Architektur einer Gemeinschaft

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Vitus Seibel
Architektur einer Gemeinschaft
Impulse aus den Satzungen der Jesuiten
Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ und Martin Müller SJ
Band 59
Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.
Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.
Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.
Vitus Seibel
Impulse aus den Satzungen der Jesuiten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
© 2013 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de Umschlag: Peter Hellmund Druck und Bindung: fgb • freiburger graphische betriebe ISBN 978-3-429-03583-9 (Print) 978-3-429-04700-9 (PDF) 978-3-429-06099-2 (ePub)
Inhalt
Vorwort
I. Die Eigenart der Satzungen
1. Das Labyrinth des Ignatius
2. Ergebnis der Werkstattarbeit: Ja, aber …
3. Ein Fanfarenstoß – so beginnt es
4. Von der Ouvertüre zum Finale – ein Lebensskript
5. 17 + X – schöpferische Treue
II. Durchgehende Perspektiven
1. Gott zuerst, inmitten und zuletzt
2. Was einem flämischen Jungjesuiten einfiel …
3. SJ = System Je nachdem
4. Typisch jesuitisch
5. Leben in Spannungen – ein spannendes Leben
6. Kein Strohfeuer – angelegt auf Nachhaltigkeit
7. Die ganze Welt ist unser Haus – die apostolische Dynamik
III. Einzelthemen
1. Männer für eine gefährliche Reise
2. Das Mittelmaß – die Mitte zwischen den Extremen
3. Die »Soldaten des Papstes«
4. Erstaunliches über das Gebet
5. Hast du was, dann bist du was – über die Armut
6. Ein schmerzliches Kapitel – über die Keuschheit
7. Vom Gehorchen zur Liebe – über den Gehorsam
8. Karriere nach unten – der Generalobere
9. Einfallstore der Sinne – durchlässig für alles?
10. Vernetzung – Information und Kommunikation
11. Die Absicht gerade halten – die tägliche Korrektur
12. Wagemut statt Ängstlichkeit
13. Nicht unter Sünde
14. Wellness? Die Sorge für den Leib
15. Krankheit als Gnade?
Ein Vorwort als Nachwort
Vorwort
In der Reihe der Ignatianischen Impulse fehlte bis jetzt ein Beitrag, der sich speziell mit den Satzungen des Jesuitenordens befasst. Vielleicht kommt das daher, dass sie an sich ja nicht für eine breite Öffentlichkeit, sondern für die Ordensmitglieder geschrieben sind. Ich meine aber, dass man hier Perlen geistlicher Tradition entdecken kann, Schätze, die gehoben werden dürfen. Heutige Fragestellungen können durch die Satzungen geistlich bedacht werden. So werden sie vielleicht auch für Nichtjesuiten hilfreich und anregend sein. Hier eine Brücke zu schlagen, ist das Anliegen dieses kleinen Buches.
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit den Satzungen. Das hängt mit den Aufgaben zusammen, die ich in meinem Orden hatte. Besonders während der Zeit, in der ich die letzte Ausbildungsphase meiner jungen Mitbrüder zu begleiten hatte, das so genannte Tertiat, bildeten die Satzungen ein wichtiges Schwerpunktthema. Dabei hat in besonderer Weise immer auch Pater Peter Knauer mitgewirkt. Ihm bin ich deshalb zu großem Respekt und Dank verpflichtet. Dank gilt auch vielen anderen Mitbrüdern. Ihre Erfahrungen sind in das Büchlein mit eingegangen, ohne dass dies im Einzelnen noch genauer angegeben werden könnte. In einer Gemeinschaft »profitiert« man ja voneinander, ohne dass dies immer genau registriert werden müsste.
Die Satzungen sind so etwas wie das Haus der Jesuiten. Es hat einen Bauplan, der dem geistigen Gebäude zugrunde liegt. Es hat Funktionsräume und Einzelzimmer, Gebetsorte und Erholungsmöglichkeiten. Es gibt ein solides Fundament, Energieversorgung, feste Wände und ein schützendes Dach. Es hat Fenster, durch die man bis in fernste Fernen blicken kann. Und es hat Türen, weniger, um sie hinter sich abzuschließen, sondern vielmehr, um hinauszugehen in alle Welt. Die Satzungen stellen tatsächlich die Architektur der Gemeinschaft dar.
Zunächst führe ich in einem ersten Teil ein in die Eigenart und in die verborgene Dynamik der Satzungen. In einem zweiten Teil weise ich auf einige durchgehende Perspektiven hin und darauf, was sich daraus für heute ergeben könnte. In einem dritten Teil lege ich dasselbe an einigen Einzelthemen dar.
Benützt habe ich außer den üblichen Quellen vor allem die 1997 erschienene deutsche Übersetzung des spanischen Urtextes: Satzungen der Gesellschaft Jesu und Ergänzende Normen. Der deutsche Text der Satzungen wurde übersetzt durch Peter Knauer, die Ergänzenden Normen, d.h. die Fortschreibung der Satzungen ins Heute durch ein Team von Mitbrüdern. Die Satzungen sind durchgezählt (1–827), ebenso die Ergänzenden Normen (1–416). So zitiere ich sie auch. Die Satzungen werden auch Konstitutionen genannt. Unter diesem Ausdruck sind sie den Ordensmitgliedern vertraut. Ich verwende beide Bezeichnungen abwechselnd für ein und dieselbe Sache.
»Ein Leib für den Geist«, so lautet der Titel eines Buches des französischen Jesuiten Dominique Bertrand über die Konstitutionen. Ein trefflicher Ausdruck, denn sie sind tatsächlich so etwas wie die Verleiblichung der Geistlichen Übungen. Das »innere Gesetz der Liebe« (134) findet im Bauplan der Satzungen seine Verwirklichung. Beide bedeutenden Werke des Ignatius von Loyola sind so in eine erhellende Beziehung gebracht.
Schön wäre es, wenn der eine oder andere Gedanke, der in diesem Büchlein den Konstitutionen entspringt, bei der Leserin oder dem Leser Wurzeln schlagen würde, sich also gewissermaßen verleiblichen könnte durch den Geist Gottes.
I. Die Eigenart der Satzungen
1. Das Labyrinth des Ignatius
»Ein Labyrinth«, so nannte Nicolas Bobadilla, einer der ersten Gefährten des Ignatius, nach dessen Tod die gerade vorliegenden Satzungen des jungen Ordens. Bobadilla fand, dass die Satzungen verwirrend seien, eben ein Labyrinth. Weder Obere noch Untergebene würden sie je verstehen können.
Vielleicht war sein Urteil noch getrübt durch eine Verärgerung. Ignatius hatte nämlich 1550 den ersten Gesamtentwurf den in Rom anwesenden Jesuiten zur Kritik vorgelegt. Anscheinend fand Bobadilla seine damals geäußerten Bedenken nicht genügend berücksichtigt. Es könnte auch sein, dass er sich als einer der Gründerväter des Ordens bei der Abfassung der Satzungen zu wenig beteiligt sah. Er sorgte dafür, dass auch Papst Paul IV. seine Beurteilung der Satzungen erfuhr. Darüber hinaus nannte er Ignatius einen Tyrannen. Dies führte zu einer schweren Krise, da auch der Papst wegen eines früheren Konflikts keine gute Meinung über Ignatius hatte. Die Krise konnte erst nach der Wahl des Nachfolgers des Ignatius behoben werden.
Zwei Jahre nach dem Tod des Ignatius fand die erste Generalkongregation der Jesuiten statt. Dabei wurden die Satzungen einmütig in Kraft gesetzt, und siehe da: auch mit der Stimme des inzwischen wieder besänftigten Bobadilla.
2. Ergebnis der Werkstattarbeit: Ja, aber …
Beim Verfassen der Konstitutionen wurden Vorlagen zu bestimmten Themenkreisen erarbeitet. Der wackere Sekretär Juan de Polanco hatte daran großen Anteil. Regeln der alten Orden wurden beigezogen. Teilentwürfe wurden in einzelnen Provinzen durch Vertraute, besonders durch Jeronimo Nadal und Pedro de Ribadeneira, vorgestellt. Die Erfahrungen vor Ort wurden rückgemeldet und eingearbeitet oder verworfen. Und immer wieder ging Ignatius betend die einzelnen Punkte der Satzungen durch. Ein erster Gesamtentwurf, der die Handschrift des Ignatius trägt, wurde den in Rom anwesenden Jesuiten 1550 vorgelegt. Ihre Anmerkungen wurden zum großen Teil berücksichtigt. Und das Ganze wurde immer wieder dem Urteil der Vernunft unterworfen. Denn Ignatius, der selber ein Mystiker war, misstraute bloßen Gefühlen und schwärmerischen Höhenflügen. Für ihn war ganz allgemein wichtiger, dass Leute, die von ihren eigenen, vermeintlich glanzvollen Ideen begeistert waren, nüchtern blieben, frei von ungeordneten Anhänglichkeiten. Denn sonst werden sie leicht zum Spielball ihrer Launen, die dann allerdings mit einem frommen Mäntelchen getarnt werden.
Was die Satzungen ausmacht, ist nicht mit einem Wort zu bezeichnen. Regel? Ja, aber auch Inspiration. Lehrhaft? Ja, aber auch geistlich. Normativ? Ja, aber auch motivierend. Für alle? Ja, aber auch Raum lassend für die Unterschiede vor Ort. Ein einigendes Band? Ja, aber auch berücksichtigend, dass die Persönlichkeiten unterschiedlich sind. Schwungvoll? Ja, aber auch geordnetes und nachvollziehbares Handeln. Klar? Ja, aber auch ausladend und mit vielen Wiederholungen. Große Ziele? Ja, aber auch Abstieg bis in Banalitäten. Asketische Vorschriften? Ja, aber auch Atem der Freiheit. Missionarisch? Ja, aber auch trockene Texte. Hochfliegend? Ja, aber auch maßvoll. Geschrieben, damit sie gehalten werden? Ja, aber auch unterscheidend und den Kontext berücksichtigend.
Candido de Dalmases, ein Ignatiuskenner, drückt es so aus: »Ein Gesetz, das kein Gesetz ist. Ein Recht, das kein Recht ist, weil die juridischen mit den geistlichen Elementen so weise verschmolzen sind.« Und André Ravier, ein anderer Experte, schreibt: »… wird man unausweichlich feststellen, dass sie (die Konstitutionen) mehr sind als ein Gesetzbuch, mehr als ein Plan für die apostolische Arbeit, mehr als eine Sammlung von Erfahrungen, mehr als ein Leitfaden für die Sendungen. Vielmehr sind sie die lebendige Frucht einer sehr hohen Gotteserfahrung; sie sind die in die menschliche Ebene übertragene Antwort auf ein ergreifendes Fragen nach den Plänen Gottes, des Schöpfers und Erlösers; sie sind das angestrengte Bemühen einer Gruppe von Gefährten, sich innerhalb der Kirche so zu organisieren, dass sie auf eine möglichst fruchtbare Weise am göttlichen Erlösungswerk für die Welt mitarbeiten kann.«
Daraus ergeben sich Hinweise, die auch heute zu bedenken wären, wenn man zu Werke geht. Was wir zustande bringen wollen, soll Frucht des Gebetes sein, Frucht aber auch von gediegenen Überlegungen und von Erfahrungen, die ihrerseits einer unterscheidenden Liebe und dem Urteil reifer Menschen unterworfen werden müssen. Und das Ganze ist immer auch in den aktuellen Kontext zu stellen. Er erweitert auch gültig bleibende Erkenntnisse, versieht sie mit neuen Akzenten und führt zu neuen Handlungsanweisungen.
3. Ein Fanfarenstoß – so beginnt es
»Wer immer in unserer Gesellschaft, von der wir wünschen, dass sie mit dem Namen Jesu bezeichnet werde, unter dem Banner des Kreuzes für Gott Kriegsdienst leisten und allein dem Herrn und der Kirche, seiner Braut, unter dem Papst, dem Stellvertreter Christi auf Erden, dienen will, der soll sich nach dem feierlichen Gelübde immerwährender Keuschheit, Armut und Gehorsams dessen bewusst sein, dass er Teil einer Gesellschaft ist, die vornehmlich dazu errichtet worden ist, um besonders auf die Verteidigung und Verbreitung des Glaubens und den Fortschritt der Seelen … abzuzielen … und er soll sich bemühen, zuerst Gott, dann die Art und Weise dieses seines Instituts, die ja ein Weg zu ihm ist, vor Augen zu haben und dieses ihm von Gott gesetzte Ziel mit allen Kräften zu erreichen; ein jeder jedoch nach der ihm vom Heiligen Geist gewährten Gnade und der eigenen Stufe der Berufung« (Formula Instituti 1 von 1550).
Wie ein Fanfarenstoß tönt dieser erste Satz der so genannten Formula Instituti, der Formel des Instituts, der Magna Charta des Ordens (auch wenn die äußere Gestalt des Satzes etwas schwerfällig scheinen mag). Dieses Grundgesetz, das durch die Satzungen erläutert und ausgelegt wird, wurde in einer ersten Fassung 1540 von Papst Paul III. genehmigt und in einer zweiten Fassung 1550 von Papst Julius III. bestätigt. Auf der Grundlage dieser Formula entfaltet sich also das Gesamtwerk der Konstitutionen, wie die Satzungen in der den Jesuiten geläufigen Bezeichnung genannt werden.
Wie die Formula Instituti ist auch das Credo, unser Glaubensbekenntnis, eine Art Kurzformel, und zwar unseres Glaubens. Es ist hilfreich, solche prägnanten Zusammenfassungen zu probieren. Auch auf der persönlichen Ebene. Was ist mir wichtig? Was spricht mich besonders an in meinem Glauben? Was ist erprobt in meinen Gebeten, meinen Erfahrungen, meinen Überlegungen? Trägt es dazu bei, meinen Nächsten in aufbauender Weise mit einzubeziehen? Ist es offen für Korrekturen, für Fortschreibungen? Sind die Kriterien meiner Kurzformel ausgerichtet an Jesus Christus? Solche Kurzformeln müssen nicht unbedingt schreckliche Vereinfachungen sein. Sie sind geeignet, Entscheidendes immer wieder ohne große Anstrengung in Erinnerung zu rufen. In schwierigen Situationen können sie Wichtiges auf den Punkt bringen. Im Alltag können sie die Schönheit unseres Glaubens aufblitzen lassen.
4. Von der Ouvertüre zum Finale – ein Lebensskript
Nach der Formula Instituti, der Zusammenfassung dessen, wie der Orden sich versteht und was er will, folgen die Konstitutionen. Sie werden eingeleitet mit einer Art Präludium, dem so genannten Examen, einer Prüfung, die den Interessenten vor Augen geführt wird. Ein Kandidat soll wissen, auf was er sich einlässt und dass dies kein Zuckerschlecken werden wird. Und der Orden will die Neigung und Eignung des Eintrittswilligen prüfen.
Dann folgen die zehn Teile der Satzungen.
Im I. Teil wird die Zulassung behandelt. Wer glaubt, berufen zu sein, muss bestimmte Bedingungen erfüllen und sich verschiedenen Prüfungen unterwerfen, »um bei dem zu helfen, was die Gesellschaft (Jesu) in Bezug auf den göttlichen Dienst erstrebt« (147).
Der II. Teil handelt von der Entlassung derjenigen, die sich nicht bewähren oder die erkennen, dass ihr Weg ein anderer sein soll. Auffallend ist, dass sehr betont wird, mit wie viel Liebe und Taktgefühl die Trennung geschehen soll.
Der III. Teil hat die Bewahrung, Förderung und Vertiefung der Berufung zum Thema. Besonderer Wert ist darauf zu legen, dass das Gemeinschaftsgefühl eingeübt wird, der Korpsgeist, der die Gemeinschaft prägen soll. Eine besondere Betonung liegt auf dem Gehorsam. Er besteht nicht nur in einer äußeren Durchführung des Befohlenen, sondern in einem inneren Bemühen um Übereinstimmung mit dem Willen dessen, der befiehlt (284).
Der IV. Teil handelt von der Ausbildung der Ordensstudenten in den Wissenschaften.
Im V. Teil werden die unterschiedlichen Formen und Stufen der Eingliederung in den Orden vorgestellt.
Im VI. Teil kommt das persönliche Leben seiner Mitglieder zur Sprache.
Der VII. Teil ist der Sendung gewidmet. Das Leben der Mitglieder ist apostolisch, d.h. im weiten Sinne seelsorgerlich. Das ist das Ziel aller Arbeiten des Ordens. Insofern ist dieser VII. Teil das Zentrum aller zehn Teile.
Um das Wohl des Ganzen in diesem Vorhaben zu gewährleisten, stellt der VIII. Teil alles vor Augen, was den Leib zusammenhält und zur Einheit notwendig ist. Mit demselben Ziel befasst sich der IX. Teil mit dem besonderen Augenmerk auf die Leitung. Hier ist eigens hervorgehoben, »wie der Generalobere sein soll«, eine Fundgrube für alle, die ein Leitungsamt innehaben.
Der X. Teil schließlich beschreibt, »wie dieser ganze Leib in seinem guten Stand bewahrt und gemehrt werden soll« (812). In diesem Finale findet man eine Art Zusammenfassung der ganzen Satzungen. Wie man das macht, den ganzen Leib zu bewahren und zu mehren, bleibt eine ständige Anfrage und ein Auftrag an den Orden, der ja auch, wie viele Gemeinschaften, unter starkem Rückgang zu leiden hat.
Dem äußeren Aufbau entspricht eine innere Richtung des Textes: Von den Anfängern zu den Ausgebildeten, von den Teilen zum Ganzen, vom Individuum zur Gemeinschaft, von der Ouvertüre zum Finale. Und in den einzelnen Kapiteln: vom Geistigen zum Leiblichen. Der letzte Satz des Gesamtwerks könnte diesseitiger oder banaler kaum sein: Die Stellen, an denen man Kollegien gründet, sollen gute Luft haben (827). Dieser Aufbau bringt Wiederholungen mit sich, die aber in einem jeweils neuen Kontext Akzentverschiebungen bedeuten. Sie sind durch die unterschiedlichen Stufen der Eingliederung oder die verschiedenen Zielpunkte bedingt. Dies mag auch einer der Gründe gewesen sein, weswegen Pater Bobadilla die Satzungen zwischendurch nicht geschmeckt haben. Offensichtlich hatte sich ihm die Logik des Aufbaus nicht erschlossen. So wurde sie ihm zu einem Labyrinth.
Fragen, die sich ergeben, sind: Wie könnte das Buch meiner Satzungen, meines Lebens aussehen? Wie würde ich meine Reifungsstufen benennen? Wie könnten die Überschriften über die Abschnitte meines Lebens lauten? Wie habe ich meine Identität gewonnen? Was tue ich für mein Gottesverhältnis? Wie fördere ich meine Anlagen und Talente? Was sind die spezifischen Fallen, die mir das Leben schwer machen? Wie sehen meine Vorstellungen einer lebendigen Gemeinschaft aus? Wie gestalte ich meine Beziehungen zu anderen?
In welchen Gemeinschaften lebe ich? Was würde ich ihnen für ihr Wachsen wünschen? Wie geht meine Reifung zu einer eigenständigen Individualität zusammen mit der Entwicklung meiner Gemeinschaftsfähigkeit?
5. 17 + X – schöpferische Treue
Ignatius hat die Konstitutionen geschaffen und dabei während entscheidender Jahre vor allem die außerordentliche Unterstützung seines Sekretärs Juan de Polanco gehabt. In einer Mischung aus Gebet, Nachdenken, Entwürfen und praktischen Erprobungen sowie in der Auswertung der vor Ort gemachten Erfahrungen hatte das Ganze der Konstitutionen allmählich Form angenommen. In 17 Jahren entstand so ein Gebilde, das keiner anderen Ordensregel glich.
Die 1. Generalkongregation des Ordens billigte 1558, zwei Jahre nach dem Tod des Ignatius, die Konstitutionen und legte fest, dass keine Veränderungen mehr vorgenommen werden sollten. Ignatius selbst allerdings war der Meinung gewesen, dass die Konstitutionen für Veränderungen offen bleiben sollten. Man entschied sich aber dann aus Verehrung ihm gegenüber, den ursprünglichen Text unverändert zu belassen.
Im Laufe der Zeit wurde es aber notwendig, den veränderten Entwicklungen Rechnung zu tragen. Neue Zeiten, neue Konstellationen, kirchenrechtliche Veränderungen, tiefer gehende Erkenntnisse mussten berücksichtigt werden. So häuften sich Interpretationen, zusätzliche Erklärungen, Änderungen durch Generalkongregationen und Ordensgeneräle. Zuletzt (erst 1995) fand man die Lösung, die authentischen Interpretationen als »Ergänzende Normen« den Konstitutionen anzufügen. Da wird auch in Fußnoten zu den einzelnen Nummern der Satzungen gesagt, welche Texte geändert, erklärt, gestrichen wurden, mit vielen Quellenangaben für Äußerungen von Generalkongregationen, Päpsten, Ordensgenerälen oder des Kirchenrechts.
Diese Fortschreibung durch die Ergänzenden Normen hat einmal zu berücksichtigen, dass der Geist und soweit dies möglich ist auch der Buchstabe der Konstitutionen bewahrt wird. Das ist die Treue, die der Orden von sich selbst verlangt. Das Neue, das Aggiornamento, um ein Wort von Papst Johannes XXIII. zu gebrauchen, soll darin bestehen, die Grundgegebenheiten in der heutigen Welt verantwortungsvoll zu berücksichtigen. Diese schöpferische Treue deutet einerseits die Verantwortung für die ehrwürdige Tradition an, ist andererseits aber offen für den Fortschritt. Von der Formulierung »Verteidigung und Verbreitung des Glaubens und Fortschritt der Seelen« wird der Bogen geschlagen bis zu den letzten Generalkongregationen. Sie geben den heutigen Bewusstseinsstand wieder. Der »Gesamtdrive« des Ordens wird in den Kontext von heute gestellt.
Schon die 32. Generalkongregation (1974/75) hatte erklärt, dass zum Dienst am Glauben der Einsatz für die Gerechtigkeit unbedingt dazugehöre. Die 34. Generalkongregation (1995) hatte formuliert: »Kein Dienst am Glauben ohne Förderung der Gerechtigkeit, Eintritt in Kulturen, Offenheit für andere religiöse Erfahrungen« (Dekret 2, 47). Die 35. Generalkongregation (2008) sagt im Anschluss an die positiven wie negativen Auswirkungen der Globalisierung: »In allen unseren Diensten sind wir zu einem ernsteren Eingehen auf diese Wirklichkeit gerufen sowie dazu, die Räume für einen fortgesetzten Dialog und das Nachdenken über das Verhältnis von Glaube und Vernunft, Kultur und Moral, Glaube und Gesellschaft auszuweiten, um das wahre Antlitz des Herrn den vielen zu zeigen, für die es heute noch verborgen oder unerkennbar ist« (Dekret 3,20). Der letzte Halbsatz ist ein Zitat aus der Ansprache Papst Benedikts XVI., die er an die Teilnehmer dieser Versammlung gerichtet hatte.
Die entscheidenden Orientierungspunkte, aus denen sich die heutigen Dienste der Jesuiten ergeben, sind also Glaube – Gerechtigkeit – Dialog – Inkulturation. Diese aktuellen Anforderungen für heute sind nicht auf den Jesuitenorden beschränkt. Da sind viele Institutionen und Gemeinschaften mit einbezogen. Die Art, wie man sich den heutigen Herausforderungen stellt, entscheidet über die Lebendigkeit und Lebensfähigkeit. Und auch diese Frage kann verallgemeinert werden: Wie werden schöne Dokumente umgesetzt und durchgesetzt? Wie wird in der Kurzlebigkeit vieler modischer Trends eine Unterscheidung erreicht für das, was wichtig ist und wichtig bleibt? Was darf als gute und lebendige Vielheit angesehen werden, ohne die notwendige Einheit zu gefährden? Wie ist eine Nachhaltigkeit zu erreichen, die nicht immer wieder durch neue Papiere oder Dokumente eher entwertet als gestärkt wird?
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