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Claudia Schweitzer
Die Musik der Sprache
Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert
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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8493-9 (Print)
ISBN 978-3-8233-0343-5 (ePub)
„Die Musik ist eine Sprache, keine konventionelle oder lokale, wie das Griechische, das Lateinische, das Französische oder andere Sprachen, sondern eine, die natürlich und allgemein verständlich ist.“
„La musique est une langue, non de convention, non locale, comme le grec, le latin, le français et autres, mais une langue naturelle et de tous pays.“
Jérôme-Joseph MOMIGNY (1806: 29)
Die menschliche Stimme und ihre – wie es scheint – unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten faszinieren. Eine Stimme ist in der Lage, eine Welt in uns zu berühren, die abstrakt und metaphorisch zugleich ist. „Der Klang der Stimme verrät den Zustand der Seele“, sagt der 1950 geborene österreichische Ingenieur und Maler Helmut Glassl. Für den deutschen Philosophen und Pädagogen Andreas Tenzer (*1954) sind Stimmen „hörbare Schwingungen“ und der französische Philosoph und Enzyklopädist Denis Diderot (1713–1784) bezeichnet bereits im 18. Jahrhundert die Stimme als „ein Musikinstrument, dessen sich alle Menschen ohne die Hilfe von Lehrern, Prinzipien oder Regeln bedienen können“.1
Die Stimme und ihre Klänge hängen von der Sprechsituation, von der gewollten Ausdruckskraft und vom seelischen Zustand des Sprechers oder der Sprecherin ab. Heute haben Neuro- und Psycholinguistik die Möglichkeit, mit gezielten technischen Mitteln an diesen Zusammenhängen zu arbeiten. Im Vergleich zu sprachwissenschaftlichen Überlegungen, die bereits aus der Antike überliefert sind, sind diese Möglichkeiten jedoch extrem jung. Lange Zeit waren Stimme und Sprache vorwiegend über den Gehörsinn zugänglich. Le jugement de l’oreille bildete somit einen wichtigen Faktor für die Wahrnehmung und für die Analyse sprachlicher Phänomene. Anders als Überlegungen anhand schriftlicher Texte (zum Beispiel zu Syntax oder Lexik) stellen die Stimme und die von ihr übertragenen Laute oder Worte den Forscher vor das Problem, dass sein Forschungsobjekt, das heißt die Sprachlaute, vergänglich und ohne Aufnahmemöglichkeit einmalig und nicht reproduzierbar ist.
Oftmals haben die französischen Forscher vergangener Jahrhunderte auf die Gesangsstimme zurückgegriffen, die im Vergleich zur Sprechstimme eine (geringfügig) größere Stabilität der Laute zu versprechen schien. Denis Dodart, seines Zeichens Arzt, konstatiert zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine hohe Affinität von Sprech- und Gesangsstimme, da beide auf demselben physischen Mechanismus beruhen.2 Jean-Jacques RousseauRousseau, Jean-Jacques weist ebenfalls auf die große Ähnlichkeit zwischen Sprache und Gesang hin. Er spürt zwar einen kleinen Unterschied, der aber schwierig zu beschreiben ist.3 Die Eigenschaft, etwas länger anzudauern, macht die gesungenen Töne in den Augen der Theoretiker jedoch zu einem geeigneten Studienobjekt (vgl. Schweitzer, 2018).
Auch heute noch wird die Verwandtschaft von Sprache und Gesang als tiefgreifend angesehen. Sprache ist melodisch, rhythmisch und akzentuiert, genau wie jede musikalische Produktion. Musik und Sprache werden ausdrucksstark durch dieselben Parameter: diejenigen, die wir als prosodisch bezeichnen. Sprache ist nicht nur in der Poesie, sondern in jeglicher Form von Äußerung musikalisch. Diese „Musik der Sprache“ wird deutlich, wenn Sprache klingt, und dies nicht nur in gesungener Form, sondern auch als gesprochenes Wort.
Heute untersuchen Prosodisten diese „Musik der Sprache“ und sie unterscheiden dabei drei Parameter: Tonhöhe (Grundfrequenz) oder Tonhöhenentwicklung (Melodie), Tonlänge (Rhythmus oder Tondauer und Pausen) und Intensität (Volumen und Akzentuation). Diese Parameter haben ihren Ursprung in der Beschreibung der Singstimme, und eine gemeinsame Metasprache von Musikern und Prosodisten (Terme wie zum Beispiel „Rhythmus“, „Melodie“ oder „Akzent“ werden in beiden Disziplinen verwendet) weist noch heute auf die gemeinsamen Wurzeln dieser beiden Ausdrucksmöglichkeiten hin (vgl. Dodane et al., 2021).
Es ist typisch für die vergangenen Jahrhunderte, dass die Erforschung der Stimme und der Sprachlaute nicht allein eine sprachwissenschaftliche Angelegenheit war. Das Phänomen interessierte mehrere Disziplinen, die das Thema auf unterschiedliche Weise, mit eher praktischen, eher theoretischen, eher experimentellen oder eher reflexiven Methoden bearbeiten. Aus diesem Grund scheint es für die Erforschung der Wirksamkeit und der Wirkungsweise menschlicher gesprochener Sprache unabdingbar, zwei Ansätze zu berücksichtigen: einen wissenschaftlichen und einen philosophischen.
Um die heute übliche Definition der Prosodie als „Gesamtheit sprachlicher Eigenschaften wie Akzent, Intonation, Quantität, Sprechpausen“ (Bußmann, 1990: 618) zu finden, waren viele Überlegungen in verschiedene Richtungen und sogar Umwege nötig. Im Laufe der Jahrhunderte sind alle genannten Parameter mehr oder weniger intensiv untersucht worden. Zunächst spielten prosodische Überlegungen in den poetischen Ausdrucksformen gewidmeten Disziplinen eine Rolle (Dodane et al., 2021). Besonders die Quantität (Vokal- oder Silbenlänge) bildete oftmals ein wichtiges Studienobjekt. Erst mit dem Erscheinen der Grammaire générale et raisonnée von Antoine ArnauldArnauld, Antoine und Claude LancelotLancelot, Claude (1660) findet das Thema auch Eingang in den Kanon der regelmäßig in den Grammatiken behandelten Themen. Besonders die Überlegungen Denis VairasseVairasse d’Allais, Denis d’Allais‘ (1681) bedeuten hier einen großen Fortschritt: Der Autor berücksichtigt nicht nur die beiden mittels des Hörsinns relativ leicht zugänglichen Parameter Rhythmus und Quantität, sondern spricht in dem den Akzenten gewidmeten Kapitel auch von ton und emphase.
Im 18. Jahrhundert bilden sich zwei Haupttendenzen heraus. Die eine konzentriert sich auf die Prosodie der französischen Sprache und versucht, deren Besonderheiten im Vergleich zu anderen Sprachen herauszuarbeiten. Ein Beispiel dafür ist der Traité de la prosodie françoise des Abbé D’OlivetD’Olivet, Pierre Joseph (1736). Die zweite versucht, Parallelen zwischen den verschiedenen Sprachen und ihrem prosodischen Verhalten aufzudecken. Sie gliedert sich damit in die Richtungen der grammaire générale4 und der grammaire comparée ein. Auch im Bereich der Rhetorik bleiben Fragen der Quantität wichtig. So spricht noch Jean-Dominique VuillaumeVuillaume, Jean-Dominique (1871) von der Wichtigkeit der Beachtung der richtigen Quantität für eine gute „prononciation grammaticale et prosodique“.5
Doch erst bei den frühen Phonetikern wird die Prosodie im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Forschungsthema. Mit der auf Etienne-Jules Marey (1830–1904) zurückgehenden Graphischen Methode wird um die Jahrhundertwende die Analyse der verschiedenen Parameter auf experimenteller Basis möglich. Jean-Pierre RousselotRousselot, Jean-Pierre arbeitet so über Intonation, Akzentuation und Rhythmus der französischen Sprache. Hector MarichelleMarichelle, Hector gelingt eine mathematische Kurvenanalyse der Formanten und die experimentelle Unterscheidung von accent tonique und accent oratoire. Paul PassyPassy, Paul Edouard stellt in einem komparatistischen Ansatz die Intonationen verschiedener Sprachen, darunter des Französischen, einander gegenüber, und Léonce RoudetRoudet, Léonce beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von Intonation, Emotion und Logik sowie deren Auswirkungen auf die Sprachakzentuation.
All diese neuen Entwicklungen revolutionieren die Kenntnisse der Forscher und sind richtungsweisend für die heutigen Sprachtheorien. Gleichzeitig lassen diese Entwicklungen aber auch eine große Kontinuität mit den Arbeiten der Grammatiker vorheriger Jahrhunderte erkennen. Das alte und überlieferte Wissen findet seinen logischen Platz in den neu entwickelten Theorien. Seine Spuren finden sich nicht nur bei den ersten, auf prosodische Fragen spezialisierten Forschern des 20. Jahrhunderts wie Théodore Rosset, dem Gründer des Institut de phonétique in Grenoble (1904), sondern auch noch in ganz aktuellen Arbeiten. Zu nennen wären beispielsweise die Veröffentlichungen von Aniruddh D. Patel und Joseph R. Daniele (2003) zum Einfluss der jeweiligen Muttersprache auf die Formung musikalischer Themen englischer und französischer Komponisten, oder auch diejenigen von Emmanuel BigandBigand, Emmanuel und Barbara TillmannTillmann, Barbara (2020) zur Verarbeitung von Musik und Sprache im menschlichen Gehirn.
In jeder der angesprochenen Perioden können Einflüsse von Musiktheorie und –praxis sowie von ästhetischen Fragestellungen auf die Entwicklung der Richtung der Überlegungen in der Prosodieforschung festgestellt werden. Dieser Aspekt dient im vorliegenden Buch als roter Faden, um die Tradierung und Weiterentwicklung des Wissens um die französische Prosodie (in Frankreich) sowie die damit verbundenen Integrations- und Transformationsprozesse im Laufe der Jahrhunderte nachzuvollziehen. Angesichts der großen Menge des verfügbaren Materials kann dabei keine Vollständigkeit angestrebt werden. Es geht vielmehr darum, die interdisziplinären Konzepte, die jahrhundertelang die französische Ideengeschichte zur Prosodie charakterisiert haben und deren Spuren sich auch heute noch in den Arbeiten zur Prosodie der französischen Schule finden, verständlich zu machen.
Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts nehmen geschichtliche Untersuchungen einen – mehr oder minder breiten – Raum in den Sprachwissenschaften ein. Wissen um die Vergangenheit hilft, Sprachentwicklungen zu beschreiben und zu verstehen. Aber ist nicht jedes Wissen im Grunde genommen historisch? Wissen selbst kann nicht definiert werden, nur der Moment, in dem ein Autor es tradiert (AurouxAuroux, Sylvain, 2006). Damit besitzt jeder Wissensakt nach Sylvain AurouxAuroux, Sylvain (1992) sowohl einen Retrospektions–, als auch einen Projektionshintergrund. Jedes neu gefundene und entwickelte Wissen organisiert den bisherigen Wissenskanon, es setzt Akzente, lässt Teilaspekte in der Vergessenheit verschwinden, idealisiert und/oder setzt Impulse. Um die Entwicklung linguistischer Theorien und Ideen zu begreifen, die uns nicht nur das Verständnis unserer Sprachgeschichte, sondern auch unserer heutigen Denkmodelle ermöglichen, ist es daher wichtig, über lange Zeiträume zu arbeiten.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben ideengeschichtliche Forschungen in den Sprachwissenschaften immer mehr Fuß gefasst. Sie reflektieren die Notwendigkeit der Linguisten, Objekte, Orientierungen, Grenzen und Geschichtlichkeit ihrer Disziplin zu hinterfragen. Epistemologische Forschungen geben die Möglichkeit, die Relevanz tradierter und in Vergessenheit geratener geschichtlicher Entwicklungen und historischer Konzepte für gegenwärtige Sprachtheorien zu ermessen. Die Variationsbreite der Bezeichnungen und Denkrichtungen kann nicht nur onomasiologisch und semasiologisch, sondern vor allem in ihrer Bedeutungsbreite und Tragweite über die Jahrhunderte hinweg bis heute untersucht werden. Hier sei nur kurz auf Dietrich Busse verwiesen, der in seinen Arbeiten über das Verhältnis von Sprach-, Kultur- und Kognitionswissenschaften nachdrücklich darauf hinweist, dass – in seinem Falle – „eine Diskursanalyse auch in einer linguistisch reflektierten Weise, als eine Methode und ein Forschungsziel einer kulturwissenschaftliche (bewusstseinsanalytisch) orientierten – nicht nur von Historikern, sondern auch von Linguisten betriebenen – Historischen Semantik durchgeführt werden kann“ (Busse, 2008).
In Deutschland gliedern sich Untersuchungen zur französischen Sprache und Sprachgeschichte konsequent und folgerichtig in die Romania-Forschung ein. Der Rahmen der romanischen Sprachen ist sicherlich geeignet, um sprachfamilientypische Prozesse zu verstehen und zu bewerten. Dies Verfahren setzt allerdings einen gemeinsamen systematischen Rahmen für alle behandelten Sprachen voraus, der länderspezifische Eigenheiten nicht immer auffangen kann. Dieses Buch möchte dazu beitragen, heute in Frankreich betriebene epistemologische Forschungen zur französischen Prosodie für die deutsche Romania-Forschung zugänglich und nutzbar zu machen. An die Stelle der Sprachfamilie tritt dabei eine interdisziplinäre Einbettung der historischen epistemologischen Fragestellung, die nicht nur die Erweiterung des Blickwinkels einer einzelnen Disziplin ermöglicht, sondern auch eine neue Ausrichtung und Gewichtung der Fakten nach dem Modell der global history (vgl. Maurel, 2013). Die Geschichtsschreibungen verschiedener Disziplinen werden zusammengeführt und für ein breiteres Verständnis nutzbar gemacht (Bertrand, 2013). Dieses Vorgehen ist im Wesen der Prosodie selbst angesiedelt: Sie ist in mehreren Disziplinen verankert und folgerichtig im Laufe der Geschichte von Forschern, Theoretikern und Praktikern verschiedener Richtungen (Linguisten, Dramatiker, Rhetoriker, Musiker, Komponisten…) behandelt worden. Eine Wiedereinbettung der Prosodietheorien in einen interdisziplinären Rahmen bedeutet einen neuen Impuls für die heutigen, auf segmentale Fragen konzentrierten Sprachtheorien und kann ein tieferes Verständnis für die Beschreibung der emotionellen Vorgänge, die durch prosodische Mittel ausgelöst werden, geben.
Die enge Verbindung, die die Prosodie zwischen Sprache und Musik/Gesang herstellt, wurde zu keinem Zeitpunkt im Verlauf der Geschichte grundsätzlich in Frage gestellt, hat aber im Laufe der Jahrhunderte ihre bedingungslose Auslegung verloren. Wenn Jean-Léonor Le Gallois GrimarestGrimarest, Jean-Léonor Le Gallois (1707) den Gesang noch als eine Art besonders deutlich modulierten (und daher besonders ausdrucksstarken) Sprechens beschreibt, so manifestiert sich die Sicht auf die Verbindung der beiden Ausdrucksformen der menschlichen Stimme in der Folge deutlich romantischer und imaginärer, wie es das folgende Zitat von Romain Rolland aus dem Jahre 1908 zeigt: „Si la musique nous est si chère, c’est qu’elle est la parole la plus profonde de l’âme, le cri harmonieux de sa joie et de sa douleur“ – „Dass die Musik uns so teuer ist, liegt daran, dass sie eine Sprache ist, die aus den Tiefen unserer Seele kommt, ein harmonischer Schrei ihrer Freude und ihres Schmerzes“. Was unverändert bleibt, ist das Bewusstsein, dass Gesang und Sprache nichts Anderes sind als zwei verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten menschlicher stimmlicher Äußerung. Mit der veränderten Konzeptualisierung geht im Laufe der Jahrhunderte eine geänderte – jeweils modernisierte – Ausdrucksweise einher. Jede Epoche besitzt ihre eigenen Konzepte, Denkmodelle, Ausdrucksarten und Bilder, die für Leser und Leserinnen der entsprechenden Kultursphäre und -epoche sprechend sind, aber nicht unbedingt für uns heute. Die Inhalte dieser Texte müssen daher oftmals „übersetzt“ werden, um sie verständlich zu machen und mit denen anderer Jahrhunderte, Zielrichtungen und Horizonte vergleichen zu können. Hinzu kommt, dass mit Fortschreiten in der Geschichte die Forscher und Forscherinnen immer spezialisierter arbeiten. Wir verfügen heute nicht mehr über das disziplinübergreifende, oft beinahe enzyklopädische Wissen der Autoren und Forscher früherer Zeiten und müssen eine reiche Literatur und mehrere Kollegen hinzuziehen, um die Aussagen der alten Texte in ihrer vollen Bandbreite zu erfassen.
Die Texte verschiedener (sprachgeschichtlicher, kultureller und soziologischer) Epochen und Disziplinen (Linguistik, Kunst, Rhetorik) müssen daher zunächst gesichtet, interpretiert und homogenisiert werden, um sie in ihrer vollen Aussagekraft auswertbar zu machen (AurouxAuroux, Sylvain, 1980). Parallelen, Transmissionen, aber auch Vergessensprozesse werden so zu Tage gebracht. Nur ein umfangreicher Korpus kann gewährleisten, dass auch zu bestimmten Zeiten wichtige und einflussreiche, heute aber vergessene Texte berücksichtigt werden (Fournier & Raby, 2008). Eine Auflistung mit den nach Fächern geordneten Texten des für die vorliegende Studie verwendeten Korpus, ergänzt durch kurze bibliographische Erläuterungen, findet sich am Ende des 2. Kapitels.
In dem etablierten Arbeitskorpus müssen die wichtigen Objekte und Ideen identifiziert und „neutralisiert“ werden, da selbst die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfassten Texte oft noch stark von der Persönlichkeit, den Erfahrungen, Erwartungen und dem linguistischen und kulturellen Hintergrund des jeweiligen Forschers geprägt sind. Es gilt also, diese Eigenheiten zu berücksichtigen, zu bewahren, und doch vergleichbar zu machen. Dabei gilt das Interesse nicht nur dem Wissen selbst, sondern auch den entwickelten Arbeits- und Denkstrategien, die mit bestimmten Kenntnisständen einhergehen: Die Rekonstruktion ermöglicht die Identifikation der Theorien und die Verbindung der unterschiedlichen Forschungsobjekte, die zu verschiedenen Zeitpunkten prosodisches Wissen darstellen (AurouxAuroux, Sylvain, 1980). Durch dieses Verfahren wird nicht nur die innere Logik der chronologischen Abläufe und Entwicklungen verständlich, sondern die Ideen und Konzepte können auch kontextualisiert und in den verschiedenen ästhetischen Richtungen situiert werden.
Erst an dieser Stelle setzt der praktische Aspekt der Forschung ein. Eine Auswahl an Texten zu Kompositionstechniken und zur Verslehre, an Gedichten, musikalischen Kompositionen und Aufnahmen übernimmt dabei die Funktion einer „praktischen Überprüfung“ der identifizierten Konzepte. Dazu wurde in zwei Umfragen die Wahrnehmung prosodischer Phänomene anhand von aktuellen Aufnahmen rezitierter Gedichte, Slam-Versionen und verschiedener aktueller Musikrichtungen (Chanson und Rap) bei Personen getestet, deren Muttersprache Französisch ist oder für die das Französische eine mehr oder weniger gut bekannte Fremdsprache darstellt. Durch den Vergleich von theoretischen Konzepten und praktischer Überprüfung ergibt sich ein fruchtbarer Austausch, der zum Ziel hat, die Geschichte der Prosodie des Französischen in einer großen Bandbreite darzustellen.
Ich danke allen, die mir während der Arbeit an dieser Forschung Hilfe und Anregung vermittelt haben. Besonders ein Forschungsstipendium der Stiftung Fritz Thyssen in den Jahren 2020–2021 hat es mir erlaubt, meine Zeit ganz dieser aufwändigen Studie zu widmen.
Mein Dank gilt den Mitgliedern des Forschungsinstituts Praxiling in Montpellier, in dessen Rahmen die Forschung durchgeführt werden konnte. Die verschiedenen Gespräche und Diskussionen haben diese Arbeit maßgeblich gefördert. Besonders möchte ich hier Agnès Steuckardt erwähnen, die dieses Projekt unterstützt und wissenschaftlich betreut hat.
In einem Buch, in dem es um klingende Worte, Töne und Laute geht, wäre es schade, völlig auf akustische Beispiele zu verzichten. Um Lesern und Leserinnen Zugang zu einem Teil des reichen praktischen Materials zu geben, das in einer Buchausgabe nur bedingt Platz hat, wurden daher eine digitale Beilage mit zusätzlichen Materialien, Bilder und Verweisen auf Aufnahmen erstellt. Sie ist zugänglich unter
https://praxiling.cnrs.fr/livres/Die_Musik_der_Sprache.pdf
oder
www.meta.narr.de/9783823384939/Die_Musik_der_Sprache.pdf.
Im Text verweisen die durchnummerierten Beispiele („Bsp. 1“ …) auf ein sich in dieser Beilage befindliches Ton-, Bild- oder Textdokument.
1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte
Die Etymologie des Wortes Prosodie weist bereits auf seine interdisziplinäre Ausrichtung hin: Im Altgriechischen bezeichnete ôdê einen Gesang mit Instrumentalbegleitung (Dodane, 2003: 28), prosôidia (griechisch) bezeichnet die melodische Akzentuierung des Altgriechischen und bezieht sich damit gleichermaßen auf Sprache und auf Musik. Die Musikwissenschaft spricht vom „Hinzusingen“ (Pöhlmann, 2016) und verweist damit ebenfalls auf beide Bereiche (je nach Auslegung ist der Text der Melodie hinzugefügt, oder umgekehrt). Der Begriff Intonation, der auf das lateinische Verb intonare zurückgeht, wurde laut Mario Rossi (1999) bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts ausschließlich verwendet, um vom Anstimmen einer musikalischen Melodie zu sprechen. Aufgrund einer falsch verstandenen etymologischen Verwandschaftsbeziehung mit dem Wort tonus wurde der Begriff intonation in Frankreich mit Beginn des 19. Jahrhunderts als Synonym für musicalité und für die mélodie der Stimme gebraucht. Damit bahnte sich eine Bedeutungsverschiebung an, die dazu geführt hat, dass in der Linguistik der Begriff Intonation heute als das Zusammenwirken von Akzent (Intensität) und Tonhöhenverlauf verstanden wird. 1993 erklärte Flo Menezes die prosodische Intonation zum deutlichsten Element, an dem sich die Verwandtschaft von Sprache und Musik unverzüglich einem jeden Hörenden erschließt.1
Jahrhundertelang waren Rhythmus und Silbenlänge Hauptthema der Poeten, und die Beschäftigung mit der antiken Poesie hat zur Herausbildung eines raffinierten metrischen Systems geführt, in dem zahlreiche Kombinationen von langen und kurzen Silben katalogisiert sind. Die ursprünglich griechischen Namen dieser Metren, wie iambe ( ᴗ – ), trochée ( – ᴗ ), spondée ( – - ), tribraque ( ᴗ ᴗ ᴗ ), anapeste ( ᴗ ᴗ – ), dactyle ( – ᴗ ᴗ ), amphibraque ( ᴗ – ᴗ ), crétique ( - ᴗ - ), péon ( – ᴗ ᴗ ᴗ ), choriambe ( – ᴗ ᴗ – ) und pyrrhique ( ᴗ ᴗ ᴗ ᴗ )2 werden heute noch in französischen musiktheoretischen Texten zur Bestimmung der Sequenzierung musikalischer Grundrhythmen verwendet.
Prosodie und Musik blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück. Diese kommt heute allerdings hauptsächlich zwischen den Zeilen zum Ausdruck, zum Beispiel durch die Wahl musikalischer Notationen zur Verdeutlichung verschiedener Intonationsmuster.
1.1 Prosodie und stimmlicher Ausdruck
Wer von Prosodie spricht, denkt an Melodie, an Rhythmus, an Tempo, Intonation, Akzentuierung und/oder an Intensität. Diese Parameter sind untrennbar von (praktisch jeder) menschlichen vokalen Äußerung. „Betrachtet man die alltägliche Konversation, ist doch die Art und Weise wie eine Person etwas sagt – die Prosodie – oft ein scheinbar besserer Spiegel ihres Inneren, ihrer Einstellungen, Absichten und Emotionen, als der eigentliche Wortlaut selbst“, so Daniela SammlerSammler, Daniela (2014). Eine Stimme, der es an Variationen eines oder mehrerer der genannten Parameter mangelt, wird als ausdruckslos empfunden. Der Diskurs wirkt statisch und der Sprecher oder die Sprecherin machen einen unbeteiligten Eindruck, denn die Prosodie übermittelt „nicht nur wesentliche sprachliche Informationen, sondern ist auch Ausdruck der emotionalen und sozialen Befindlichkeit des Sprechers oder der Sprecherin“ (SammlerSammler, Daniela, 2014). Heute existiert eine reiche Literaturauswahl1 mit Erläuterungen und Übungen um zu lernen, ausdrucksvoll (und überzeugend) zu sprechen, das heißt, seine Stimme, und damit die prosodische Gestaltung des Gesagten, zu beherrschen und so den Eindruck, den der Hörer oder die Hörerin haben wird, zu beeinflussen.
Diese Bemerkungen gelten für jegliche Art stimmlicher Äußerung wie freies Sprechen, Vorlesen, Rezitieren, Deklamieren oder Singen gleichermaßen. Damit ist die Prosodie ein von Grund auf interdisziplinäres Phänomen.2 Diese Tatsache spiegelt sich deutlich in der Definition wider, die der Trésor de la langue française informatisé (TLFI) zu diesem Terminus gibt und in der drei Disziplinen angesprochen werden: Metrik oder Poesie (verstanden als die Regeln der Verskunst, das heißt, Vokallängen, Akzentuierung und Intonation), Linguistik (in der französischen Schule verstanden als Studie der prosodischen Parameter wie Melodie, Intonation und Dauer) und Musik (im Rahmen der Wort- Tonbeziehung).3











