- -
- 100%
- +
Nach Reue241 und Bekenntnis (die satisfactio ist durch den Aufstieg zum irdischen Paradies gegeben) sieht Dante erstmals im Laufe seiner Jenseitsreise in die Augen der geliebten Gottesführerin, die ihm Vorausgleichnis der visio beatifica sind. Beatrice verweist somit Dante auf sein Gewissen, sie redet ihm nicht Schuld ein, sondern öffnet ihm vielmehr die Augen, bewegt ihn zur Selbsterkenntnis, indem sie ihn den Weg der Selbstwerdung einschlagen lässt, ihn auf den rechten Weg der Gottsuche bringt. Durch ihren Eintritt in die Ewigkeit verklärte sie sich zum Sehnsuchtsbildnis unbedingter, absoluter Liebe und steht so für die Rückgewinnung der Blickrichtung hin zum Unbedingten, nachdem Dante durch die Verabsolutierung irdischer Güter das ewige Gut selbst aus den Augen verlor. Sie ist die personifizierte Aufforderung zur Transzendentalisierung kontingenter (scheiternder) Lebenswirklichkeit.
Das Bad (das Trinken bzw. die Taufe242) im Lethefluss (Purg. XXXI, 91 ff.) durch Matelda versinnbildlicht Dantes Absolution ; er wird aufgenommen in den Reigen der Kardinaltugenden (Purg. XXXI, 104 in Anlehnung an Purg. XXIX, 130–132) und erblickt in Beatricens Augen (zunächst noch verschleiert) Jesus Christus (in der Greifengestalt ; Purg. XXXI, 115 ff. in Anlehnung an Purg. XXIX, 108–114). Die vier weltlichen Tugenden bereiten auf die drei theologischen (Purg. XXXI, 111) vor243, die sich ihm im (nun unverschleierten) Anblick Beatricens zeigen, da sie sich in die Anschauung Gottes versenkend ihrer zweiten Schönheit erfreut (la seconda bellezza ; Purg. XXXI, 138). H. Gmelin schreibt in seinem großen Dantekommentar hierzu : »Der Schluß des Gesanges bringt die abschließende Szene des Beichtaktes, das sichtbare Zeichen der Gnade für den Geläuterten, die Enthüllung Beatrices […] in dem sich das Augenmotiv der Minnedichtung mit dem Spiegelmotiv der transzendentalen Lichtsymbolik verbindet […]. Dieses Spiel der Blicke, in dem Beatrice die Mittlerin zwischen Dante und Christus darstellt, ist begleitet […] durch […] den Tanz der drei geistlichen Tugenden«.244 Beatrice, die Seligmachende, Allegorie des Gottschauens und der dahin führenden Gottesweisheit, ist hier als Mittlerin245 ausgezeichnet ; in ihr und durch sie erblickt Dante die Unbedingtheit der göttlichen Liebesfülle. In der Transzendierung irdischer Liebeserfahrung (im Gegenüber/Anblick des geliebten Du) gewinnt diese erst ihre Tiefe, da sie als Abbild der Liebe des Dreieinigen246 auch in ihm ihren Zielgrund weiß und dadurch vor Selbstvergottung geschützt ist. Selbstrelativierend ob ihrer Abkünftigkeit von Gott und ihrer Zukünftigkeit in Gott erfährt irdische Liebessehnsucht Mut zur Einholung der eigenen Bedingtheit und Anfälligkeit angesichts der Bedrohung aller kontingenten Wirklichkeit. Der Sackgasse der Verabsolutierung des Endlichen wird in der DC mit der Transzendierung irdischer Liebessehnsucht247 begegnet, die neue Wege gangbar macht, den Horizont und den Blick auf die Sterne eröffnet : Puro e dosposto a salire alle stelle.248
3.1.3 Das Kirchenverständnis in den Gesängen zum irdischen Paradies
Neben der Begegnung mit Beatrice und der damit verbundenen Entsühnung Dantes als Voraussetzung der Weiterführung der Jenseitsreise durch die Himmel des Paradieses ist im irdischen Paradies auf der Höhe des Läuterungsberges das darin gezeichnete Kirchenverständnis bedeutsam.249 Mit Beatrice, der Führerin zur Seligkeit, tritt die Kirche in ihrer himmlischen Pracht (ecclesia triumphans), aber auch in ihrer irdischen Anfälligkeit in Erscheinung. Neben der Anklage Beatricens, dem persönlichen Sündenbekenntnis Dantes und seiner Läuterung wird parallel die Schuldverfangenheit weltlicher Machtansprüche der Kirche zur Sprache gebracht und der Gestalt Beatricens (als Verkörperung der idealen, da sich ganz der Gottsuche und Offenbarungsverkündung anheimgestellten Kirche mit ihrer entsprechenden Theologie) gegenübergestellt.250
In Purg. XXIX begegnet Dante im lichten Wald des irdischen Paradieses einer Prozession, dem Zug der himmlischen Kirche. Sieben Leuchtern (den sieben Gaben des Geistes)251 folgen die 24 Greise der Offenbarung des Johannes (in weißen Kleidern ; Purg. XXIX, 64–66)252 ein Marienlob anstimmend, schließlich die vier Evangelisten (nach Ez 1,4 ff. und Offb 4,6 ff.), bevor im Zentrum der Prozession ein Triumphwagen, der die Kirche repräsentiert253 (und dessen Räder für das AT und NT stehen könnten), gezogen von Christus in der Gestalt eines Greifes – seine Gottmenschlichkeit andeutend254 – zu erkennen ist (Purg. XXIX, 106–114). Das Gefährt (carro ; ebd., 107) begleiten am rechten Rad die theologischen Tugenden (drei tanzende Frauen in den entsprechenden Farben), am linken die vier Kardinaltugenden. Ihnen folgen Lukas (die Apostelgeschichte) und Paulus (dessen Briefkorpus), schließlich bilden die Personifikationen der vier sog. Katholischen Briefe255 und der Apokalypse den Schluss.
Im XXXII. Gesang des Purgatorio folgt die Darstellung der Unterlegenheit der irdischen Kirche gegenüber den Versuchungen der Zeitgeschichte. Die Szene wird durch den Ausruf Adamo (Purg. XXXII, 37, sein Schicksal klingt in Purg XXXIII, 62–64 an) eingeleitet und optisch um einen kahlen Baum (una pianta dispogliata ; Purg. XXXII, 38) gelagert.256 Die Prozession ist an diesem Baum zum Stehen gekommen, an dessen Stamm der Greif die Wagendeichsel mit den Worten festmacht : »So rettet man den Samen der Gerechten.«257 Daraufhin fängt der Baum zu blühen an (die gefallene Menschheit ist durch Inkarnation und Erlösungstod erneuert), und Dante fällt in Schlaf. Nach seinem Erwachen sieht er Beatrice an der Wurzel des Baumes sitzen und zusammen mit den Geistesgaben und Tugenden den Wagen der Kirche bewachen (der Greif ist verschwunden, die Zeit der pilgernden, auf die Wiederkunft des Herrn harrenden Kirche beginnt). Die nun folgenden Anfeindungen versinnbildlichen die Versuchungen der Kirche258 : Der Sturzflug des Adlers auf den Baum und Wagen steht für die Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte durch das römische Weltreich. Ein gieriger Fuchs (häretische Strömungen der frühen Kirche) wird von Beatrice (der Theologie) vertrieben. Der erneute (Federn lassende) Sturzflug des Adlers versinnbildlicht die Verweltlichung der Kirche durch die sog. Konstantinische Schenkung (als Legitimation aller irdischen Machtansprüche der Päpste259 gegenüber des im Jupiterhimmel (Par. XVII–XX) gelobten und in Dantes Monarchia begründeten gottgewollten Kaisertums). Der Drache (nach Offb 12), der den Wagen durchsticht, könnte Satan oder den aufkommenden Islam symbolisieren. Es folgt die Verwandlung des Wagens in das Tier der Apokalypse (vgl. Offb 17) und die Erscheinung einer Dirne, die um einen Riesen buhlt (ebenfalls in Anlehnung an Offb 17 ; vermutlich eine Anspielung auf das französische Königtum), woraufhin beide von dem Tier in den Wald verschleppt werden (womit das Avignonesische Schisma – 1304 unter Clemens V. beginnend – angesprochen ist). Nachdem die Tugenden in Purg. XXXIII, 1 den Psalm 79 anstimmen (Klage über die Zerstörung Jerusalems), wiederholt Beatrice die Worte Jesu aus Joh 16,16 über seine Wiederkunft und gibt eine Deutung des Geschehens (Purg. XXXIII, 26 ff. mit der Hoffnung auf einen Retter, einen das Reich einenden Führer oder Kaiser, in ebd., 40–45).
Dantes Kirchenverständnis orientiert sich demnach an dem spirituellen, soteriologischen Auftrag der pilgernden Kirche, die in ihren Sakramenten den Menschen Dienerin ihrer Erlösungssehnsucht sein soll. In seiner Betrachtung treffen sich Schöpfungstheologie (Sündenfall, der entblätterte Baum der Erkenntnis) und Christologie (die Neubegrünung desselben) in einer eschatologisch-apokalyptischen Gesamtschau.260 Er entwirft keine systematische Ekklesiologie, dennoch ist nach der DC die Kirche unter der Perspektive des Seelenheils der Gläubigen (also gnadentheologisch) zu sehen. Die Einmischung der Kirche in weltliche Angelegenheiten, ihre Machtansprüche in Konkurrenz zu dem damit dem Parteienzank ausgelieferten Kaisertum261, werden aufs Entschiedenste verurteilt, da nur ein starkes Kaisertum die Wohlfahrt der gesamten Christenheit seiner Überzeugung nach (v. a. vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen in Florenz262) herbeiführen kann. Dies ist der Grund seiner Mahnung im irdischen Paradies der DC gegenüber dem nach Erkenntnis und Macht strebenden Menschen, dessen letztes Ziel in der Transzendenz, nicht Immanenz, auf ihn wartet :
»So melde diese Worte dort den Menschen
Im Leben, das zum Tode nur ein Laufen (viver ch’è un corre all morte),
Und denk daran, daß du bei deinem Schreiben
Auch nicht verschweigst, wie du den Baum gesehen,
Der nun hier oben zweimal ausgeplündert.
Wer immer ihn beraubet oder schädigt,
Beleidigt Gott mit tätlicher Verlästrung,
Denn heilig schuf er ihn zu eignem Zwecke.«263
Die Bilderwelt des Paradiso terrestre ist aber auch Ausdruck der inneren Gefühlslage Dantes. Sein Umkehrweg hat nun die entscheidende Markierung, den Wendepunkt erfahren, von nun an geht es nicht mehr steinig bergauf, sondern beflügelt durch die Himmel. Was er auf dem Gipfel des Läuterungsberges erlebt, ist somit nicht nur Darstellung des Wesens und der Bedrohung der Kirche, sondern auch Darstellung des Wesens und der Bedrohung des einzelnen Gläubigen. Das Szenarium zeigt die Verbindung von Einzelschicksal und Gemeinschaft. Hier – wie an jedem anderen Ort im Jenseits – findet sich der Protagonist wieder mit all seinen Sehnsüchten, Hoffnungen, Erwartungen.264 Das, was Kirche ist, findet seinen Ausdruck im Erlösungsweg des einzelnen Gliedes. Umgekehrt ist der Einzelne in die Gemeinschaft der Kirche eingebunden und insofern beheimatet, als sie in ihrem Selbstverständnis die Erfahrungen und Schicksalsschläge des menschlichen Lebens aufzugreifen und von der Offenbarung her zu beleuchten sucht. Dieses Ineinander, diese gegenseitige Verwiesenheit von einzelnem Glied und dem ganzen Organismus/Leib kommt v. a. auch in der Beichte Dantes in Purg. XXXI zum Vorschein. Auch dieses Geschehen bleibt eingewoben in die Gemeinschaft der Kirche, ist ein der ganzen Kirche zukommender und sie betreffender Vorgang. »Dante […] ist nirgends, am allerwenigsten hier, wo er den Schwung zum Himmel nehmen soll, von kirchlichem Beistand verlassen. Ja, gerade hier erfährt er, dass die kirchliche Autorität […] im entscheidenden Augenblick seine nachsichtigste und zärtlichste Fürsprecherin ist […]. Der kirchliche Beistand löst in ihm die rettende Träne aus. Damit ist der tiefste und schönste Gedanke der katholischen Kirche entwickelt : dass der Mensch, wenn er dem Geist der göttlichen Wahrheit und der fürchterlichen Stimme seines Gewissens allein, ohne Hilfe entgegentreten wollte, an seinem eigenen Stolz zerbrechen müsste.«265
Diese Geborgenheit des Einzelnen in der ihn tragenden Gemeinschaft ist ein Leitgedanke des dritten Liedes der Commedia, dem Paradiso.
3.2 Der Aufstieg Dantes durch die Himmel
Das irdische Paradies als Narthex bzw. Eingangsbereich des Himmels bereitet auf diesen vor. Geläutert und entsühnt vermag Dante frei von aller Sündenlast emporzuschweben, um mit Beatrice die verschiedenen Sphären des Paradieses zu betrachten – dies am Vorabend des siebten Tages der Jenseitsreise, an dem der Schöpfer selbst nach Vollendung seines Werkes ruhte (Par. I, 43 analog zu Gen 2,2 f.). Im Paradiso ist das durch alle Gesänge wie ein roter Faden sich durchziehende Motiv die Unzulänglichkeit der Darstellungskraft des Dichters angesichts der Mysterialität des Geschauten (er ist ja diesbzgl. als noch nicht Gestorbener ganz auf die ihm – vermittelt durch die Fürsprache der Heiligen – zuteilwerdende Gnade angewiesen, die ihn in einer steten Steigerung schließlich zur unverhüllten Anschauung des Dreieinigen führt).266
Die angesprochene Zunahme der Dante in und als Gnade (Licht267) gewährten Sehkraft, das kontinuierliche Tieferdringen, die Zunahme der visio beatifica gemäß der jeweiligen Himmelssphäre, wird durch die jeweilige Anpassung seines Sehvermögens an dasjenige seiner Begleiterin268 ermöglicht. In den auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit gerichteten Augen Beatricens wird er wie im Spiegel (also indirekt-vermittelt)269 diesem selbst teilhaftig. Dieses Grundmotiv der Lichtmetaphysik des Paradiso hebt bereits im irdischen Paradies an270 und wird in Par. I, 1–6 und 46 ff. wie folgt ausgeführt :
»Die Glorie des Bewegers aller Dinge
Dringt durch das Weltall, und von ihr erstrahlen
Mehr oder minder die verschiednen Sphären.
Im Himmel, der das meiste Licht empfangen,
War ich, und ich sah Dinge, die kann keiner
Verkünden, der von dort herniedersteiget. […]
Als ich Beatrice nach der linken Seite
Gewendet sah, das Auge hin zur Sonne ; […]
So folgte ihrem Blick, der durch die Augen
Zu meinem Geist gedrungen, nun der meine ;
Ich schaute mehr als jemals in die Sonne. […]
Beatrice hatte in die ewigen Kreise
Den Blick versenkt ; ich hatte meine Augen
Auf sie geheftet, nicht mehr nach dort oben. […]
Verklärung kann man nicht mit Worten sagen,
Darum muß dem das Gleichnis schon genügen,
Dem Gnade das Erleben vorbehalten.«271
Dantes Aufstieg durch die Himmel erfolgt dementsprechend durch den Licht freisetzenden Anblick Beatricens. Wenn Dante ihr in die geliebten Augen blickt, geben diese die Liebe Gottes (die sie selbst in der visio beatifica empfängt) an ihn weiter und entzünden ihn in seiner Sehnsucht nach mehr. Licht und Liebe stehen somit in einem unmittelbaren Zusammenhang und verdeutlichen das Geschenk der darin zum Ausdruck gebrachten Gnade : »Der Liebende erfährt, dass ihm im geliebten Menschen etwas entgegentritt, welches jeder Proportion der Macht, des Rechtes und Verdienstes entrückt ist. Es gehört der Ordnung des Geschenkes, der reinwaltenden Freiheit, der Gnade an. So weckt der geliebte Mensch die Ahnung von dem, was über jeder irdischen Macht ist, dem Himmlischen […]. Der Lichtcharakter alles Seienden, der schon durch die Schöpfung begründet und dann, nach seiner Verdunkelung durch die Sünde, in der Erlösung erneuert worden ist, wird in der Gnade frei.«272
In Beatrice begegnet Dante dem Himmel, aber diese Gnadenerfahrung ermöglicht letztlich und entscheidend nicht die Mittlerin, sondern der unmittelbare Zielgrund allen Liebesstrebens – Gott selbst in seiner unverhüllten Schau. Beatrice ist nur Wegbegleiterin, sie bereitet Dante auf das Höchstmaß jeglicher Liebeserfahrung vor und tritt selbst schließlich ganz zurück.273
3.3 Die jeweiligen Himmel als Ausdruck der personalen Bestimmtheit des Einzelnen
Die von Dante durchquerten neun Himmel274 (Mond-, Merkur-, Venus-, Sonnen-, Mars-, Jupiter-, Saturn-, Fixstern- und Kristallhimmel) geben die Gradualität der Schau der (dadurch) Beseligten wieder, ein Gedanke, der dem katholischen Eschatologieverständnis durchaus entspricht.275 Die Heiligen, welche im Empyreum (dem höchsten und alle anderen umfassenden Himmel) im Bild einer Rose als Gemeinschaft erscheinen (vgl. Par. XXX, 1 ff.), werden den einzelnen Planetenhimmeln zugeteilt gemäß ihrer individuellen Begnadung und dem damit verbundenen Verdienst.276 In ihnen begegnet auch Dante den jeweiligen Seligen, die damit einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden (im Mondhimmel sind diejenigen versammelt, die Gelübde brachen, im Merkurhimmel jene, die nach irdischen Gütern strebten, im Venushimmel die Liebenden (diese drei Himmelssphären bilden wiederum eine Einheit, da in ihnen noch das weltliche Streben zum Ausdruck kommt277), im Sonnenhimmel die Kirchenlehrer, im Marshimmel die Märtyrer, im Jupiterhimmel gerechte Fürsten (diese drei Gruppen gelten als zweite Einheit der von allen irdischen Überschattungen freien und dennoch nicht kontemplativen Seelen – für die vita activa stehend), im Saturnhimmel Kontemplative (für die vita contemplativa stehend). Die Himmel bzw. Sterne nehmen hierbei eine Mittlerfunktion ein ; das göttliche Wirken am Einzelnen ist vermittels des Einflusses der Gestirne spezifiziert bzw. individualisiert, jeder Mensch ist zeitlebens (und damit auch ewig) einem Stern zugeordnet.278 Die Perspektive einer sittlichen Stufenfolge, wie sie in Hölle und Purgatorium augenscheinlich als Einteilungsprinzip grundgelegt ist, findet somit auch in den Gesängen des Paradieses Anwendung. Alle Differenzierung und Stufung umfassend und bedingend ist Gott als der universale Schöpfer auch Lenker und Ziel aller Bewegung zur Vervollkommnung (auf ihn hin als den Erstbewegenden), womit die Weltordnung als in ihm gegründet und auf ihn hinführend gekennzeichnet ist :
»[…] . Es stehen allesamt die Dinge
In einer Ordnung unter sich, und diese
Ist es, durch die das All Gott zu vergleichen.
Hier sehn die hohen Wesen alle Spuren
Der ewigen Kraft, die selber dient zum Ziele,
Zu dem die obige Ordnung ward geschaffen.
Zu dieser Ordnung, wie ich sage, neigen
Nun alle Wesen nach verschiednen Losen,
Und ihrem Ursprung näher oder ferner.
Darum ziehn sie auch nach verschiednen Häfen
Im großen Meer des Seins, und jedes Wesen
Von einem angebornen Trieb getragen. […]
Gewiß, wie oftmals nach dem innern Willen
Der Kunst die Formen sich nicht fügen mögen,
Dieweil die Stoffe keine Antwort geben,
So können auch von diesem Lauf die Wesen
Bisweilen weichen, denn mit solchem Triebe
Sind sie noch fähig, seitwärts abzubiegen.«279
Im Folgenden sollen die einzelnen Himmelssphären in den Blick genommen werden. Beatrice begleitet Dante dabei, um ihn in die Geheimnisse der Himmel und der Vollendung des Menschen einzuweisen.
3.3.1 Das verklärte Scheitern oder der Mondhimmel
Von Beatricens gottschauenden Augen beflügelt (s. o.) wird Dante in den ersten Himmel emporgehoben, den Mondhimmel : Beatrice in suso, ed io in lei guardava.280 Die Bewegung durch die einzelnen Sphären wird auf die im Menschen innewohnende Sehnsucht nach der Gottesschau281 zurückgeführt (desiderium naturale ; la concreata e perpetua sete del deiforme regno)282. In Par. III, 7 ff. begegnet Dante den ersten Seelen des Paradiso, qui rilegate per manco di voto (»sie sind hier, weil sie ihr Gelübde brachen«), perchè fur negletti li nostri vòti, e voti in alcun canto (»weil wir die Gelübde versäumt und irgendwie gebrochen haben«).283 Die Aufforderung Beatricens parla con esse e odi e credi284 gilt für alle Begegnungen mit den gottschauenden Seelen in den (ihren) jeweiligen Himmelssphären als Einladung zu Gespräch und Austausch. Sprechen (Anreden), Hören (das Sichbelehrenlassen)285 und Glauben (dadurch sich immer mehr für Gott bereiten)286 sind die Kennzeichen der Pilgerfahrt Dantes in der ganzen DC (in Infernum und Purgatorium geschieht dies allerdings auf die negative Art der abschreckenden bzw. mahnenden Gegenbeispiele). Entsprechend der hohen Bedeutung, die Dante seiner DC gemäß Purg. XXXII, 104 zuschreibt, und die ihn zur Benennung nur damals allgemein bekannter Persönlichkeiten und großer Gestalten der Geschichte veranlasst, spricht er – als Vertreterin des Mondhimmels – mit Piccarda Donati (die wiederum in Par. III, 118 ff. auf die einer Legende nach – wie sie selbst – aus einem Kloster entführte Kaiserin Konstanze verweist, Gemahlin Kaiser Heinrichs VI. und Mutter Friedrichs II.), einer Klarissin, die von ihrer Familie wider ihren Willen aus dem Kloster (Par. III, 107 : la dolce chiostro) geholt und daraufhin mit Rossalino della Tosa vermählt wurde (Par. III, 46 ff. und 97 ff.).287
Kernfrage dieser Himmelssphäre ist die vermeintliche Inferiorität der Seligen des Mondhimmels gegenüber denen höherer, Gott näherer Sphären. Aufgrund eines (unfreiwilligen) Gelübdebruches (bzw. -versäumnisses) ist ihnen dieses Los (sorte che par giù cotanto ; Par. III, 55) beschieden. Dante erkundigt sich :
»[…] Ihr, die ihr hier glücklich lebet,
Geht euer Wunsch nach einem höhern Orte,
Um mehr zu sehn, euch enger zu befreunden ?«288
Der folgende Monolog Piccardas ist als eine Kurzpredigt über die Selbstbescheidung des in Christus seines Heiles sicheren Erlösten zu verstehen. Die Problematik der Gradualität der Gottesschau der Heiligen lässt sich demnach unschwer auf die Unterschiedlichkeit der Begnadung und Christusnachfolge auf Erden übertragen. Es geht darum, die verschiedenen zur Heiligkeit führenden Wege des Menschen zu Gott in den Blick zu nehmen, ohne einer Beliebigkeit das Wort zu reden, die die persönliche Freiheit und Verantwortlichkeit gegenüber der eigenen Berufung zum Heiligungsdienst der Welt außen vor lässt. Nicht die Frage, welcher Weg der bessere, sondern welcher der jeweils eigene ist, wird dabei zum Hauptkriterium der individuellen Entschiedenheit im Konkreten. Aus gnadentheologischer Perspektive heraus ist alle Wertung unterschiedlicher Nachfolgewege in der DC eine für den Menschen niemals zum Selbstlob verleiten wollende Anerkennung der persönlichen Zuwendung Gottes gegenüber dem Einzelnen. Piccardas Rede richtet sich daher an alle, die sich ob ihrer Religiosität brüsten (vgl. etwa Mk 9,33 ff.) und anderen dementsprechend ihr Seelenheil – wie die Arbeiter in Mt 20 – implizit absprechen wollen, genauso wie an jene, die sich der (vermeintlich) ausgewichenen Nachfolge bezichtigen, an alle also, die sich die Frage nach der eigenen Berufung über Gebühr zu eigen machen :
»Mein Bruder, unser Wille wird gestillet
Durch Kraft der Liebe, sie läßt uns nur wünschen
Das, was wir haben ; andrer Durst entschwindet.
Wenn wir nach einem höhern Ort uns sehnten,
Dann wären nicht in Einklang unsre Wünsche
Mit dessen Willen, der uns hierher sendet.
Das kann in diesen Kreisen nicht geschehen,
Wenn wir hier in der Liebe leben sollen
Und die Natur der Liebe du betrachtest.
Vielmehr ist dieses Seligsein gebunden,
Sich drin zu halten in dem göttlichen Willen,
Damit sich unser aller Wille eine.
So daß es, da wir Stuf um Stufe stehen
In diesem Reich, dem ganzen Reiche recht ist,
Gleichwie dem König, der uns lenkt den Willen.
In seinem Willen finden wir den Frieden,«289
Exkurs : Willensfreiheit und Gnadenwahl in der Divina Commedia
Das ewige Schicksal ist an die Freiheit des Menschen geknüpft. Die Gnade Gottes korrumpiert nicht diese Freiheit und Verantwortlichkeit, sondern baut darauf auf. Die Theologie K. Rahners verdeutlicht diese Zusammenschau von Gnade (bzw. der Liebe Gottes)290 und Freiheit und vermag damit die Aussagen der DC in einen existentiellen Horizont zu rücken und so die eschatologische Vorstellungswelt Dantes für die Gegenwart zu erhellen. Nach Rahner steht der theologische Begriff des Heils für die »Endgültigkeit des wahren Selbstverständnisses und der wahren Selbsttat des Menschen in Freiheit vor Gott durch die Annahme seines eigenen Selbst, so wie es ihm in der Wahl der in Freiheit interpretierten Transzendenz eröffnet und übereignet ist. Die Ewigkeit des Menschen kann nur verstanden werden als die Eigentümlichkeit und Endgültigkeit der sich ausgezeitigt habenden Freiheit.«291 Das eschatologische Heil des Menschen ist dementsprechend an seine individuelle Geschichte gebunden. In die Ewigkeit mit hineingenommen wird somit auch und v. a. die personale Freiheit, in der die einzelnen Lebensentscheidungen erst ihre Würde, aber auch Tragik erhalten. So wie das Leben des einzelnen Menschen von seiner personalen Freiheit wesentlich bestimmt und geprägt wurde, so ist auch die endgültige, da jegliche Zeit freiheitlicher Entscheidungen hinter sich lassende, Ewigkeit Erfahrung der sich darin widerspiegelnden Freiheitsgeschichte.
Dante selbst stellt den Zusammenhang von freiheitlicher Lebensgestaltung und ihrem Niederschlag in der Ewigkeit in jedem Gesang seiner Divina Commedia heraus. Das eigene, in Freiheit und Verantwortung gestaltete Leben entscheidet über das jenseitige Schicksal. Allerdings wird diese Freiheit als eine gerichtete interpretiert : Frei ist der Mensch zu wählen, seine Freiheit erfährt aber in der jeweiligen Ausrichtung ihre Bewertung. Die freiheitliche Entscheidung für ein Gott wohlgefälliges Leben bedarf dabei der Zuwendung Gottes selbst, seiner Gnade. Die jenseitige Bewertung der individuellen Freiheitsgeschichte wird somit letztlich von der Gnade Gottes her qualifiziert.292








