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Ethik ist das Bemühen, systematisch über solche Fragen nachzudenken. Ethik ist das Nachdenken über das Gute; das kann sich auf das gute Leben beziehen, auf den guten Charakter und die gute Person, oder auch auf die gute Handlung, die gute Institution oder die gute Entscheidung. Während wir in der Regel unter Moral „gelebte Normen und Wertüberzeugungen“ verstehen (sodass jede wie auch immer geartete Gesellschaft so etwas wie Moral aufweist), kann man Ethik als systematische Reflexion auf Moral ansehen. Während die deskriptive Ethik Moral beschreibt, denkt die normative Ethik darüber nach, was wir tun sollen oder nicht tun dürfen. Das kann auf „materiale“ Weise (besondere Empfehlungen und Entscheidungen) oder auf „formale“ Weise (Arbeit mit allgemeinen Prinzipien) geschehen.
Bekannte Beispiele für solche allgemeinen Prinzipien, wie sie auch in der medizinischen Ethik zum Einsatz kommen, sind das Nichtschadensprinzip (Vermeidung von unnötigem Leid und Bewahrung vor Schaden), das Autonomieprinzip (Respekt vor der freien Entscheidung, in so vielen Lebensbereichen so umfangreich und so lange wie möglich), Prinzipien der Gerechtigkeit (in seiner ursprünglichsten Form: gleiche Fälle gleich, ungleiche ungleich behandeln) oder Prinzipien der sozialen Zuträglichkeit (Vermeidung unverhältnismäßigen Aufwandes). Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Leidvermeidung sind wichtige Orientierungspunkte im ethischen Nachdenken.
Ethische Handlungen und der Handlungsspielraum
Der Handlungsspielraum wird ethisch neben Prinzipien auch durch Unterscheidungen strukturiert. Es wird etwa mit Blick auf die Pflichten zwischen „starken Pflichten“ (dürfen nicht verletzt werden) und „schwachen“ oder „relativen“ Pflichten (können gegebenenfalls zugunsten höherrangiger Pflichten aufgegeben werden) unterschieden. Unterschieden wird auch zwischen Prinzipien und kasuistischen Regeln, die das Besondere in den Blick nehmen; etwa mit Anhaltspunkten wie: „Je unnötiger ein Eingriff, desto genauere ärztliche Aufklärung ist nötig.“ Das ist nun nicht besonders aufregend, aber als erste Klärung wichtig und möglicherweise hilfreich. Ethisch relevant sind vor allem jene Bereiche, die wir handelnd beeinflussen können. Ethisch relevant ist vor allem das, was wir durch Entscheidungen und handelndes Gestalten prägen können. Ein Beispiel:
„Die Nachtschwester, die etwas nach dreiundzwanzig Uhr auf ihrer Runde hereinschaut, schüttelt den Kopf, als sie mich mit einem Buch in der Hand antrifft. ‚Sie schlafen ja schon wieder nicht‘, sagt sie vorwurfsvoll., Das geht doch einfach nicht. Warum weigern Sie sich denn, ein Schlafmittel zu nehmen?‘ Ich blicke in ihr noch junges Gesicht, in ihre Augen, in denen deutlich die Missbilligung darüber zu lesen ist, dass ich mich nicht, wie jeder andere Patient, in die Krankenhausroutine einordne.“16
Hier haben wir es mit Spielräumen zu tun, die handelnd beeinflusst werden können. Ein Buch zu lesen ist eine Handlung; eine Schlaftablette zu nehmen ist eine Handlung; eine Frage zu stellen ist eine Handlung. Unter „Handlungen“ versteht man gemeinhin durch den Menschen herbeigeführte Ereignisse. Handlungen sind Verhaltensweisen, die der willentlichen Kontrolle unterliegen: Man kann sie setzen und man kann sie unterlassen. Auch durch ein Unterlassen kann gehandelt werden. Anders gesagt: Eine Handlung ist eine Form des Verhaltens, über die man sich beraten kann, eine Form des Verhaltens, zu der man aufgefordert werden kann. Von Handlungen sprechen wir in der Regel im Zusammenhang mit dem Verfolgen von Zwecken. Ein Mensch handelt, wenn er damit einen bestimmten Zweck verfolgt, aber auch einen anderen Zweck verfolgen könnte. Diese Wahlmöglichkeit kann man „Handlungsoptionen“ nennen. Es ist ethisch von Interesse, den Blick auf die verfügbaren Handlungsoptionen zu richten. Handle so, dass du immer auch Alternativen hast, zwischen denen du dich entscheiden kannst.
Der Blick auf „Alternativen“ ist von entscheidender Bedeutung, die Schärfung dessen, was der österreichische Dichter Robert Musil den „Möglichkeitssinn“ genannt hat, den Sinn für das, was möglich wäre und anders sein könnte. Wenn wir die Frage stellen: „Was könnte man besser machen?“, zielt das auf den Möglichkeitssinn ab. Es verwundert nicht, dass der englische Dirigent Benjamin Zander ein bekanntes Buch über Führungsethik (geschrieben von ihm und der Psychotherapeutin Rosamund Zander) „Die Kunst der Möglichkeit“ genannt hat.17 Es verlangt die Kunst der Möglichkeit, wenn ein Solist vor der Aufführung von Schuberts „Winterreise“ seinen Auftritt wegen Liebeskummers absagen möchte – der Dirigent sah dabei die einmalige Chance, ein gefühlstiefes Konzert mit einem Solisten in der rechten Stimmung zur Aufführung zu bringen! Denn schließlich geht es in Schuberts „Winterreise“ um existenziellen Schmerz und enttäuschte Liebe. Führen bedeutet Möglichkeiten zu sehen, das gilt auch für das Führen eines Krankenhauses. Der Blick auf Handlungsspielräume, Handlungsalternativen und Handlungsoptionen ist ethisch relevant. Ein Arzt nannte in einem von uns geführten Interview Beispiele für verbesserungsfähige Aspekte:
„Es gibt gewisse Dinge, wo Verbesserungsbedarf wäre, denke ich z. B. an XY [ein kleineres Gemeindespital], wo man in einer Notfallaufnahme sitzt und vielleicht 20 wartende Patienten da sind und manche schon seit zwei Stunden warten … dass da eine Drucksituation auf den jeweiligen Arzt kommt und die Erwartung von den Patienten ist, dass sie gleich drangenommen werden … da gibt es Patienten, die sehr ungeduldig werden und an der Türe klopfen, obwohl es klar eine Reihung gibt … je nachdem, wie schwerwiegend das Problem ist … und dass ältere Patienten kommen, die langsamer sind, schlechter hören … da ist es zu Problemen mit den Ärzten gekommen, da war ein junger Arzt, der sich aufgeregt hat über das Kommen der Patientin, obwohl sie nichts hat … und größere Probleme entstehen auch im Nachtdienst, wo einfach der Stresslevel relativ hoch ist und der Arzt an seine Grenzen kommt von seinen Dienstzeiten, dass es zu Überforderungen kommt, die eventuell auf den Patienten übertragen werden … was nicht sein soll, sich aber nicht vermeiden lässt teilweise … [wenn] ein Patient sehr wehleidig tut … und es kommt nichts raus, da ist die Geduld des Arztes … da kann es schon zu einem gespannten Verhältnis kommen, auch in der Untersuchungsmodalität. Oder auf der Chirurgie … man muss untersuchen und die Patienten kommen nicht entgegen beziehungsweise in Nachtdiensten, was immer ein großes Thema ist, wenn jemand betrunken ist oder unter Drogeneinfluss da ist und sich gar nicht behandeln lassen will … der Arzt ist auch unter Stress, will den behandeln und es ist nicht möglich …“
Hier wird man sich fragen: Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Wie können die Rahmenbedingungen für das Handeln verändert werden? Offensichtlich findet das Handeln in einem Krankenhaus im Rahmen von Strukturen statt, die die Menschlichkeit im Handeln fördern oder erschweren können. „Druck“ in Form von Zeit-, Leistungs- oder Kostendruck erschwert das freie Atmen und schränkt die Handlungsspielräume empfindlich ein.
Im Zweifelsfall für die Freiheit!
Hier gilt es, Oasen der Freiheit zu sichern. Der bekannte amerikanische Philosoph John Rawls hat in seiner 1971 erschienenen „Theorie der Gerechtigkeit“ die berühmte Frage gestellt: Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkommen würden, auf welche Gesellschaft würde man sich einigen? „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“) bedeutet, dass man nichts über die eigenen physischen und psychischen Eigenschaften weiß, dass man nicht weiß, in welche Familie, Kultur und Epoche man hineingeboren wird. Wenn dies so ist – nach welchen Prinzipien würden wir unsere Gesellschaft aufbauen? Rawls gibt interessanterweise den Hinweis, dass wir uns zuerst darauf einigen würden, jedem Mitglied der Gesellschaft ein größtmögliches Bündel an Freiheiten zu geben. Hier geht es also auch um Handlungsspielräume!
Wir könnten diese Frage auch für ein Krankenhaus stellen: Auf welche Art von Krankenhaus würden wir uns einigen, wenn alle, die mit einem und in einem Krankenhaus zu tun haben, unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkämen? Ich weiß also nicht, ob ich Chefärztin oder Vater eines kranken Kindes, Reinigungskraft oder Verwaltungsangestellte, Pfleger oder Krankenschwester, Patient/inn/en-Anwalt oder Versicherungsvertreter, Koch oder Turnusärztin bin. Was wäre mir wichtig? Die Frage ist fruchtbar, gerade wenn man sie mit Blick auf eine konkrete Abteilung oder ein konkretes Krankenhaus stellt. Allein die Frage kann schon etwas bewirken.
Was die Antwort angeht, gibt es sicherlich gute Gründe, in eine ähnliche Richtung zu gehen wie Rawls: ein größtmögliches Bündel an Freiheiten für jede einzelne Person. Anders gesagt: im Zweifelsfall für die Freiheit. Wieder anders gesagt: Achte bei der Rollengestaltung und der Gestaltung der Rahmenbedingungen darauf, dass die betreffende Person über Spielräume und Wahlmöglichkeiten verfügt, soweit das mit Blick auf das Gemeinwohl und die Ordnung des Ganzen möglich ist. Hier wird man sich also fragen können: Was bedeutet Spielraum im Reinigungsdienst? Etwa Mitbestimmung bei der Wahl der Reinigungsgeräte, Chemikalien, Arbeitszeiten, Prioritäten und Abfolgen? Was bedeutet Spielraum für Eltern, deren Kind stationär aufgenommen wird? Etwa die Freiheit, auch über Nacht beim Kind zu bleiben? All diese Fragen haben mit dem Handeln zu tun.
Klassischerweise werden Handlungen in ethischer Absicht eingeteilt in solche, die geboten sind, in verbotene, in ethisch indifferente Handlungen und in Werke der Übergebühr. Ethisch indifferente Handlungen sind solche, bei denen es keinen ethischen Unterschied macht, ob sie gesetzt oder unterlassen werden; „Werke der Übergebühr“ (manchmal „supererogatorische Akte“ genannt) sind lobenswerte Handlungen, die man aber nicht verlangen kann. Ein klassisches Beispiel wäre etwa das Spenden, zum Beispiel für die Klinikclowns: eine schöne Handlung, aber man kann Menschen schwerlich dazu verpflichten.
Es gibt nun, wenn man eine „kleine Ethik“ für ein bestimmtes Krankenhaus entwickeln kann, eine wichtige Frage: Wo verläuft die Grenze zwischen „Pflichten“ und „Werken der Übergebühr“? Wenn diese Grenze nicht klar ist, kann es zu Missverständnissen und empfindlichen Abstimmungsschwierigkeiten kommen. Haben Patient/inn/en das Recht darauf, dass die Nachtschwester mit ihnen plaudert? Ist es ein Werk der Übergebühr, wenn das Krankenhaus auf der Kinderchirurgie den Kindern Spielzeug anbietet? Ist es supererogatorisch, dass die Kinderkrankenschwester sich auch bei wichtigen Dingen der Kinderwelt (Harry Potter, Fluch der Karibik, Bob der Baumeister, Caillou, Thomas Lokomotive …) auskennt? Es ist lohnenswert, sich auch über solche Fragen Gedanken zu machen und sich auszutauschen, weil sich hier die Wahrnehmung innerhalb einer Abteilung oder auch die Wahrnehmung von Patient/inn/en und deren Angehörigen auf der einen Seite und die Wahrnehmung des Personals auf der anderen Seite deutlich unterscheiden können.
Der Umgang mit dem Schicksalhaften
Neben dem Handeln gibt es freilich auch einen Bereich, der gerade im Umgang mit Krankheit und Leid eine wichtige Rolle spielt: der Umgang mit dem Schicksalhaften; das Annehmen von Einschränkungen, die Akzeptanz des Unverfügbaren und Nichtmanipulierbaren. Ethik wird sich auch um einen guten Umgang mit dem Schicksalhaften bemühen müssen. Ethische Fragen hängen stets mit Fragen des guten Lebens im Allgemeinen zusammen. Dass es hier einen Bedarf gibt, über Endlichkeit und Grenzen nachzudenken, liegt auf der Hand. Der Umgang mit Schicksalhaftem hat auch mit der Weise, wie wir sprechen, zu tun. Einstellungen können sich auch in der verwendeten Sprache ausdrücken. Der bereits zitierte krebskranke Journalist Tiziano Terzani, der sein Leben lang mit Sprache gearbeitet hat, denkt über diesen Aspekt mit Blick auf die Krebserkrankung nach: „Die Sprache, die diese Krankheit umgibt, ist ja eindeutig eine Kriegssprache, die ich selbst auch anfangs benutzt hatte. Der Tumor ist ein ‚Feind‘, den es zu ‚bekämpfen‘ gilt, die Therapie eine ‚Waffe‘, jede Phase der Behandlung eine ‚Schlacht‘. Die Krankheit wird stets als etwas Äußerliches gesehen, das in uns eindringt und uns Ärger macht und deswegen vernichtet werden muss, eliminiert, vertrieben. Bereits nach einigen Wochen des Umgangs mit der Krebserkrankung begann mir diese Einstellung zu missfallen … Durch das erzwungene Zusammensein sah ich den Tumor immer mehr als inneren ‚Besucher‘, der zunehmend ein Teil von mir wurde … Anstatt auf diesen Krebs in all seinen Inkarnationen loszugehen, war mir eher danach, mit ihm zu reden, mich mit ihm anzufreunden.“18
Die Bilder, die wir für Krankheiten verwenden („Strafe“, „Kriegsgegner“, „Feind“, „Herausforderung“, „Störung“, „Verlust“, „Prüfung“, „Flucht“ etc.) lassen tief blicken. Es ist nicht unwichtig, sich zu fragen, wie wir uns sprachlich an Krankheiten annähern. Es ist auch interessant zu fragen, welche subjektiven „Krankheitstheorien“ wir verfolgen.19 Die Frage, wie wir über etwas und auch mit jemandem sprechen, ist eine ethische Frage. Diesen Handlungsspielraum der Sprache und der Einstellung haben wir auch im Umgang mit Schicksalhaftem.
Die fünf Fragen der Ethik
Man kann auch sagen, Ethik denkt systematisch über fünf Fragen nach:
Was ist ein guter Mensch? (Was macht einen guten Charakter aus?)
Welche Handlungen beziehungsweise Handlungstypen sind gut?
Was ist ein in einem ethischen Sinn gutes Leben?
Was ist eine „gute Institution“?
Was ist eine „gute Entscheidung“?
Wir werden uns im nächsten Abschnitt auch mit der „guten Institution“ und im letzten Abschnitt auch mit der „guten Entscheidung“ beschäftigen. An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, dass bei aller Betonung der Bedeutung von Prinzipien die handelnde und leidende Person nicht umhin kommt, sich als ganzer Mensch in eine Situation einzubringen. Mit anderen Worten: Unseren Charakter tragen wir stets mit uns, den nehmen wir überallhin mit, und gerade im Krankenhaus, wo viele Menschen unter erschwerten Bedingungen auf beengtem Raum Tag und Nacht miteinander verbringen müssen, zeigen sich charakterliche Herausforderungen. Eine Mitarbeiterin auf einer Intensivstation erläuterte in einem Interview:
„Der Kontakt ist extrem nah, ich bin mehr als über den gesunden Abstand beim Patienten … durch die ganzen Kabeln, die ich gleich am Anfang kontrollieren muss, das ist alles im Intimbereich vom Patienten … das ist ständiger Körperkontakt, da ist extreme Nähe da … das ist auch generell ein Thema, dass man zumindest ein bisschen die Privatsphäre wahrt, wobei man gleich beim Temperatursonden-Checken, die liegt in der Leiste … da ist der erste Blick unter die Decke … ich mach es oft mit Schmäh, das ist gleich einmal ein Abchecken, was ist das für eine Persönlichkeit, wie kann ich mit dem reden, wie komme ich zu ihm durch? … Wir haben alles, vom Magister bis zum … eigentlich kommt man schon zum Reden: ,Wo wohnen Sie?‘, etc. Das gefällt ihnen, wenn sie etwas von sich selbst erzählen können. Vielleicht hat man gemeinsame Sachen, beruflich und so.“
Hier zeigen sich Aspekte wie „Humor“, „Gespür für den Menschen“, „Gesprächsfähigkeit“ (soziale und emotionale Intelligenz, Empathiefähigkeit). Humor ist die Fähigkeit, mit Unvollkommenem umzugehen, und auch die Fähigkeit, den Druck aus einer Situation zu nehmen, indem ein „Ventil“ gefunden wird. Das sind Fragen der Persönlichkeit und des persönlichen Wachstums: Du nimmst deine Persönlichkeit mit. Das Überleben hängt mitunter von Kleinigkeiten ab. Der Kardiologe Thomas Meinertz erinnert sich an eine am Bett einer jungen Frau durchwachten Nacht, die wiederholt defibrilliert werden musste. Hatte der Arzt die Kraft, wach zu bleiben? „Mir war völlig klar, eine einzige Unaufmerksamkeit, ein kurzzeitiges Einschlafen meinerseits, ein technisches Versagen des Defibrillators – und alles wäre zu Ende gewesen.“20 Wieder sehen wir die Bedeutung von „Details“ und „Persönlichkeit“, was Gegenstand von kleinen Ethiken ist. Details und Persönlichkeit machen „Alltag“ aus – und um eine „Ethik des Alltags“ soll es uns gehen.
ALLTAG
Alltag ist das, was dem Leben Halt und Struktur gibt; Alltag ist die Gesamtheit der sich täglich wiederholenden Abläufe und der Inbegriff dessen, was wir als „gewöhnlich“ ansehen. Die Frage: „Ist heute etwas Besonderes vorgefallen?“, zielt auf Außeralltägliches ab. Alltag aber hat mit Normalität, Erwartbarkeit, Vorhersagbarkeit, verlässlicher Wiederholung zu tun. Die individuelle „Alltagstauglichkeit“ wiederum sagt viel über seelische und soziale Gesundheit aus, über das Vermögen, das Leben mit seinen Anforderungen zu bewältigen.
In der sozialen Welt gibt es das Phänomen der „erschöpften Familien“; es handelt sich dabei um Familienkonstellationen, die dem Alltag nicht mehr gewachsen sind: Eltern, die keine Post mehr öffnen, Eltern, die die Kinder nicht mehr in die Schule schicken, Eltern, die lethargisch geworden sind und den Kindern keine Fürsorgehaltung mehr entgegenbringen. In erschöpften Familien kann der Haushalt nicht mehr geführt werden. Aus diesem Grund haben Hilfsorganisationen Programme zur Unterstützung von erschöpften Familien in der Haushaltsführung entwickelt, dabei geht es um vermeintlich triviale Dinge wie das Putzen von Badezimmer und Toilette, die Entsorgung von Müll, das Erledigen von Einkäufen, die Ordnung im Haus. Diese elementaren Aspekte der Lebensbewältigung prägen den Alltag.
Gerade in einer „entrhythmisierten“ Zeit, die hohes Tempo und große Flexibilität abverlangt, ist der Alltag auf vielfache Weise bedroht. Damit geht viel an Lebenssicherheit verloren. Die deutsche Philosophin Hannah Arendt hat den alltäglichen Lebensvollzügen, die viel mit „Arbeit“ zu tun haben, besondere Aufmerksamkeit geschenkt und deren strukturierende Kraft hervorgehoben. Die ungarische Soziologin Agnes Heller hat den Zusammenhang zwischen Alltag und Kreativität beziehungsweise Fortschritt betont.21 Heller war in ihrem Denken von der Überzeugung geleitet, dass die großen Leistungen einer Kultur aus Herausforderungen, Problemen, Konflikten und Bedürfnissen des täglichen Lebens herrühren. Auch Alltag und die Bewältigung des Alltags strukturieren somit maßgeblich unser Leben.
Alltag im Krankenhaus
Fragen von „Alltag“, der Aufbau von Strukturen von Regelmäßigkeit, spielen auch in einem Krankenhaus eine entscheidende Rolle. Beispielsweise sind Kinder, die für einen längeren Krankenhausaufenthalt aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen werden, traumatisiert und auf die Errichtung eines „Schutzraums“ angewiesen, der innere und äußere Sicherheit bietet. Bezugspersonen und die Etablierung eines Alltags sind hier wichtige Schritte zum Aufbau eines solchen Schutzraums.22 Gerade in Zeiten der Verunsicherung (der Körper lässt aus, die Institution ist fremd, die Zukunft ist ungewiss) geben Alltagsstrukturen als Pfeiler der Verlässlichkeit und Wiedererkennbarkeit Stütze und Halt. Man könnte auch sagen: Alltag zu etablieren – nicht zuletzt über stabile Bezugspersonen – ist wichtiger Teil einer Ethik des Krankenhausalltags.
Gleichzeitig gehört zu einer „Ethik des Alltags“ auch die hilfreiche Unterbrechung des Alltags. Viele Patient/inn/en erleben den Alltag als „lang“ und „langweilig“. Im oft eintönigen Tagesablauf empfinden sie die Zeit, die andere Menschen ihnen bewusst zur Verfügung stellen und mit ihnen verbringen, als besonders wertvoll. Insbesondere die Zeit während der Besuche von Freunden und Verwandten (von sogenannten „intimates“) gilt als kostbar, was sich darin zeigt, dass Patient/inn/en versuchen, diese Zeit ganz bewusst zu verbringen.23 Diese Momente des Austauschs und der Begegnung mit anderen – zum Teil finden sie auch zwischen den Patient/inn/en statt – bewirken nach einigen Erfahrungsberichten ein „schnelles Verstreichen der Zeit“, das im Gegensatz zur Trägheit und Schwere des üblichen Krankenhausalltags steht. Für Patienten, die ans Bett gefesselt sind und darüber hinaus wenig Besuch von Angehörigen erhalten, ist es naturgemäß am schwersten, die erwähnten Momente der Abwechslung zu erleben.
Hier ist die Frage nach der kreativen Alltagsdurchbrechung, nach Feierkultur und Ausnahmeregelungen zu stellen. Peter von Matt hat in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2012 die Bedeutung von „Freiheit“ und „Überfluss“ für das Fest hervorgehoben. Menschliches Leben findet dort statt, wo auch Alltag unterbrochen und gefeiert werden kann. Es war Aristoteles, der auf die Bedeutung dieser Freiheit hingewiesen hat: „Überall den Nutzen zu suchen, passt nicht für den Hochgemuten und für den Freien.“24 Nach einem Gedanken von Matthew Fox ist es ein Zeichen von Gemeinschaftskultur, wenn Menschen miteinander feiern können. Oder anders gesagt: Man erfährt viel über eine Gemeinschaft, wenn man den Blick darauf richtet, wie sie den Alltag gestaltet, aber auch durchbricht.
Eine Ethik für den Krankenhausalltag wird sich deswegen auch die Frage nach „Ausnahmen von Regelungen“ stellen. Ein Beispiel:
„Die Nachtschwester hat sich daran gewöhnt, dass in meinem Zimmer meist das Licht brennt. Sie kommt auf ihren Runden stets auf einen Sprung herein, und während sie die Leintücher strafft und die Kissen aufschüttelt, plaudern wir ein wenig über das Buch, in dem ich gerade lese, oder über die Gedanken, die einem so kommen, wenn einen der Schlaf flieht. Doch die Gespräche bleiben meist nur Fragmente, weil nach kurzer Zeit schon die rote Suchlampe zu blinken beginnt. Dann huscht meine Gesprächspartnerin, eine Entschuldigung murmelnd, eilends in den stillen Korridor hinaus, um einem anderen Patienten auf der Abteilung Hilfe zu bringen. Dennoch freuen mich diese nächtlichen Visiten. Sie unterbrechen die Stille der langen Stunden und sind echte menschliche Begegnungen.“25
Es geht also um Alltag mit seiner Verlässlichkeit und seinem Schutz und auch um die Durchbrechung und Unterbrechung dieses Alltags. Nun stehen wir vor der Aufgabe, allgemeines ethisches Nachdenken mit den Herausforderungen des Alltags zusammenzubringen. Ethisches Nachdenken über gutes Leben stellt eine Fundamentalfrage: Worum soll es überhaupt gehen, wenn wir über „gutes Leben“ nachdenken? An welchen Punkten sollen wir uns orientieren? Welche „moralischen Güter“ sollen geschützt werden? Sie machen „gutes Leben“ in einem ethischen Sinn erst möglich. Die Menschenrechtskataloge beispielsweise enthalten eine Vielzahl von direkten wie indirekten Aussagen über moralische Güter. Woran sollen wir uns halten? Oder auch: Welche moralischen Güter sollen im Krankenhausalltag hergestellt werden? Ich möchte im Folgenden drei nennen, an denen wir uns im Krankenhausalltag orientieren sollten:
Menschenwürde und Selbstachtung,
Gemeinschaftsordnung,
Menschlichkeit.
Menschlichkeit im Beruf leben
Am ausführlichsten will ich mich dem ersten Punkt „Menschenwürde und Selbstachtung“ zuwenden. Bevor dies diskutiert wird, einige Bemerkungen zu „Gemeinschaftsordnung“ und „Menschlichkeit“. „Menschlichkeit“ ist die Fähigkeit, den Menschen als Menschen zu sehen. Susan Spencer-Wendel erinnert in ihrer eigenen Krankheitsgeschichte an den Unterschied von „technischer Perfektion“ und „Menschlichkeit“: Nach ihrer ALS-Diagnose wurde sie in eine auf ALS spezialisierte Klinik in Miami aufgenommen. Eine Messung nach der anderen wurde durchgeführt, ein Kurzgespräch folgte dem anderen, Spezialistinnen und Spezialisten aus verschiedenen Disziplinen begutachteten sie. Es war technisch perfekt, nur … „This was a cattle call, not treatment“, „Sie messen mich zu Tode“26 … Susan Spencer-Wendel setzte keinen Fuß mehr über die Schwelle dieses hoch angesehenen und bestausgestatteten Krankenhauses. Es fehlt an Menschlichkeit, an jenem Blick auf den besonderen Menschen als besonderen Menschen.
„Menschlichkeit“ ist auch die Fähigkeit, nicht in die Falle der „Menschenblindheit“ zu tappen, die der israelische Philosoph Avishai Margalit beschrieben hat.27 Menschenblindheit ist die Unfähigkeit, Menschen als Menschen zu sehen, und zeigt sich darin, dass Menschen wie Objekte behandelt werden. Anna Sam hat in der Schilderung ihrer mehrjährigen Erfahrungen als Kassiererin in einem Supermarkt die Dynamik beschrieben, selbst wie eine Sache, wie ein Gegenstand behandelt worden zu sein.28 Sie identifiziert die Kundinnen und Kunden als die größte Belastung und als Eintrittsstelle für Erniedrigung in diesem Beruf. Sie hat als Supermarktkassiererin die Menschenblindheit der Kundinnen und Kunden beschrieben, die die Interaktion mit der Kassiererin in vielen Fällen ohne Blickkontakt abwickelten. Die Dame an der Kassa wird zum Teil des Objekts „Kassa“ und nicht mehr als Mensch wahrgenommen.