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Was hilfst du dem nicht, der dich so sehr liebte,
Daß er sich deinetwegen ausgezeichnet ?«170
Auf die Fürsprache dieser drei Frauen macht sich Vergil auf, Dante ins Jenseits zu führen.
H. Gmelin (u. a.) ordnet sie gnadentheologisch als Personifikationen der gratia praeveniens (Maria), der gratia illuminans (Lucia) und der gratia cooperans (Beatrice) zu.171 Diese aus der Gnadenlehre entnommene Unterscheidung gibt in ihrem interpretativen Gehalt Aufschluss bzgl. der theologischen Bestimmung des rechtfertigenden Geschehens ; unableitbar, ungeschuldet und geheimnisvoll gewährt der Schöpfer und Erlöser die Gnade, welche erst den Durchgang durch die Hölle, den Aufstieg auf die Spitze des Läuterungsberges und den Flug durch die Himmel ermöglicht.
Die Gnadenmittlerschaft der drei Frauen ist wiederum vor dem Hintergrund der eschatologischen Lehre vom fürbittenden Dienst der in der ewigen Anschauung Gottes stehenden Heiligen zu sehen. Da die eine Kirche aus der Gemeinschaft der Lebenden, der zu Läuternden (im Purgatorium) und der Heiligen (im Paradies) besteht, können diese als Glieder des Leibes Christi für andere Fürbitte leisten.172 Auch wenn die fürbittende Gnadenvermittlung Mariens von derjenigen anderer Heiliger hervorgehoben werden muss – unter Beachtung ihrer christologischen Zu- bzw. Untergeordnetheit (die einzige und eigentliche Gnadenmittlerschaft Christi bleibt bestehen) – ist das fürbittende Gebet aller Heiligen und die Bitte darum stets als von der Kirche nützlich und bedeutsam angesehen worden.173 Die exponierte Stellung Beatricens als Dantes persönlicher Fürsprecherin um Befreiung von Schuld und die Gnade der Gottesschau wird in den folgenden Ausführungen thematisiert.174 Sie ist stets in ihrer Transparenz bzgl. der in ihren Augen durchschimmernden Liebesfülle Gottes Weggeleit der Sinnsuche menschlichen Fragens, sie ist Tor zur Ewigkeit, nicht diese selbst. Das Unbedingte scheint in ihr auf, insofern sie von ihm erfüllt ist und auf es hin verweist.
An dieser Stelle ist es bedeutsam, in der Person der Beatrice nicht nur eine Personenallegorie der Theologie, sondern auch der Gnade zu sehen. Theologie selbst wird somit als gnadenverwiesen und bekehrungsermöglichend ausgewiesen175, insofern die Personifikation theologischer Wahrheitssuche in Beatrice der Läuterung und personalen Umkehr Dantes dient und sich daran auch messen lassen will. Theologie als Hilfe zu Sündenabkehr und Gottzuwendung versteht sich selbst vom Gnadenmoment der erlösenden Vergebung Gottes her, wie Dante es im Anblick der Augen seiner nun zur Fürsprecherin bei Gott erhobenen Jugendliebe erfahren und erfassen kann :
»Du hast mit Sehnsucht so mein Herz beweget
Durch deine Worte, daß ich gerne komme
Und meinem alten Vorsatz wieder folge.«176
Das Geleit Beatricens verdeutlicht somit die Gnadenverwiesenheit aller Gottesbegegnung, da hierfür offenbarungsunabhängige Versuche (Vergil) letztlich ungenügend sind. Sie personifiziert diesen Grundzug theologischer Reflexion gegenüber der Offenbarung Gottes : Letztlich liegt die rechte Begegnung (Schau) mit der ewigen Liebesfülle des in Jesus Christus fleischgewordenen Gottes nicht in der Erklärung (Durchschaubarkeit), vielmehr in Lob, Dank und demütiger Anbetung. Die Übernahme der Begleiterrolle Vergils durch Beatrice im Vorraum des Paradieses (im irdischen Paradies ; Purg. XXX) entspricht diesem Charakterzug der Theologie gegenüber rein philosophisch-rationalen Überlegungen. Mit der Erweiterung der reflektierenden Selbstvergewisserung des Menschen in den Bereich der Eschatologie hinein wird die Superiorität und denkerische Uneinholbarkeit des sich selbst offenbarenden (oder verbergenden) Gottes anerkannt und somit die Insuffizienz menschlicher Erkenntnisprozesse gegenüber diesem Absoluten-Unbedingten (womit das Wesen der Gnade angesprochen ist).177 Das Theologieverständnis der DC geht von dieser Ambivalenz aus ; ihre Überlegenheit stützt sich auf die Einwilligung in das ihr stets vorgegebene (nicht von ihr erstellbare, sie mensurierende) Geheimnis der Offenbarung Gottes, womit zugleich ein kategorisches Unvermögen des über sie Reflektierenden angesprochen ist. Diese Selbstbescheidung der Theologie nimmt den Theologen selbst in den Blick, in seiner Gnadenverwiesenheit und Bekehrungsbereitschaft.
Exkurs : Die prinzipielle Zuordnung von natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis in der Divina Commedia178
Nach Thomas von Aquin179 besteht eine prinzipielle Zuordnung von natürlicher und offenbarungsabhängiger Erkenntnis Gottes.180 Die in seiner theologischen Summe aufgeworfene und thematisierte Frage nach dem Seelenheil des Menschen geht von einer grundsätzlichen Relationalität von Natur und Übernatur aus ; des Menschen Hinordnung auf das Erreichen der Seligkeit in der Anschauung Gottes ist in seiner Natur (auch bleibend in seiner gefallenen) grundgelegt, durch sie allein aber nicht zu erreichen. Diese Verwiesenheit181 als Zu- und Anspruch gilt für den ganzen Menschen in seinem Denken und Fühlen, Wollen und Handeln. Die ihm eingegossenen theologischen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe dienen zur Vervollkommnung der Seele im christlichen Sinn, wobei ›übernatürliche‹ wie ›natürliche‹ Tugenden (die vier Haupt- bzw. Kardinaltugenden182, die wie Erstere nicht loszulösen sind von der Allursächlichkeit Gottes183) gemäß dem Axiom »gratia non tollit, sed perficit naturam«184 aufeinander bezogen sind. Die Übernatur nimmt also die Gegebenheit der Natur in ihre Dienste, nicht zerstörend, sondern vielmehr darauf aufbauend, sie vollendend. Entsprechend verweisen auch philosophische und theologische Erkenntnissuche aufeinander, da es »keinen Grund für das Bestehen irgendeines Konkurrenzkampfes zwischen Glauben und Vernunft«185 gibt. Ferner gilt nach der Enzyklika fides et ratio : Die Wahrheit, »die uns Gott in Jesus Christus offenbart, steht nicht im Widerspruch zu den Wahrheiten, zu denen man durch das Philosophieren gelangt.«186 Von daher ist es notwendig, die Wechselwirkung von Philosophie und Theologie unter der Perspektive des genuin theologischen Beitrags philosophischer Wahrheitssuche zu beleuchten : »Die aus der göttlichen Offenbarung kommenden Beiträge zur Wahrheit abzulehnen, bedeutet nämlich, sich zum Schaden der Philosophie den Zugang zu einer tieferen Wahrheitserkenntnis zu versperren.«187 Dabei will Theologie die philosophische Erkenntnis nicht begrenzen bzw. vereinnahmen, vielmehr einen Beitrag zu ihrer Entgrenzung liefern, ein Angebot, welches sich als Antwortmöglichkeit philosophischer Fragestellungen aus der christlichen Offenbarung heraus versteht.
Der Einzelne sieht sich in diese prinzipielle Zuordnung von natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis hineingestellt. Für Karl Rahner sind deswegen existentialphilosophische Überlegungen Ausgangspunkt seiner Thematisierung der Offenheit für Transzendenz als Konstitutivum des Menschen. Das entsprechende Verhältnis von Natur und Übernatur skizziert er in seinem ›Grundkurs des Glaubens‹. Nach Rahner interpretieren sich Natur und Übernatur gegenseitig, Natur und Gnade lassen sich adäquat jeweils nur vom anderen her bestimmen.188 Die Erfahrung von Transzendenz wird von Rahner wie folgt definiert : »Das subjekthafte, unthematische und in jedwedem geistigen Erkenntnisakt mitgegebene, notwendige und unaufgebbare Mitbewußtsein des erkennenden Subjekts und seine Entschränktheit auf die unbegrenzte Weite aller möglichen Wirklichkeit nennen wir die transzendentale Erfahrung.«189 Der Mensch ist demnach grundsätzlich offen für die Erfahrung einer Offenbarung Gottes190, welche ihm seine eigene Existenz erst in rechter Weise deutet. Ausgehend von seiner sinnlich-begrenzten Erfahrungswelt gehört es zur apriorischen Struktur des Selbstbesitzes des Einzelnen, dass er in einem Vorgriff auf das Unbedingte seine raumzeitlich gesetzten Grenzen überschreitet. Auch wenn dies zunächst ein unthematisches Wissen von Gott ist, eine Ahnung und ein Verweis auf Gott als den Bezugspunkt aller transzendenten Erfahrung, so beschreitet Rahner im Grunde den Weg des Aquinaten in dem Bewusstsein der Verwiesenheit des Menschen auf einen ihn unendlich übersteigenden Sinnhorizont, von dem aber jegliche Orientierung und Sinnverortung abhängt. Im Vorgriff auf die Unendlichkeit Gottes ist diese selbst schon präsent als ein Geschenk von Ihm her »in dem Sinn der Seinsempfängnis, letztlich der Gnade.«191 Diese Vorahnung des Menschen auf die ihm von Gott her geschenkte Erfahrung der Seinsfülle charakterisiert auch seine Sehnsucht nach Erlösung. In der vorgrifflichen Erfassung des unbedingten Seins drückt sich die Hoffnung auf eigene Vollendung, auf die persönliche Hineinnahme in diese Unbedingtheit aus, die in der raumzeitlichen Bedingtheit des irdisch-endlichen Lebens nicht eingeholt werden kann. Daher nennt Rahner das in der transzendentalen Erfahrung zum Ausdruck gebrachte Wesensmoment des Menschen ein übernatürliches Existential192.
Auch Dante setzt für seine Divina Commedia diese gegenseitige Bedingtheit von Theologie und Philosophie, von Glaube und Vernunft, von Transzendenz und Immanenz voraus. So verleiht er etwa im 29. Gesang des Purgatorio den erworbenen (Natur) und eingegossenen Tugenden (Übernatur) einen bildhaften Ausdruck : Am rechten Rad des Triumphwagens der ecclesia (gezogen von Christus in der Darstellung eines Greifes als Bild seiner gottmenschlichen Natur) gehen in der Gestalt von drei Frauen die drei theologischen Tugenden, auf der anderen Seite sind es deren vier als Allegorien der vier Kardinaltugenden.193 Diese dichterische Verbildlichung der Tugendlehre des Aquinaten geht von einer kategorischen Zusammenschau der beiden Gruppen aus, unter eindeutigem Primat der Liebe : »[…] cum charitate simul infunduntur omnes virtutes morales.«194
Dem Tugendverständnis der Commedia geht demnach eine oben skizzierte Auffassung des Ineinanders von Offenbarung/Glaube und natürlicher Gotteserkenntnis/Vernunft voraus, was allerdings primär in der Frage nach dem individuellen Heilsweg des Einzelnen anschaulichen Niederschlag findet. Glaube und Wissen sind in ihrem Bedingungsverhältnis derart aufeinander verwiesen, dass der Offenbarungsglaube nach seinem reflexiven Verständnis drängt, ohne damit von der Vernunft allein ableitbar zu sein (was gerade dem Wesen der Offenbarung als unableitbar-übernatürlicher Selbstmitteilung des dreieinigen Gottes in der Bedingtheit raumzeitlicher Weltwirklichkeit widersprechen würde).
Für den Jenseitsweg Dantes bleibt festzuhalten, dass von der Gnade her Natur als auf diese hingeordnet gesehen werden muss (was entsprechend für das Verhältnis von Theologie und Philosophie auszusagen ist) vor dem Hintergrund der Mysterialität des erlösenden Offenbarungsgeschehens. Der eigentliche Zielpunkt des eschatologischen Erkenntnisweges besteht jedoch im soteriologischen Moment, in der persönlichen Vollendung, die als denkerisch uneinholbar das Gebet und nicht die Abhandlung erheischt : »Der letzte Sinn der Philosophie liegt in der Theologie, der letzte Sinn der Theologie aber in der Heiligkeit.«195
Hinsichtlich der Zuordnung Beatricens zur Theologie und Vergils zur Philosophie ist in diesem Zusammenhang auf das angekündigte Ende der Begleitung Vergils in Inf. I, 122–126 (da Vergil dem Kreis des limbus patrum zugehörig selbst der ewigen Anschauung Gottes verlustig ist) und v. a. auf Par. XIX, XX und XXIV196 hinzuweisen, wo Dante sein persönliches Glaubensbekenntnis ablegt197. Stets gibt die übernatürliche, offenbarungsabhängige und gnadengebundene Gotteserkenntnis den Maßstab für die natürliche, vernunftgeleitete ; die Glaubensannahme (und die damit verbundene Umkehrbereitschaft) wird dadurch keineswegs zum sacrificium intellectus, vielmehr wird das unvoreingenommene Erkenntnisstreben des Menschen selbst erhoben, sodass er zu sich selbst (gemäß dem Verständnis des desiderium naturale bzw. der potentia oboedientialis)198 kommt. Dante wiederum weist stets auf die Unableitbarkeit des Geheimnisses der personalen Rechtfertigungsgnade hin ; es geht ihm schließlich weniger um theoretische Spekulation als um die ermahnende und aufrüttelnde Darstellung des Einzelschicksals und seiner Bestimmung zur visio beatifica. Was demnach in der wissenschaftlichen Abhandlung theologischer Erkenntnissuche scheinbar klar und unzweideutig dingfest gemacht werden soll, ist in seiner konkret-individuellen Anwendung für den Dichter der mystischen Gottesbegegnung im Jenseits unausdrückbar, wodurch gerade seine Bitte im letzten Gesang der DC vor der Schau des ewigen Lichtes verständlich wird :
»O höchstes Licht, das über Menschensinne
So weit erhaben, leihe meinem Geiste
Ein wenig noch von dem, was du geschienen ;
Und mache meine Zunge also mächtig,
Daß sie ein Fünklein nur von deinem Glanze
Den künftigen Geschlechtern lassen möge.«199
Auf der Ebene der Untersuchung der Handlung der DC erscheint es dem Interpreten notwendig, sich dem Anspruch dieser Selbstbescheidung anheimzustellen ; das Verständnis der Dichtung als belebende Darstellung der theologischen Lehre lässt sich kaum angemessen thematisieren, indem man von dieser Konkretheit und Anschaulichkeit wiederum einfachhin abstrahiert und in die reine Systematik zurückfällt. Das personal-emotionale Theologieverständnis in der Gestalt Beatricens in Analogie zu einem personal-inspirativen Philosophieverständnis im Auftreten Vergils zeigt, dass es dem Dichter nicht um repräsentative Personen dieser Wissenschaften ging (wozu Thomas und Aristoteles sich weitaus besser eigneten), sondern um ihn ansprechende Erfahrungen seines Lebens, wobei auch und gerade das Schicksal der beiden ihn prägenden Persönlichkeiten sein Interesse einnimmt (bei Vergil ist dies die Frage nach der Verdammung der ungetauft Gerechten bzw. nach der Gnadenwahl Gottes, in Beatrice sieht er seine eigene Erlösung unmittelbar angesprochen). Dass diese personale Ebene nicht die theoretische Grundlegung der theologischen Aussage überflüssig werden lässt, ohne diese gar nicht verstanden werden kann, soll in den folgenden – die theologische Systematik integrierenden – Erläuterungen zu den drei Liedern der Divina Commedia deutlich werden.200
3 Die Sehnsucht des Menschen nach der Erfüllung seines Liebesstrebens als Maßstab seines Handelns : Paradiso
3.1 Das irdische Paradies 201
3.1.1 Die Begegnung mit Beatrice als Ablösung der Philosophie durch die Theologie
Am Ende der siebten Stufe des Läuterungsberges, wo die Wollust (luxuria) gebüßt wird, müssen Vergil und Dante (zu denen sich zuvor Statius gesellte)202 durch eine Feuerwand hindurchschreiten, um ins irdische Paradies zu gelangen. Dort verlässt Vergil Dante und kehrt wieder in den Limbus zurück, da nun Beatrice dessen Begleitung übernimmt.203
Dem Interesse dieser Arbeit an der Bedeutung Beatricens entsprechend soll zunächst das Paradies (in Einheit mit dem am Ende des Purgatorio stehenden irdischen Paradieses) bzgl. seiner theologischen Ausrichtung untersucht werden, bevor Purgatorio und Inferno als läuternde Vorstufe bzw. Negativbild des Vollendungshorizontes menschlichen Lebens (als berufenes zur glückselig machenden Schau – visio beatifica) in den Blick genommen werden.204 Dies liegt deshalb nahe, da Beatrice im irdischen Paradies Dante erstmals gegenübertritt. Im Fegefeuer bzw. in der Hölle übt sie ihre Begleiterrolle nur indirekt über (den von ihr gerufenen) Vergil aus, und erst nach Dantes Entsühnung und Absolution unternimmt sie mit ihm den Gang durch die Sterne :205
»Dort wird man sehn, was wir hier unten glauben
Ohne Beweis ; es wird sich offenbaren
Gleich der von uns geglaubten ersten Wahrheit.«206
Wie Dante demnach durch die Verstrickung in die Sünde (Inf. I) Beatrice als sein Idealbild der Tugend und Liebe aus den Augen verlor, so vermag er sie nach Sühne und Vergebung wiederzusehen, sich unter ihren Zauber, aber auch unter ihre Fittiche zu begeben, denn als die in den Himmel Erhobene blickt er stets demutsvoll zu ihr empor. Im Durchgang durch das Feuer macht Vergil dem zagenden Dante207 mit den Worten Mut :
Gli occhi suoi già veder parmi.208
Er verheißt Dante am Ende der Feuerwand das lang ersehnte Wiedersehen mit Beatrice. In dieser Zusage überwindet jener seinen Kleinmut und ist bereit, durch das Feuer zu gehen (Purg. XXVII, 46 ff.)209.
Im irdischen Paradies angelangt, fällt Dante – es ist inzwischen Abend geworden210 – in tiefen Schlaf und empfängt die dritte Traumvision211 auf dem Läuterungsberg und analog zu den beiden anderen Visionen an entscheidender Stelle (eben beim Eintritt in das irdische Paradies). In dieser erblickt er eine junge Frau, blumenpflückend, die sich als biblische Lea212 zu erkennen gibt und im Gegensatz zu ihrer Schwester Rahel als Sinnbild der vita activa (gegenüber der vita contemplativa) auftritt.213 Lea und Rahel werden parallel zu den nun in die Handlung unmittelbar eingreifenden Matelda214 und Beatrice genannt ; Lea und Matelda stehen hierbei für das auf das anschauliche Leben vorbereitende215 (und diesem untergeordnete) aktive Wirken. Die Zuordnung Beatricens zur vita contemplativa ergibt sich auch aus ihrer Position in der Himmelsrose als dem – in Stufen aufgeteilten216 – Sitz aller Seligen im Himmel bei der erwähnten Rahel.217
Nach Sonnenaufgang gehen Vergil und Dante die letzten Stufen empor, wobei der Führer ihm die Erfüllung all seiner – irdisch unerfüllbaren – Sehnsüchte verspricht. Sodann überlässt er ihn sich selbst, beendet somit seine Führerschaft und stellt Dante gar über weltliche und kirchliche (im Sinne der pilgernden Kirche auf der Erde)218 Machtansprüche :
»[…] Das zeitliche und ewige Feuer
Hast du gesehn, mein Sohn ; du bist gekommen
Dahin, wo ich von mir aus nichts mehr kenne.
Mit Geist und Kunst hab ich dich hergeleitet.
Nun nimm zum Führer deinen eignen Willen […]
Erwarte von mir nicht mehr Wort und Zeichen.
Frei, grade und gesund ist nun dein Wille,
Und Sünde wär es, wenn du ihm nicht folgtest.
Drum krön ich dich zu deinem eignen Herren (per ch’ io te sopra te corono e mitrio) !«219
Nachdem Dante also durch Hölle und Purgatorium (il temporal fuoco e l’eterno ; Purg. XXVII, 127) gegangen ist, begleitet von Vergil als Allegorie der natürlichen Gotteserkenntnis bzw. der auf die Theologie zuarbeitenden Philosophie220, überlässt ihn dieser seinem eigenen Dünken (piacere), da sein Wille nun frei (libero), gerade (dritto) und gesund (sano) und daher der erbsündlichen Neigung zum Bösen (Konkupiszenz) nicht mehr unterworfen ist.221 Als letzte Handlung setzt Vergil ihm Mitra (mitrio) und Krone (corono) auf ; diese Krönung ist Versinnbildlichung der neuen Situation : Dante ist im irdischen Paradies, er genießt dessen ursprüngliche Freiheitssituation im status naturae elevatae et integrae.222 Nach Dantes Welt- und Heilsverständnis dienen Kaiser- und Papsttum (im dialektischen Verhältnis gegenseitiger Zuordnung und doch prinzipieller Abgegrenztheit)223 zur Erlangung irdischer Zufriedenheit und himmlischer Seligkeit.
3.1.2 Lethe und Eunoe – die erlangte Vergebung
Im 28. Gesang des Purgatoriums kommt Dante durch den Garten Eden gehend – in seiner Schönheit eindeutig dem dunklen, undurchdringlichen Sündenwald in Inf. I gegenübergestellt – an einen unvergleichlich klaren Bach, der ihm den Weg versperrt : Lethe224. Dort begegnet ihm auch die schöne, vor sich hin singende, jungfräuliche Frau (bella donna225) mit Namen Matelda,226 die ihm das Geheimnis von Schöpfung und Sündenfall wie folgt kundtut :
»Das höchste Gut, das nur mit sich zufrieden,
Erschuf den Menschen gut, und dies Asyl
Gab’s ihm zum Pfande für den ewigen Frieden.
Er weilte hier nicht lange, da er fiel ;
Sein Fall verwandelte in Angst und Beben
Ein züchtiges Lachen und ein süßes Spiel.«227
Die Erlangung der Urstandsgnade228, die unzerrüttete Ursprungsnähe von Gott und Mensch im irdischen Paradies, wird im Folgenden im Anblick Beatricens, in der Versenkung in ihre Augen, dichterisch-zentriert zur Darstellung gebracht. Mit den Worten des Hohen Liedes Veni sponsa de Libano229 leitet der Dichter das Wiedersehen mit seiner seligen Jugendliebe ein. Mit weißem Schleier (wie eine Braut geschmückt) erscheint Beatrice, sie trägt ein rotes Kleid unter einem grünen Mantel, die Symbolfarben von Glaube, Hoffnung und Liebe.230 Noch in der Verschleierung (der unverschleierte Anblick wird ihm erst nach seiner Beichte in Purg. XXXI, 133 ff. gewährt) erkennt Dante Beatrice (Purg. XXX, 34 ff. : E lo spirito mio […] d’antico amor senti la gran potenza […] conosco i segni dell’ antica fiamma), und dies ist der Augenblick, da ihn Vergil (dolcissiomo patre ; Purg. XXX, 50) verlässt (Purg. XXX, 46 ff. als Erfüllung des Freispruches in Purg. XXVII, 127 ff.), worauf Dante in Tränen ausbricht. Beatrice mahnt ihn, Tränen der Reue, nicht des Abschiedes zu weinen (Purg. XXX, 55–57 und 73–75). Dies ist die einzige Stelle in der DC, in der Dantes Name genannt wird (Purg. XXX, 55) – entgegen dichterischer Gepflogenheit231 nennt sich hier der Verfasser (durch den Mund Beatricens) selbst (womit deutlich wird, dass die Form Dienerin des Inhaltes ist, demnach die eigentliche Intention der DC nicht in der künstlerischen Darstellungskraft, sondern in ihrer existentialtheologischen Ausrichtung zu suchen ist).232
Die Begegnung mit Beatrice im irdischen Paradies, am Ende seines Läuterungsweges, mündet in Beichte und Lossprechung ein. Seine volle Schuld erkennt Dante erst im Angesicht der Gottesweisheit (Beatrice), da sie ihm von seinem befangenen, raumzeitlich bedingten Erkenntnisvermögen aus (Vergil) nicht in ihrer unmittelbaren und weitreichenden Schwere ins Bewusstsein gebracht werden kann. Die Liebe als Grund der Umkehr entlässt aus sich heraus die eigene Betroffenheit hinsichtlich des persönlichen Versagens und Scheiterns. Vor Beatrice wandeln sich die in Infernum und Purgatorium ausgesprochenen Mitleidsbekundungen gegenüber den Verlorenen und Büßenden in die eigene Reue in der Erkenntnis der eigenen Schuld. In Purg. XXX, 102 ff. nimmt Beatrice die in Inf. II vorgebrachte Anklage (welche durch Dante selbst in Inf. I als Bekenntnis der eigenen Schuldverstrickung aufgegriffen wird) wieder auf, indem sie ihm vor der Zeugenschaft der Heiligen und Engel (die den Eindruck eines neuzeitlichen Geschworenengerichts erwecken) ins Gewissen redet :
» […] durch das reiche Maß von Gottes Gnade […]
War dieser so in seinem jungen Leben
Geschaffen, daß ihm jede gute Gabe
Sich hätte wunderbar entfalten können.
Doch soviel böser wächst und soviel wilder
Das Ackerland mit schlechtem, rohem Samen
Je mehr es in sich trägt an guten Kräften.
Für kurze Zeit gab ihm mein Antlitz Stärke ;
Indem ich ihm die jungen Augen zeigte,
Führt’ ich ihn mit mir auf dem rechten Wege.
Sobald ich auf der Schwelle angekommen
Des zweiten Alters und das Leben tauschte,
Verließ mich dieser und ergab sich andern.
Als ich vom Fleisch zum Geist emporgestiegen,
In Schönheit und in Tugend noch gewachsen,
Ward ich ihm weniger genehm und teuer.
Er wandte seinen Schritt auf falsche Wege
Und folgte trügerischen Wunschgebilden,
Die kein Versprechen jemals ganz erfüllen. […]
So tief fiel er, daß alle andern Wege
Zu seinem Heile schon vergeblich waren,
Außer dem Anblick der verlornen Seelen.«233
Die durch Beatricens Anklage initiierte Gewissenserforschung Dantes knüpft an Purg. IX an, wo er am Eingangstor zum eigentlichen Läuterungsberg (mit seinen sieben Stufen der jeweiligen Sündenschuld) in seine Buße eingewiesen wird.234 Das Sakramentenverständnis der Kirche einholend (in der Reihenfolge Reue [contritio], Bekenntnis [confessio], Genugtuung [satisfactio] und Lossprechung [absolutio])235 rufen die Worte Beatricens in ihm zunächst Reue hervor, indem sie von seiner hohen Begnadung spricht ; das Vergeuden eines Talentes wiegt umso schwerer, je mehr Erwartungen an es geknüpft waren (gemäß Lk 14,15 ff. und v. a. Lk 19,11 ff.).236 Die einzige Möglichkeit seiner Umkehr sieht Beatrice in der drastischen Anschauung derjenigen, die in Ewigkeit scheiterten und des Ganges mit jenen, die vor ihrem Eintreten in die ewige Glückseligkeit selbst nach Läuterung streben, angetrieben von ihrer noch verbliebenen Restschuld (Purg. XXX, 136–141, vgl. analog hierzu die Aussagen in Inf. II). Der (An)Klage (accusatio) folgt in Purg. XXXI die Beichte (confessio). In Purg. XXXI, 22–30237 wiederholt Beatrice die Anklage – fragend nach den Gründen seines Verirrens – und Dante gibt eine schuldeingestehende Antwort, die gerade nicht eine Relativierung ihrer selbst durch Anführung mildernder Umstände intendiert und wieder auf die fehlende Orientierung an Beatrice anspielt.238 Gerade das Eingeständnis Dantes (dessen Bedeutung für die gesamte Beichte ist in Purg. XXXI, 37–42 angesprochen) nach der Anklage Beatricens, die ihm (schon allein ihr Name) Ehrfurcht und Respekt einflößt (Par. VII, 13–15), zeigt, dass nicht ihr vermeintliches Fernbleiben, ihre Unerreichbarkeit, Grund seiner Schuldbefangenheit ist, vielmehr er selbst seine Augen von der Erhöhten abwandte (dem entspricht Purg. XXXI, 46 ff.). Auch der tote Leib (carne sepolta) hätte ihm Führer sein müssen, ja viel mehr als der irdische239, derweil die Unbedingtheit des irdischen Erlebens (sozusagen der Einbruch des Transzendenten ins Immanente) nicht wieder durch Bedingtheiten des Lebens eingeholt werden kann, sondern Grunderlebnis für alles Weitere und insbesondere des Strebens nach der glückselig machenden Anschauung Gottes ist.240









