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Nach Purg. XXX, 109–117 ist eine gewisse Vorbestimmung und Prägung durch die Sterne (ausgehend von Gott selbst vermittels des alles andere bewegenden Kristallhimmels293) ebenso wie die Gnade Gottes im Besonderen die Grundlage der individuellen Entfaltung der Person.294 Die Mittlerschaft des göttlichen Allwirkens durch die Gestirne bzgl. des Einzelschicksals lässt somit neben der personalen Freiheit des Einzelnen (und damit seiner Verantwortlichkeit) auch Raum für die Betonung der Ungeschuldetheit und Unableitbarkeit der göttlichen Gnadenzuwendung an den konkreten Menschen ; weder der Mensch in seiner freiheitlichen Entscheidungsfindung noch die Allmacht Gottes lassen sich von einem undifferenzierten Sternenglauben abhängig machen. 295
An der Gestalt Piccardas stellt sich das abstrakte Problem der Zuordnung von Gnadenwahl, freiem Willen und Mittlerschaft der Gestirne in einem konkreten Einzelschicksal : Ist sie unschuldig am Gelübdebruch, wieso ist sie dann im untersten Himmel, dem am meisten der Erde zugewandten, dem am wenigsten vom göttlichen Licht durchdrungenen ?296 Die Tragik wird v. a. in der Darlegung des Selbstverständnisses der Theologie im vermeintlichen Widerspruch zu einem offenbarungsunabhängigen Gerechtigkeitsempfinden und einer entsprechenden Wertordnung deutlich :
»Wenn unsere Gerechtigkeit ein Unrecht
Im Aug der Menschen (negli occhi dei mortali) scheint, ist das ein Anlaß
Zum Glauben, nicht zu ketzerischem Wahne.«297
Als gelehrte Gottesweisheit gibt Beatrice aufgrund der bedingten, gefallenen Erkenntnisfähigkeit des Menschen298 Auskunft über dieses ihm letztlich undurchdringliche Geheimnis der göttlichen Gnadenwahl und ihrer eschatologischen Gerinnung (ebd., 70–72). Auf Seiten des Menschen ist seine bleibende Willensfreiheit entscheidendes Kriterium bzgl. einer eschatologischen Qualifizierung seines Handelns (Par. IV 73 ff.). Die Seelen im Mondhimmel waren nur indirekt und nachträglich dem Willen ihrer Peiniger fügsam, da sie in ihr Los einwilligten (Gewalt vereint sich mit dem Willen ; vgl. ebd., 107). Die Frage ist demnach, wie stark der Wille des Einzelnen gegenüber der Herausforderung des Gelübdebruches war. Die Unterscheidung in absoluten und relativen Willen299 versucht diese Problematik zu verdeutlichen ; auch ein Festhalten am Gelübde – die Furcht überwindend und dem Tod (dem Martyrium300) ins Auge blickend – wäre möglich gewesen.301 Die Willensfreiheit wird somit zum Zentralthema der Frage nach der Begnadung durch Gott, der (nur mittlerischen, nicht ursprungshaften) Bestimmung durch die Gestirne sowie der Gradualität der Seligen im Himmel (als in Relation zur eigenen Zustimmung, der freiheitlichen Zuwendung zum Zielgrund des Lebens stehend). Äußere Umstände (als weltimmanente Erläuterung der Funktion der Gestirne im damaligen Weltbild bzw. als Natur zu verstehen, da diese ja auf die Gnade Gottes hingeordnet ist und durch diese keineswegs korrumpiert wird) und die besondere Hinwendung Gottes (Gnade) gegenüber dem Einzelnen bilden somit den Rahmen, die Grundlage der eigenen Entscheidungsfreiheit im jeweiligen Handeln. Dieses ist – bei aller nochmaligen Gnadenverwiesenheit der Öffnung für Gottes Wort und der Bereitschaft, es aufnehmend auch umzusetzen – Fundament der augenscheinlichen Einordnung der Seelen in die Bereiche der (ewigen) Verworfenheit (Hölle) und Seligkeit (Himmel) sowie in den Raum der Unabgeschlossenheit selbstläuternder Vorbereitung auf die eigene Vollendung (Purgatorium). Die Betonung der Freiheit des Willens ist damit Fundamentalaussage der DC ; Gott verdammt den Menschen nicht in die Hölle, er übervorteilt ihn aber auch nicht um den Preis seiner Freiheit, indem er ihm, gemäß einer von der Kirche verurteilten Apokatastasisanschauung302, den himmlischen Frieden im Voraus versichert. Vielmehr wird der Herausforderungscharakter des Lebens betont – in seiner ganzen Tragweite und Ernsthaftigkeit.303 Der Mensch vermag sich seine eigene Hölle aufgrund seiner Freiheit selbst zu schaffen304, was allerdings einer Pervertierung dieser Freiheit (von Gott her und auf ihn hin) gleichkommt, jedoch der Preis der stets gefährdeten (da freiheitlichen) Liebesbeziehung ist.305
Die Eschatologie nimmt damit die Hoffnung und Freiheit des Menschen über den Tod hinaus in den Blick ; in der Erwartung auf das zukünftige Heil gilt es, Schicksalsschläge anzunehmen, kurzlebige Erfolge zu relativieren und durch die Ausrichtung auf das Wesentlich-Bleibende an der Welt und am Mitmenschen seinen Dienst zu tun. Der Motivation der Möglichkeit des Gelingens ist die Möglichkeit des Scheiterns unweigerlich als Schwester zur Seite gestellt, was letztlich Grundlage des menschlichen Strebens nach Erfüllung und Geborgenheit ist, wo es gilt, seiner eigenen Berufung nachzukommen :
»Das größte Gut, das Gott in seiner Gnade
Geschaffen hat, und das zu seiner Güte
Am besten paßt, das er am höchsten wertet,
Das ist des Willens Freiheit (volontà la libertate) ja gewesen,
Die den vernunftbegabten Wesen allen,
Nur ihnen, allezeit zuteil geworden. […]
Nehmt es, o Christen, schwerer, euch zu rühren,
Seid nicht wie Federn, die im Winde flattern,
Und glaubt nicht, jedes Wasser könnt’ euch waschen.
Ihr habt die neuen und die alten Schriften,
Und habt den Kirchenhirten (il pastor della Chiesa), der euch führet,
Das sollte euch zu eurem Heil genügen.«306
In dieser für alle drei Lieder307 zentralen Frage der DC nimmt Dante das Motiv der Unzulänglichkeit menschlichen Erkennens wieder auf, um es mit der Orientierungshilfe von Schrift und Lehramt in Verbindung zu bringen. Allerdings greift die Theologie (Beatrice) erst an der Stelle ins Geschehen ein, wo die Vernunft entweder fehlgelaufen ist oder nicht mehr weiter weiß. Die sich selbst unter Schrift und Lehramt/Tradition stellende Theologie baut somit – wie die Gnade auf der Natur – auf dem an sich offenbarungsunabhängigen Erkenntnisstreben des Menschen auf, dieses allerdings stets auch in seine Grenzen verweisend.308
In einem zweiten Fragenkreis greift im Venushimmel (Par. VIII, 94 ff.) Karl Martell309 Dantes Frage nach der Vererbung guter Eigenschaften (oder auch Talente) von Eltern auf ihre Kinder auf (ebd. 93 : com’ esser pùo di dolce seme amaro).310 Er setzt Naturveranlagung, Vererbung und Gesellschaftseinfluss in Verbindung mit Vorsehung und freiem Willen, sodass das Zusammenspiel verschiedener Faktoren die Unvorhersehbarkeit und damit Individualität und personale Verantwortlichkeit jedes Einzelnen ausmacht :
»Das Gute, das das Reich, durch das du wanderst,
Bewegt und sättigt, läßt in diesen großen
Körpern die Vorsehung zur Wirkung werden.
Nicht nur sind vorgesehen die Naturen
In jenem Geist, der aus sich selbst vollkommen,
Nein, auch vereint mit ihrem eignen Heile ;
So daß, was immer dieser Bogen schleudert,
Auch richtig trifft zum vorgesetzten Ende
So wie ein Pfeil, der auf sein Ziel gerichtet.«311
Von Gottes Vorsehung her ist der Mensch in Natur und Begnadung bestimmt, er ist berufen zur Heiligkeit, d. h. aufgefordert (seinen individuellen Möglichkeiten gemäß), ein Leben in Rechtschaffenheit und Gottgefälligkeit zu führen. Sein Scheitern kann daher nicht Gott angelastet werden, der den Menschen in Freiheit erschafft und dessen Schöpfung in Gen 1 als ›gut‹ bzw. nach der Erschaffung des Menschen als ›sehr gut‹ ausgewiesen ist (Gen 1,31). Par. VIII, 116 zeichnet den Menschen auf Erden als Bürger (fosse cive) aus, woraus sich eine notwendige Verschiedenheit der Berufe (Berufungen) ergibt (ebd., 119 : diversi uffici)312, die wiederum auf eine Verschiedenheit (in) der Wurzel zurückgeführt werden (ebd., 122 f.). Nach ebd., 127–130 teilt die Natur (la circular natura) ihre Güter ohne Unterscheidung den Menschen zu ; sie »kennt ihre Künste, doch unterscheidet sie nicht ihre Wohnung.«313 Gottes Vorsehung (ebd., 135 : il proveder divino bzw. Par. IX, 107 f. : il bene, per che il mondo di su quel di giù torna) ist es, die eine vorherbestimmbare Eltern-Kind-Übertragung von Eigenschaften bzw. Neigungen verunmöglicht (Par. VIII, 133–135)314. Im Widerstreit von Natur und Schicksal (fortuna, ebd., 139)315 liegt die Dramaturgie gescheiterter Lebensexistenz :
Natur muß immer, wenn sie sich nicht einig
Mit ihrem Schicksal, so wie jeder Same
Fern von der Heimat, schlechte Früchte tragen.
Und wenn die Welt dort unten achten würde
Wohl auf den Grund, wie die Natur ihn legte,
Und ihr nur folgte, wären gut die Menschen.«316
Dante plädiert demnach für eine individuelle und differenzierte Sichtweise bzgl. der je eigenen Berufung. Er sieht die Berufswahl und eigene Lebensführung als multifaktoriell bedingt ; letztlich und maßgeblich haben sie sich an Gottes Willen zu orientieren. Das Scheitern eines Lebensentwurfes liegt in dieser Perspektive im Nichteinwilligen in die Berufung durch Gott (bzw. in deren Nichtwahrnehmen, Nichtwahrhabenwollen) zugunsten einer in traditionell-kulturellen Formen verlaufenden Vorfestlegung. Einwilligung in Gottes Gabe (»Zu jener Glut, die allem tut Genüge«317) und Aufgabe ist somit Voraussetzung individuellen als auch gemeinschaftlichen Gelingens in Diesseits und Jenseits.318
Ein dritter Fragenkreis dreht sich um die Möglichkeit der Rettung gerechter Ungetaufter (hier Ripheus und Trajan).319 Im XIX. Gesang wendet sich das von den Seligen dieser Himmelssphäre geformte Adlerbild dem Jenseitsreisenden zu, der in diesem Anblick der personifizierten divina guistizia (ebd., 29) seinen großen Zweifel (dubbio ; ebd., 33) äußert und über das Geheimnis der göttlichen Gnadenwahl belehrt wird. Der dreieinige Gott als Urgrund alles von ihm Geschaffenen, als Finalisationspunkt seiner Schöpfung320, ist für den Menschen auf Erden in seiner Selbstoffenbarung gnadenhaft im Glauben zu erfassen und dennoch zeitlebens nicht durchschaubar (was dem Wesen des Glaubens entspricht). Er bleibt seinen Geschöpfen ein Mysterium – v. a. bzgl. des unverdienten Rechtfertigungsgeschehens des Einzelnen. Die Trennung von occolto e manifesto (ebd., 42), die Unterscheidung der Geheimnishaftigkeit des verborgenen Ratschlusses Gottes hinsichtlich des Einzelschicksals einerseits und seiner Manifestation in Offenbarung und kirchlicher Verkündigung andererseits, ist Grundlage jeder Verständnissuche im Bereich des Glaubens und der Theologie. In der Distinktion von mysterialer Letztundurchdringlichkeit des individuellen Erwählungs und Erlösungsvorganges, seiner theoretischen Thematisierung und schließlich existentiellen Einholung (als gläubige Annahme des Gnadengeschehens) liegt die notwendige Voraussetzung einer adäquaten Betrachtung des soteriologischen Handelns Gottes am Menschen. Das Geheimnis der Erwählung verlangt die Selbstbescheidung des Denkens und eine demütige Gottzugewandtheit in Glauben, Hoffen und Lieben als ein personal-freiheitliches Geschehen321, getragen von seiner zuvorkommenden und begleitenden Gnade :
»Und daraus folgt, daß jedes kleinere Wesen
Gering Gefäß nur ist für jenes Gute,
Das endlos ist und nur sich selbst zum Maße.
Darum kann unser Schauen, das notwendig
Nur einer von den Strahlen jenes Geistes,
Von welchem alle Dinge hier durchdrungen,
Schon von Natur niemals so mächtig werden,
Daß nicht sein eigner Ursprung könnt erkennen
Weit über das hinaus, was ihm noch sichtbar. […]
Es gibt kein Licht als das von jenem Himmel,
Der sich nie trübt ; das andre ist nur Dunkel
Und Schatten von dem Fleisch und seinem Gifte.«322
Der Zweifel Dantes, wie ein Christusunkundiger gerechterweise von der ewigen Anschauung Gottes ausgeschlossen werden könne, nimmt ein bedeutendes Thema der gesamten DC erneut auf.323 Die Zusammenschau von Willensfreiheit (des Menschen) und Gnadenwahl (Gottes)324 verdichtet sich in der Frage : Wie sollte Gott den von Christus und der Heilsnotwendigkeit seiner Gnade nichts wissenden Gerechten (»[…] wäre gut sein Tun und Wollen, soweit der menschliche Verstand es siehet, und sündenlos ist er in Wort und Wandel ; doch stirbt er ungetauft und ohne Glauben«325) von seiner Anschauung ausschließen, ihn der Verdammnis, der Finsternis des Limbus aussetzen :
Ov’ è questa giustizia che il condanna ?
Ov’ è la colpa sua, se ei non vrede ? 326
Der Zweifel Dantes ist schwerwiegend und entspricht seiner großen Sehnsucht nach Wahrheitsfindung in der Korrelation von eigener Überzeugung und dem Glauben der Kirche sowie ihrer theologischen Lehre. Die zur Demut im Denken mahnende Antwort des die Gerechtigkeit Gottes symbolisierenden Adlers sucht die Ernsthaftigkeit dieses Zweifels in die Frag-Würdigkeit des göttlichen Ratschlusses zu verlegen, der sich gerade darin als göttlicher, d. h. vom Menschen nicht kalkulierbarer erweist. Der Christ ist sich zeitlebens weder seiner Erwählung zur visio, noch seiner ewigen Verdammnis sicher, und auch andere können ihm sein ewiges Schicksal nicht voraussagen.327 Er weiß sich in seinem tiefsten Inneren niemals im Status der absoluten, unverlierbaren Sicherheit seinem eigenen Heil und ebenso wenig dem der anderen gegenüber ; in seiner Gnadenwahl ist sich allein Gott selbst einsichtig – den Glauben des Menschen ermöglichend, seine Hoffnung erheischend und seine Liebe einfordernd :
»Wer bist denn du, der drüber zu Gerichte
Auf tausend Meilen Ferne sitzen möchte
Mit einem Blick so kurz wie eine Spanne ?
Gewiß, wer mit mir diskutieren möchte,
Der fände Wunder wieviel zu bezweifeln,
Wenn euch die Bibel (la Scittura) nicht gegeben wäre.
O irdische Wesen (terreni animali), o ihr rohen Geister !
Der erste Wille, der für sich schon gut ist,
Verläßt sich selber nie, das höchste Gute.
Das ist gerecht, was mit ihm steht im Einklang.«328
Das Wort der himmlischen Gerechtigkeit bleibt in seiner Unergründlichkeit und Schicksalsschwere stehen :
A questo regno
Non salì mai chi non credette in Cristo
Nè pria nè poi ch’el si chiavasse al legno.329
3.3.2 Das Übermaß an irdischem Streben oder der Merkurhimmel
Die Zunahme der Leuchtkraft von Beatricens Augen (die sie von Gott bzw. dessen Schau empfängt) steigert die Lichtempfänglichkeit und das Sehvermögen Dantes, der in dieser Bewegung, in der Licht, Schauen, Freude (letizia in Par. V, 107) oder auch Lächeln (riso in Par. VII, 17), Erkennen und Lieben eine Einheit bilden330, emporgehoben wird zum zweiten Stern, dem Merkurhimmel. Innerer Antrieb des Aufstieges331 ist das unauslöschbare Sehnen Dantes nach Gott, das in Beatricens Blick Aufnahme und (zunächst noch vermittelte) Erfüllung erfährt. Dante wird von den Seligen des Merkurhimmels begrüßt mit den Worten : Ecco chi crescerà li nostri amori. Die von Gott auf sie ausstrahlende Liebe gewinnt in der Gemeinschaft durch jede neue ihnen hinzugewonnene Seele Zuwachs.332 Die Liebe der communio sanctorum ist demnach auch als eine gemeinschaftliche zu sehen, als eine von Gott selbst herkommende Dynamik, die den anderen mit hineinnimmt und niemals individualistisch sich nur zwischen dem Einzelnen und seinem Schöpfer abspielt (dies im Unterschied zum Wesen der Verdammten – von jedweder Geborgenheit vermittelnden Gemeinschaft Isolierten – als der sich gegenseitig Schädigenden und Verleumdenden).
Im Merkurhimmel trifft Dante Kaiser Justinian333 (Selbstnennung in Par. VI, 10), der in Par. VI, 1 ff. die Geschichte des römischen Imperiums als gottgewollt und das Kaisertum als Gewähr allgemeiner Wohlfahrt ansieht. Die Seelen dieser Sphäre zeichnen sich durch ihre Aktivität (che son stati attivi ; Par. VI, 113) in irdischen Belangen aus (in Relation zum Saturnhimmel, der für die vita contemplativa steht). Der zweitunterste Himmel steht ebenso wie Mond- und Venushimmel noch im Bannkreis des sublunaren weltlichen Strebens (hier nach onore e fama ; Par. VI, 114).
Justinian bezeichnet sich selbst als ein vom Monophysitismus334 Bekehrter (Par. VI, 13–18), der sich für die Kirche auf Erden einsetzte mit Hilfe der ihm von Gott verliehenen Gnade (Par. VI, 22–24). Er macht sich Dantes Idee des gottgewollten römischen Kaiserreichs zu eigen, indem er den Parteienzank seiner Zeit und v. a. das französische Königshaus anklagt, che son cagion di tutti vostri mali (Par. VI, 99).335 Die Einheit des Reiches ist nach ihm Gewähr für Frieden, allgemeine Wohlfahrt und das Seelenheil des Einzelnen, da die Kirche selbst hineingezogen in die unterschiedlichen Parteiungen letztlich wider sich selbst steht, anstatt sich ihrem seelsorglichen Auftrag zu stellen.
Exkurs : Sündenfall und Erlösung
Der siebte Gesang des Paradiso beginnt mit einem hymnischen Lobpreis der Erlösungstat Gottes in lateinischer Sprache.336 Hierauf greift Beatrice eine (ungeäußerte, aber dennoch gemäß der captatio benevolentiae der Heiligen wahrgenommene) Frage Dantes bzgl. der Aussage Justinians in Par. VI. 88–93 auf, wonach unter der Regierung des Kaisers Tiberius das gottgeleitete Kaisertum den Kreuzestod Christi als Verbindung von Rache (vendetta) und Zorn (ira) ermöglichte und damit auch die Erlösung, schließlich durch den Jerusalemfeldzug unter Titus diese Rache wiederum mit Rache zu vergelten suchte (Par. VII, 92 f. : far vendetta corse della vendetta del peccato antico), also »warum gerechte Rache auch selber rechter Rache noch bedürfe.«337 Sie gibt ihm Antwort in einem prägnanten Durchgang durch die Heilsgeschichte in der Zusammenschau von Schöpfungslehre und Soteriologie, von Sündenfall (Erlösungsbedürftigkeit) und Kreuzestod (Erlösung). Adam338 (che non nacque ; Par. VII, 25) sündigte (und mit ihm die gesamte, korporative Schicksalsgemeinschaft der Menschen), indem er »verschmähte, die Willenskraft zu seinem Heil zu zügeln«339. Christus hat del suo eterno Amore (Par. VII, 33) durch Inkarnation (ebd., 30–33) und Kreuzestod (ebd., 40) Erlösung gebracht. Der selbstverschuldeten (per sè stessa ; Par. VII, 37) Gottentfremdung der im ersten Menschen eingeschlossenen Schicksalsgemeinschaft aller, die nicht im (guten) Schöpfungswerk selbst verankert werden kann (questa natura […] qual fu creata, fu sincera e buona ; Par. VII, 35 f.), der erbsündlichen Abwendung von Wahrheit und Leben (da via di verità e da sua vita ; Par. VII, 39), wird das Erlösungswerk des Sohnes gegenübergestellt, wobei Anselms Satisfaktionstheorie340 aufleuchtet :
»Die Strafe also, die am Kreuz erduldet,
Entsprechend der Natur, die angenommen,
War so gerecht wie niemals eine Strafe.
Und dennoch war auch keine je so schändlich,
Wenn man auf die Person des Dulders achtet,
Der die Natur auf sich genommen hatte.
So kommt aus einer Tat verschiedne Wirkung :
Gott und den Juden (Dio ed ai Giudei) hat ein Tod gefallen,
Die Erde bebte, auf tat sich der Himmel.«341
Nach Dante ist dementsprechend der Feldzug des Titus und die Eroberung Jerusalems (70 n. Chr.) als Strafe der gerechten Rache (giusta vendetta ; Par. VII, 50) verstehbar, da er streng zwischen dem Werkzeugcharakter des römischen Weltreiches beim Kreuzestod Jesu und der den damaligen Juden angelasteten Ungeheuerlichkeit der Tötung des erwarteten Messias unterscheidet (legitimer Richter und Vollstrecker des göttlichen Ratschlusses ist allein das gottgewollte Kaisertum).342 Dass hierbei eine im Mittelalter weit verbreitete Ansicht der Universalschuld der Juden am Tod Jesu mit ihrer (gottgewollten) Vertreibung und Verfolgung durch das Reich in Verbindung gebracht wird, ist aus eben diesem Interpretationshorizont heraus zu sehen.
In der DC stellt Dante der gelehrten Gottesweisheit in der Gestalt Beatricens die Frage nach der Angemessenheit einer solchen Vorstellung. Er stellt sich also zunächst auf die Seite der Skeptiker, nimmt dann allerdings ihre Erklärung an.343 Zunächst jedoch fragt er weiter nach der Notwendigkeit gerade einer solchen Art der Erlösung (wiederum erkennt Beatrice Dantes Zweifel, ohne dass dieser ihn zu äußern brauchte ; Par. VII, 55–57), da er das Wesen der Liebe noch nicht erfasst hat (Questa decreto […] sta sepulto agli occhi di ciascuno il cui ingegno nella fiamma d’amor non è adulto ; Par. VII, 58–60). Die Liebe (buontà del cuore ; ebd., 109) ist somit Motiv von Menschwerdung und Kreuzestod, die beide auch nur in Liebe gnadenhaft annehmbar und verstehbar (im Sinne des mysterialen Glaubenssinnes) sind. Gottebenbildlichkeit344, Unsterblichkeit345 (Par. VII, 67–69) und Freiheit346 (ebd., 70–72) sind nach dem Schöpfungsbericht Auszeichnungen des Menschen, die durch den Sündenfall Schaden erlitten (ebd., 79–81). Da es dem Menschen in seiner Schuld (erbsündlichen Verfangenheit) nicht möglich ist, sich selbst zu erlösen (ebd., 97–102), blieben Gott Gerechtigkeit und Barmherzigkeit347, um sein Erlösungswerk am Menschen in Freiheit zu vollziehen (ebd., 103 ff.). In der Person Jesu Christi wird ungeschuldet allen das Heil angeboten, womit das Wesen der Rechtfertigung zum Ausdruck gebracht ist :
»Und von der letzten Nacht zum jüngsten Tage
Ist solche Tat und wird auch niemals wieder
Auf diese oder andre Art geschehen.
Denn mehr gab Gott, da er sich selbst gegeben,
Damit der Mensch sich wieder konnt erheben (per far l’ uom sufficiente a rilevarsi),
Als wenn er nur die Schuld verziehen hätte.
Die andern Wege konnten nicht genügen
Vor dem Gericht, wenn Gottes Sohn nicht selber
Herabgestiegen wär und Fleisch geworden.«348
Dabei sieht Dante in Menschwerdung und Erlösungstod der zweiten innertrinitarischen Person eine unmittelbare Begegnung mit dem göttlichen Geheimnis existentiell ermöglicht, die dem Menschen als Offenbarung bleibend vermittelt, wer Gott ist und wie er am Menschen handelt. Kein abstrakter, formaler Vergebungsakt schenkt Erlösung, keine dem erbsündlichen Menschen auferlegte Strafe oder Sühne, sondern die stellvertretende Aufopferung des Sohnes aus Liebe. Die Selbsthingabe Gottes ist daher umso größer zu preisen und ungleich mehr zu schätzen als ein bloßer Verzeihensakt, der keine wirkliche Begegnung von Gott und Mensch, keine wirkliche Erfahrung der Befreiung durch Gott selbst vermittelt. Die Inkarnation des Logos ist die Bedingung dieses erlebten Heilshandelns Gottes, welches das gesamte Leben Jesu umfasst, schließlich in seinem Tod und seiner Auferstehung kulminiert. Wie in der gesamten Göttlichen Komödie die Veranschaulichung der Wirkmacht Gottes durch Begegnung erfolgt (mit den Verstorbenen, mit Heiligen, mit Engeln, schließlich mit Gott selbst), so ist auch für die Offenbarungsgeschichte Jesu Christi diese Dimension der Erfahrbarkeit Motiv der Menschwerdung und seines gesamten Wirkens über den Kreuzestod hinaus.349 Die konkrete Geschichte Jesu schließlich wird als Heilshandeln Gottes an allen Menschen durch ihre Verschriftlichung (NT), Tradierung (Kirche) und weiterführende Reflexion (Theologie) erfahrbar. Das Wesen von Sünde und Erlösung, der Tod und die Auferstehung Jesu als personale, existentielle Wirklichkeit können so je neu aktualisiert und interpretiert werden. Entscheidend dabei ist jedoch, dass sie erfahrbar bleiben. Die Divina Commedia hat diese Erfahrbarkeit im Blick, wenn sie jenseitige Erlebnisse schildert, die den Glauben veranschaulichen, der von Begegnung lebt. Sünde und Erlösungsgeschehen werden damit im Bereich der Eschatologie so personalisiert und kommuniziert, wie es bereits in der konkreten Offenbarungsgeschichte Jesu Christi grundgelegt ist.
Allgemein lässt sich festhalten, dass das Heilshandeln Gottes zur Rechtfertigung des Menschen wird, insofern diese die freiheitliche Entscheidung beinhaltet, das Erlösungsgeschehen anzunehmen und den Willen Gottes im eigenen Leben zu erfüllen. Der Mensch ist nicht einfach passives Objekt des gnadenhaften Geschehens. Es geht vielmehr darum, ihn wieder heil werden zu lassen, zu sich selbst kommen zu lassen, den Blick für seine eigentliche Bestimmung und Würde neu zu weiten. Die Erlösung knüpft damit an den vorsündlichen Urzustand350 an, um diesen selbst noch zu überbieten.351 Die Korrespondenz von Sündenfall und Erlösung erhellt sich aus der Perspektive Letzterer : In Christus, dem neuen Adam (vgl. Röm 5), wird der Weg zum Heil neu erschlossen, dem Menschen neue Hoffnung und (eschatologische) Vollendung zugesprochen.









