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Herr Wechsler
Der Wille allein hilft nicht. Die Krankheit hält ihn fest im Griff, drückt ihn nieder, zwingt ihn, sich wieder hinzulegen. Aus Erschöpfung zieht er sich in sich selbst zurück, in seine Erinnerungen. Während er auf dem Bett liegt, geht er durch Wände. Er spaziert durch sein Leben wie durch eine Landschaft, besucht Wohnorte und Arbeitsplätze, begegnet Menschen. Manchmal ist die Sicht schlecht, nebulös; was einst vertraut war, zeigt sich nur schemenhaft. Und dann gibt es diejenigen Momente, wo auf einen Schlag alles hell erleuchtet erscheint, weil eine Einzelheit zur Leuchtkugel wird. Beispielsweise der kleine weisse Sarg, von seinem Vater am Martinstag auf der Schulter durch die Hintergasse des Dorfes getragen, darin das ungetaufte Kind, seine Schwester.
Herr von Wartburg
Ja, dort auf dem Foto, die Frau mit Hut, das ist sie. Nie wäre meine Mutter in ein Altersheim gegangen, nie! Sie war so stolz und schön und immer stilvoll gekleidet; sie hatte sich selbst und alle anderen im Griff. Ach, meine Mutter, wenn die mich in meiner Aufmachung sähe! Sie wollte immer, dass aus mir mal was wird. Ob Bankdirektor, Bäcker oder Bauarbeiter, das spielte eine Rolle, aber nicht eine derart entscheidende. Die Hauptsache war, wo und in welchem Beruf auch immer, anständig, tüchtig und vor allem: flott zu sein. Anständig, tüchtig und flott, das war man nicht dauerhaft; man musste es immer wieder von neuem werden. Es war Arbeit: die schmutzige Hose gegen eine saubere austauschen. Die abgestossenen Schuhe eincremen und polieren. Die widerspenstigen Haare kämmen. Nicht mit vollem und auch nicht mit halbvollem Mund reden. Langsam essen; das Messer gehört in die rechte, die Gabel in die linke Hand, langsam trinken. Jedermann laut und deutlich grüssen. Das Geld ins Sparschwein stecken und nicht am Kiosk verputzen. Nicht rauchen, nicht trinken. Jeden Tag dafür beten, dass man mal eine hübsche Frau, eine hübsche Wohnung finden würde. Man konnte nie genug früh damit anfangen, sich ins Anständig-, ins Tüchtig- und Flottsein einzuüben.
Was für ein flottes Hemd du hast! Was für ein flotter Bub du bist, ach mein Mäuschen Maximilian! Aus dir wird mal ein flotter Oberministrant!, sagte sie am Sonntag zu mir, bevor ich in die Kirche zum Ministrantendienst ging. Flott, wie ich dieses Wort hasste. Das Wort «flott» flutschte angepasst und widerstandslos durchs Leben. Es hatte keine Ecken, keine Kanten. Es kam darin kein knirschendes K, kein bremsendes R, kein verlangsamendes H vor. Flott. Ogottogott! Ich wollte nicht anständig, ich wollte nicht tüchtig, ich wollte, verdammt noch mal, nicht flott sein.
Noch heute höre ich Mutter, wenn mein Blick an meinem Spiegelbild hängen bleibt, zu mir sagen: Nein, Maximilian, das geht nicht, das macht mir Sorgen. Wie läufst du herum! Schämst du dich nicht? Dein Hemd, es hat Flecken. Deine Hose, abgewetzt und ausgewaschen. Und deine Schuhe, das sind keine Schuhe, das sind Latschen! Geh in die Stadt zum Schild und kauf dir was Flottes!
Frau Deiss
Ein Bett, ein Bad und drei Mahlzeiten – das ist schon alles, alles, was man braucht zum Leben, wer mehr braucht, leistet sich Luxus, sagt sie. Und sie braucht mehr: einen Bleistift, Papier, die Bibel. Auch einen Stuhl und einen kleinen Tisch. Morgens liest sie, schaut aus dem Fenster; nachmittags schreibt sie, schaut aus dem Fenster. Ihre Hände sind gekrümmt, ihre Füsse auch. Sie sitzt im Rollstuhl, gehen kann sie nur mit Mühe. Gicht, sagt sie. Den Bleistift schiebt sie in eine Lücke zwischen den hakenförmigen, geröteten Fingern. Sie hält ihn mit sanftem Druck. Die Schmerzen wären sonst unerträglich. Beim Schreiben wackelt der Bleistift. Im Geheimen, durch die Hand verdeckt, entstehen die Buchstaben. Zum Vorschein kommen grosse, zitterige Wesen, jedes ein Kunstwerk. Vor dem Nachtessen faltet sie das Blatt. Es ist auf beiden Seiten beschriftet, und es vibriert vor Lebendigkeit. Umständlich schiebt sie das Blatt in ein Couvert. Ein Brief pro Tag, sagt sie. Meine Freundinnen sollen wissen: Ich lebe.
Herr Schwery
Nachts schlafe ich schlecht, tagsüber kratzt es mich ununterbrochen im Hals. Und wenn ich durch den Gang zum Fernsehzimmer gehe, spüre ich ein Stechen in der Brust. Wehleidig war ich nie. Aber genug ist genug, sage ich, du bist krank, du gehörst zum Arzt. Zum besten in der Stadt, nicht da zu diesem Etagenheini. Ich bekomme einen Termin, fahre zuversichtlich mit dem Taxi hin. So, sagt der Arzt, was führt Sie zu mir? Und ich sage genau, wie es um mich steht, verheimliche nicht mal mein Pfeifenrauchen, lasse alle Doktorspiele über mich ergehen. Dann verschwindet der Arzt, ich hoffe schon; und nach ein paar Minuten kommt er zurück: mit leeren Händen! Herr Schwery, freuen Sie sich, ruft er, Ihnen fehlt nichts; es sieht alles so weit gut aus. Machen Sie weiter so! Trinken Sie viel Wasser, auch wenn Sie keinen Durst verspüren; essen Sie abends nicht zu viel und nicht zu fettig, legen Sie sich nicht allzu früh ins Bett und lutschen Sie bei Bedarf ein Kräuterbonbon. Mit offenem Mund, eine fürchterliche Enge im Hals, starre ich ihn an: Ohne ein Medikament, ohne ein einziges, schickt dieser arrogante Kittelköter mich nach Hause. Ein Depp, ein Vollidiot. Wenn ich zum Arzt gehe, gehe ich zum Arzt, weil ich krank bin, ein Medikament brauche. Jetzt schlafe ich noch schlechter. Was immerhin beweist: Ich bin wirklich krank!
Frau Moser
Es brennt in ihr. Zum Ausgehen parat, mit roten Lippen und mit Handtasche, sitzt sie im Fauteuil. Die Finger, gepflegt bis in die Nagelspitzen, nesteln an den Knöpfen des Mantels, an der Gürtelschnalle, befühlen den Rocksaum, gleiten über die Beine, legen sich auf ihre Wangen; Frau Moser tätschelt sich selbst. Und erst dann, wenn die Finger an den geschminkten Lippen zu drücken und zu zupfen beginnen, steht Frau Moser auf, zieht sich vor dem Spiegel die Lippen nach, verlässt das Heim und macht sich über Süssigkeiten her. In der nahen Confiserie ist sie Stammgast. Sie setzt sich ans Fenster mit Blick auf die Passanten und versucht durch die Einnahme von Pralinés, Cremeschnitten, Mousse au Chocolat, Zwetschgenkuchen, Hefeschnecken, Marzipanzungen, Zitronenkuchen, Carameltörtchen oder Caracs die immer wieder aufstossende Sehnsucht hinunterzuschlucken. Doch alles, was ihr am Ende eines Tages, auf dem Rückweg zum Heim, davon bleibt, ist: Magenbrennen.
Frau Frigerio
Soll ich Ihnen den Brief vorlesen? Vor zwei Wochen ist er eingetroffen, aus den USA, aus Boston, von meinem Sohn. Ich nehme ihn jeden Tag unzählige Male zur Hand, trage ihn mit mir herum. Also, hören Sie:
Liebe Mutter
Ich habe Deine Adresse von meiner Halbschwester bekommen. Und von ihr habe ich auch gehört, dass Du sehr oft weinst. Du meinst, ich hätte Dich völlig vergessen. Nein, das stimmt nicht. Ich möchte Dich nach all den Jahren endlich wieder einmal besuchen. Dich nicht länger missachten, verachten, nur weil Du Papa damals verlassen hast. Ich möchte lange und entspannt mit Dir an einem Tisch sitzen. Dir keine Vorwürfe mehr machen, Dich nicht anschreien, nicht anschweigen. Ich möchte mit Dir ins Plaudern kommen. Ja, plaudern! Weil es nicht darum geht, gescheites Zeug zu reden, zu diskutieren, über Vergangenes zu streiten, sondern nur darum, im Gespräch miteinander verbunden zu sein: aufgehoben im Klang der Muttersprache. Ich habe sie verlernt, Deine Sprache. Wie klingt sie? Ich möchte Deine Stimme hören, mit Dir sein. An Vorsätzen mangelt es mir nicht, hat es mir noch nie gemangelt. Doch nun ist es höchste Zeit, das «Vor» zu streichen und aus den Vorsätzen einfach Sätze zu machen. Kleine, bescheidene Sätze. Ein Satz schliesst sich an den anderen an – und es gibt ein Weiterkommen, einen Weg. Schritt für Schritt, Satz für Satz. Keine Vorsätze mehr, nur noch Sätze. Das wär’s! Das würde schon reichen. Mutter, ich werde Dich besuchen, ich werde kommen, nur Deinetwegen, ganz bestimmt.
Sei lieb umarmt.
Dein Luigi
Frau Schwarz
Er klopft, wartet – das war doch Mutters Stimme? Er öffnet die Tür, tritt ins Zimmer, will schon Hallo rufen; aber seine Stimme erstickt: Mutter kniet vor der mit Marienstatuen und Heiligenfiguren, mit Rosenkränzen, Weihwasserfläschchen und Totenbildchen überstellten Nussbaumkommode. Den Kopf in den Nacken gelegt, hält sie den hölzernen Längsbalken eines Kruzifixes umklammert, lässt das Kruzifix wie ein Spielflugzeug über ihren Augen schweben. Sie schaut den Gekreuzigten, dessen Metallkörper an mehreren Stellen schwärzlich verfärbt ist, beschwörend an, drückt dreimal seine Brust auf ihre Lippen und ruft ihm zu: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, lass meinen Sohn zu mir kommen, ich bitte dich! Die Lederpantoffeln hat sie ausgezogen, sie stehen exakt nebeneinander. Die unter dem Rock hervorlugenden Beine stecken in Nylonstrümpfen, laufmaschenfrei. Er schaut ihr ungläubig zu, weder in der Lage, einen Schritt nach vorne, noch, einen Schritt zurück zu machen.
Herr Hauser
Er hofft auf ihren Besuch. Und damit die schwarze Heimkatze jederzeit in sein Zimmer schleichen kann, lässt er nach dem Frühstück die Tür einen Spalt offen. Seitwärts legt er sich auf dem Sofa auf die Lauer, summt eine Lockmelodie. Mehr kann er im Moment nicht tun. – Und wenn dann die Katze majestätisch, mit glänzendem Fell und schwungvoll nach oben gerichteter Schwanzspitze, auf einmal erscheint, verneigt er sich vor seiner Königin, geht zum Schrank mit dem Gourmetkatzenfutter, auf dass sie auch morgen wieder den Weg ins richtige Zimmer finden wird.
Frau Gross
Ich liess meine beiden Söhne machen, was sie wollten. Der eine war ein Draufgänger, ging in die Pfadi, trieb sich nach der Schule im Quartier herum, ass nur Teigwaren und kein Gemüse; der andere schwieg den ganzen Tag, schloss sich in seinem Zimmer ein, nahm alte Radioapparate auseinander und baute mit seinen Stokys riesige Lastwagen zusammen; oft wollte er nicht mal zum Essen kommen, weil er so sehr in seine Basteleien versunken war. Nun, das ist halt so. Und heute fährt der eine ein teures Auto, der andere fährt mit dem Rad um die Welt. Weshalb sollte man, was verschieden ist, gleichmachen? Meine eigene Mutter aber sorgte mit Sprichwörtern dafür, dass ich nicht ausscherte, schön in der Mitte blieb: In jeder erdenklichen Situation kam ihr augenblicklich ein passendes in den Sinn, sie zog es aus der Schürzentasche und warf es mir an den Kopf.
Zitierte Mutter ein Sprichwort, so nahm sie eine aufgeplusterte, drohende Haltung ein. Nicht nur wechselte sie den Tonfall ihrer Stimme, sie wechselte auch die Sprache. Anstatt des nagelfluhartigen, etwas grobkörnigen, an manchen Stellen auch sandsteinweichen Luzerner-Hinterländer-Dialekts sprach sie nun ein spitzes, messerscharfes Hochdeutsch. Sagte ich am Frühstückstisch: Ich mag dieses Brot nicht, es ist trocken und hart, so sagte sie sofort: Hartes Brot ist nicht hart, aber kein Brot, das ist hart! Sagte ich, wenn sie mit mir schimpfte: Du gehst mir so was von auf die Nerven!, so sagte sie: Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst! Sagte ich: Nein, ich habe keine Lust, bei Regen an der Wallfahrt teilzunehmen!, so sagte sie: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker! Sagte ich: Den Hasenstall putze ich morgen, so sagte sie: Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute! Sagte ich: Vater hat mich geschlagen!, so sagte sie: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein! Sagte ich: Du musst gar nicht meinen, ich habe es schon gehört, wie du Vater erzählt hast, dass ich heute Nachmittag nach der Schule zu spät nach Hause gekommen bin, so sagte sie: Der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand! Sagte ich: Nein, ich habe jetzt keine Zeit, den Tisch zu decken!, so sagte sie: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen! So ging das, den ganzen Tag. Schlag auf Schlag. Warf ich ein Kieselsteinchen, um auf meine Situation aufmerksam zu machen, warf sie augenblicklich einen Pflasterstein mit eingemeisseltem Spruch zurück.
Frau Greutmann
Seit drei Jahren lebt Frau Greutmann im Himmel, ihr Himmel trägt die Nummer 705, ist zwanzig Quadratmeter gross und ganz in Weiss gehalten. Die weissen Vorhänge sind beiseite geschoben, damit das Licht ungehindert ins Zimmer fliessen kann. Licht, sagt Frau Greutmann, endlich Licht, bloss keine Dunkelheit mehr. Über die endlosen Jahre in der Hölle spricht Frau Greutmann mit kalter, undeutlicher Stimme und in knappen Sätzen. Die Hölle, das war eine trübe Souterrainwohnung an einer vielbefahrenen Strasse in der Stadt Zürich und ein Ehemann, Kettenraucher, der auch nach der Pensionierung nichts von ihr wissen wollte. Nach seinem Tod zog Frau Greutmann aus der Hölle aus und fand im Altersheim den Himmel. Selbst an wolkenreichen Tagen leuchtet und glänzt ihr Zimmer. Jeder Lichtstrahl lässt das viele Weiss aufleuchten: weiss der Rahmen des Wandspiegels, weiss der Kleiderschrank und weiss der Tisch mit den Chromstahlbeinen; weiss der Bettrahmen und weiss die Bettwäsche, weiss das Ledersofa auf goldgelben Füssen und weiss wie Schnee der flauschige Teppich vor der Zimmertür. Einzig an den weissen Wänden hängt ein wenig Grün: ein grosses Ölbild mit einem weissen Rosenbouquet ohne Dornen.
Enzo
Das, was die Welt in Gang hält, sagt Enzo, lässt sich ganz einfach zusammenfassen. Nämlich so: Frauen geben Milch. Männer geben Gas. Ohne Treibstoff stünde das Leben still. Und ich hol mir jetzt noch einen Zweier Merlot.
Emilie
Wenn Emilie warten muss, betet sie. Und also betet sie von morgens bis abends. Gekrümmt sitzt sie in ihrem Sessel, die Rückenlehne ragt weit über ihren Kopf hinaus, und die Polsterung ist so wuchtig und aufgebläht, dass die kleine Emilie zu einer Spielzeugpuppe wird: von der Hand einer Pflegerin frühmorgens aus dem Bett genommen und behutsam auf den Sessel platziert. Drei Kissen stützen den schmalen Rücken, wie ein weiter Rock verhüllt die Wolldecke ihre dünnen Beine; unter der Decke verbergen sich die zum Gebet gefalteten Hände. Emilie macht sich klein, neigt den Kopf nach vorn, beinahe berührt die Stirn die Wolldecke. So verharrt sie ganze Vormittage, als ob sie in sich selbst hineinschlüpfen wollte. Ihre violetten Lippen lispeln Gebete, und ihre Gedanken gehen weit weg: zu den Lebenden und zu den Toten.
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