für den Trödler zu sein. Also hatte sie ihm erzählt, dass sie in dem alten Tabac einen Blumenladen eröffnen wollte.
»Ah, im alten Laden von meinem Freund Victoire?« Er hatte sie mit einem etwas freundlicheren Blick bedacht. »Da wollen Sie Blumen verkaufen?« Sie wies auf die 25 Vasen, die er schon in einen Karton verpackt hatte.
»Ja, ganz genau.«
»Das finde ich eine gute Idee«, hatte er gesagt und plötzlich war so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. »Ich hatte schon Sorge, dass das nächste Geschäft mit diesen tragbaren Telefonen in der Rue Cailloux Einzug hält. Es wäre dann das dritte. Wer braucht denn so viele Telefone? Man kann ja auch mal von Angesicht zu Angesicht mit den Menschen reden«, schwadronierte er vor sich hin, während er Zeitungspapier in den Vasenkarton stopfte.
Der Redefluss verwunderte Janine, immerhin war der Trödler bis jetzt nicht durch Gesprächigkeit aufgefallen und nun sprach er davon, dass Menschen miteinander reden sollten. Aber offensichtlich hatte die Bekanntgabe ihrer Pläne den alten Mann aufgetaut. Es war, als wäre ein Damm gebrochen, der die gut behüteten Worte des Mannes nun sprudeln ließ.
»Früher ging es hier in der Rue Cailloux beschaulich zu. Da war Victoire mit seinem Tabac, die zwei Bäckereien, ein Milchmann, viele kleine Handwerksbetriebe, das Antiquariat von der Maria und die Galerie von Xavier.« Er schmunzelte. »Er gestaltete Postkarten für die drei Touristen, die sich manchmal in diese Straße verliefen. Jeder kannte jeden, man konnte immer mal einen Plausch halten. Oft haben wir die Waren einfach getauscht: Ein Bild gegen ein Buch. Ein Buch gegen zwei Pfund Kartoffeln und so weiter. Und dann kamen die Ein-Euro-Läden aus China mit ihren Blinkesternen im Fenster. Als ob jeden Tag Weihnachten wäre.« Jetzt echauffierte er sich.
»Und dann diese Läden mit den ganzen Telefonen, wer braucht die denn alle? Anschließend noch so ein neumodischer Kram - Café to go...« Er holte tief Luft und redete weiter.
»… alles rennt mit dem Telefon am Ohr und einem Kaffeebecher in der Hand durch die Straße. Niemand grüßt und keiner hat Zeit. Keiner kennt den anderen, die Verkäufer wechseln ständig – also auch kein Plausch mehr zwischendurch.«
Janine kannte diese Diskussionen um den Verfall der Innenstädte, um den Niedergang der angestammten Einzelhändler, die ihren Platz für unpersönliche Geschäftsketten räumen mussten, weil die Mieten für die Ladengeschäfte zu teuer wurden oder aber die Besitzer keinen Nachfolger für ihre traditionellen Gewerbe fanden. Offensichtlich war es auch in der Rue Cailloux zu einem solchen Prozess gekommen. »Sie haben Recht«, stimmte sie ihm nachdenklich zu. »Es ist schade, wie sich die Geschäftsstruktur verändert hat. Ein-Mann-Betriebe haben es heute schwer, mitzuhalten.«
Jean hatte sie erstaunt angeblickt, als wenn er nicht vermutete, dass jemand wie sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Mannes. »Oder Ein-Frau-Betriebe, oder, junge Dame? Ist ja schön, dass sie sich aufmachen, wieder Kultur in unsere Straße zu bringen. Na, ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Erfolg mit ihrem Grünzeug!«
Als Janine das nächste Mal zu ihm gegangen war, um alte Lampen für »Les fleurs« zu erstehen, hatte er sie auf einen Kaffee eingeladen. Sie durfte auf einem der antiken Sofas in der hinteren Ecke des dunklen Ladens Platz nehmen, während er hinter einer Tür mit einer offensichtlich neumodischen Kaffeemaschine kämpfte.
Sie hörte nur ab und zu ein ärgerliches Gegrummel. »Wieso blinkt jetzt dieser Knopf, soll ich da drauf drücken?« Das Knallen von Tassen und anderen Dingen und hatte Zeit gehabt, sich ein wenig umzusehen.
Bis unter die Decke war der Brocante vollgestellt mit alten Möbeln. Kein Platz fand sich in den Schränken, die mit Büchern, alten Häkeldeckchen, Stoffen, Karten, Schallplatten, Gläsern und anderen Kostbarkeiten vollgestopft waren. An den Wänden hingen so viele alte Ölschinken, dass nicht ein Stück Tapete zu erkennen war. Sogar ein paar ausgestopfte Wildtiere hingen dort. Aber damit konnte Janine nichts anfangen. Sie liebte Tiere und ausgestopfte Jagdtrophäen passten einfach nicht in ihr Weltbild.
Die Glasvitrinen waren mit altem Geschirr dicht besetzt, dazwischen spiegelte sich das Licht in Schmuckvitrinen aus Glas. Trotzdem es etwas staubig roch und sie ein bisschen fror, fühlte sie sich wohl. Zumindest, wenn sie den Wildschweinkopf an der ihr gegenüberliegenden Wand ignorierte. Sie hatte das Gefühl, er starrte sie an.
Endlich kam Jean mit dem Kaffee zurück, der aus hübschen antiken Tässchen im Widerschein des Kronleuchters, der über dem Tisch hing, dampfte. Er brachte auch ein paar Plätzchen, die er sorgsam auf eine alte, mit Blumen bemalte Porzellanuntertasse gelegt hatte. Der Mann stellte die Untertasse und die Kaffeetassen auf das Tischchen, ging noch einmal in die Küche und kam mit einem Milchkännchen und einer Zuckerdose zurück.
Sie bewunderte das schöne Porzellan. Die einzelnen Teile passten zwar nicht zusammen, aber das Gesamtarrangement war herrlich. Jean hatte einen Blick für das Schöne, das war offensichtlich. Noch einmal drehte er sich weg, kramte hinter irgendeiner alten Vitrine in einem Koffer und zog etwas heraus.
»Wenn schon, denn schon, junge Dame«, sagte er. Jean holte eine alte Schellackplatte aus dem Umschlag, den er aus dem Koffer gekramt hatte und legte sie auf das mindestens ebenso alte Grammophon, das neben dem Sofa stand. Und tatsächlich: Nachdem er ordentlich die Kurbel gedreht hatte, drehte sich auch der Plattenteller und aus dem Trichter knarzte ein Ragtime.
»Erzählen Sie doch mal, wie es dazu kommt, dass Sie dem Vormarsch des Klingeling, der schnellen Küche und dem billigen Tand hier in unserer Rue Cailloux Einhalt gebieten wollen?« Sie hatte angefangen, von ihren Plänen zu erzählen und nach der dritten Tasse Kaffee waren sie Freunde geworden.