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Noch gut in Erinnerung meine erste Hausaufgabe, bei der es galt, eine Schiefertafel mit Spazierstöcken zu füllen: die erste Hälfte aufrecht, die zweite Hälfte auf dem Kopf stehend. Schon die erste Hälfte genügte den mütterlichen Idealvorstellungen nur selten. Es führte zu schmerzlichen, da den Arbeitseinsatz verlängernden Korrekturen. Als es an die Bewältigung der zweiten Hälfte ging, drohte eine ungebremste Tränenflut die Frucht geleisteter Arbeit, in Form mühsam auf die Tafel gemalter aufrecht stehender Spazierstöcke, hinwegzuspülen. Zwecks schöpferischer Pause begaben sich Mutter und Sohn in den Garten. Dort standen sie unter dem Reneklodenbaum, zu dessen Füßen ein Heer von Wespen an den am Boden liegenden Früchten nagte. Hier prophezeite sie, die Hände ringend, ihrem Sprössling, dass er später einmal nur zum Schweinehüten taugen werde. Ein für den Sohn beängstigendes Szenarium. „Könnten es nicht auch Gänse sein?“ Ich spürte den forschenden Seitenblick der Mutter. Ob ich mich womöglich über sie lustig machte? Aber dem Sohn war es bitterernst. Was sich da in meiner kindlichen Seele abspielte, sollte der Beginn eines jahrelangen, oft verzweifelten Kampfes mit der Wissensvermittlung an deutschen Schulen werden. Der in Aussicht gestellte Hütewechsel vom Schwein zur Gans ließen die Zukunftsperspektiven in einem freundlicheren Licht erscheinen. Kurzfristig erschien diese Berufswahl sogar verlockend. Vorausgesetzt sie wäre mit dem umgehenden Einstellen des Spazierstockmalens verbunden. Es war einer jener Augenblicke, in denen sich die Mutter, wie später noch so oft, den in Russland liegenden Vater herbeiwünschte …
Zurückgekehrt zur Schiefertafel steckte alsbald der ältere Bruder seinen Kopf über die Schulter: „Na Bruderherz, wo steckt dein Problem?“ Dankbar wurde das in der Frage schwingende Mitgefühl registriert. Unter herzerweichendem Schluchzen erfolgte Aufklärung. Der Bruder lachte schallend: „Du Rindvieh, dreh doch die Tafel einfach auf den Kopf! Dann malst du wieder aufrecht stehende Spazierstöcke.“ Gibt es ein besseres Beispiel für Intelligenz? Dies wurde von der Mutter, die Zeuge der Unterweisung geworden war, keineswegs honoriert. Es folgte ein ordentliches Donnerwetter und kühlte die Bereitschaft zur Hilfestellung bei den Hausaufgaben des kleinen Bruders nachhaltig ab.
Rechts neben dem Fenster im Erker des Esszimmers stand eine für damalige Verhältnisse prachtvolle Kombination von Radio, Plattenspieler und Plattenschrank. Hier lauschten die Kinder einer ihrer Lieblingsplatten: „Die Liebe der Matrosen“, zu deren Melodie die älteren Geschwister anlässlich sich jährlich wiederholender Kürbisfeste – so eine Art Halloween – ausgelassen mit ihren Freundinnen und Freunden durch die Wohnung tanzten. Die Zimmer waren mit ausgehöhlten Kürbissen und den darin geschnitzten Gesichtern magisch von dahinter brennenden Kerzen beleuchtet. Sie gaben diesen Veranstaltungen einen für mich immer leicht gruseligen Anstrich. Unvergessen mit dem Plattenspieler verbunden der Beginn von Beethovens Violinkonzert, das der Vater besonders liebte. Davon galt es, insgesamt sechs Platten – Marke Electrola, „his master’s voice“ – beidseitig abzuspielen, um das ganze Konzert zu hören. Da dies meist abends geschah, hörte ich immer nur den Anfang. Erste zaghafte Schritte Richtung klassischer Musik. Sie klang in den Ohren noch recht fremd, aber keineswegs unangenehm.
Rechts von diesem Wunderwerk der Technik näherte man sich der Längsseite des Esstischs, für mich auch ein Ort ungeliebter Spinatfütterung. Ein Kommafehler bei der Berechnung seines Eisengehaltes Ende des 19. Jahrhunderts an der Universität Freiburg katapultierte dieses Grünzeug, völlig unbegründet, in die Spitzenklasse eines Schwermetallspenders. Darunter hatten dann ganze Generationen von Kindern zu leiden, die dieses Gemüse ebenso verabscheuten wie Vaters Jüngster. Nur weil dieser kleine, aber schwerwiegende Berechnungsfehler treu und brav von allen Lehrbuchautoren, ungeprüft abgeschrieben, übernommen wurde. Eine Doktorarbeit, an der Alma Mater Tubingensis, korrigierte gute 60 Jahre später diesen Irrtum. Die Kinder dieser Welt müssten diesem Doktoranden ein Denkmal setzen … Ich erledigte das auf meine Weise: Das ungeliebte Grünzeug wurde im Rahmen meiner fürsorglichen Fütterung in beiden Backentaschen gespeichert, bis der in der Mundhöhle sich entwickelnde Druck, entsprechend meinem physikalischen Feingefühl, groß genug war, um sich samt Inhalt explosionsartig in Richtung Esszimmerwand zu entleeren. Das danach sich an der Wand in hoffnungsvollem Grün abzeichnende „Gemälde“ war sozusagen mein Beitrag zu diesem Denkmal. Ich war damit der Zeit wieder einmal einen Schritt voraus. Mit diesem Protest in Kinderstuben aber keineswegs allein …
Vom Esszimmer führte eine meist nicht verschlossene Schiebetür in das sogenannte „Damenzimmer“, mit in pastellfarbenem Stoff bezogener Sitzgruppe. Darüber, farblich gut miteinander harmonierend, ein Bild vom Matterhorn. Die Möbel waren im Biedermeierstil gefertigte, sündhaft teure Unikate. Vor der Fensterfront zum Garten ein dekorativer Schalenbrunnen aus Marmor. Rechts des Brunnens stand am Heiligen Abend der Weihnachtsbaum. Geschmückt mit Wachskerzen, vielen kleinen bunten Engels- und Zwergfiguren, Strohsternen und einem großen Abschlussstern an der Baumspitze. Für uns Kinder besonders wichtig: Kringel aus Schokolade und Fondant. Sie wurden, nur unter Aufsicht eines Elternteils und erst einige Tage nach Heiligabend, zur Plünderung „schaumgebremst“ freigegeben. Vorausgesetzt, die mit Süßigkeiten gefüllten Weihnachtsteller wiesen bereits Ebbe auf.
Am Weihnachtsabend durften wir Kinder das Zimmer erst betreten, wenn ein Klingelton signalisierte, dass die Kerzen am Baum brannten und die „himmlischen Heerscharen“ den Raum verlassen hatten. Gemeinsam wurde „Oh du fröhliche …“ gesungen. Vater las stehend neben dem Baum die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium. Nach „Stille Nacht …“ stürzten wir uns auf die liebevoll von den Eltern ausgewählten Geschenke unter dem Baum. Sie wiesen – welch ein Wunder! – meist erstaunliche Übereinstimmung mit dem zuvor an den Weihnachtsmann adressierten Wunschzettel auf. Es folgte das Abendessen, bei dem es, nach Ostpreußischer Tradition, Heringssalat mit Apfelstückchen, Fleischbrühe und Speckkuchen gab.
Neben dem Ausgang zur Gartenterrasse lag links das „Herrenzimmer“. Über dessen offenem Kamin hing die Laute des Vaters. Nur noch sehr verschwommen die Erinnerung an die Volkslieder und die zur Weihnachtszeit vor dem munter flackernden Kaminfeuer gesungenen Lieder. Gegenüber dem Kamin die dem Garten zugewandte Fensterfront mit sehr tief nach unten gezogenem großen Fenster und einer mit Marmorplatte abgedeckten Bank. Sie bot Platz für verschiedenste Topfpflanzen.
Diese blumenbestückte Fensterbank hatte schon in frühen Jahren mein Interesse geweckt. Vor einem Spaziergang der Eltern hatten sie den kleinen Mann, angegurtet im offenen Sportwagen in, wie sie meinten, sicherer Entfernung vor den Blumen „geparkt“. Der Jüngste langweilte sich und dirigierte mit schaukelnden Bewegungen des Oberkörpers das Gefährt zielsicher in Richtung Blumenbank. Dort angekommen wurde unverzüglich, zwecks Befriedigung naturwissenschaftlichen Entdeckerdrangs, der erste Blumentopf vom Fensterbrett geangelt und fest zwischen die Beinchen gepresst. Genauere Einblicke in den Aufbau von Pflanzen erfordert deren Zerlegung. Wie beim Studium der Botanik an jeder Universität noch heutzutage beherzigt. Selbst ohne zuvor in diese wissenschaftlichen Weihen unterwiesen, zeigte ich geradezu frühreifen Forscherdrang. Dem fiel zunächst ein Usambaraveilchen zum Opfer. Nach dessen fachgerechter Entlaubung galt es, die bunten Blütenblätter einer Kostprobe zu unterziehen, die diese Gaumenprobe offensichtlich bestanden. Es konnte schon bald Totalverlust registriert werden. Das Blattgrün erwies sich allerdings als resistent und füllte binnen Kurzem beide Backentaschen. Via Hamster wird eine bescheidene erste Brücke zur Zoologie erkennbar. Der Wissenschaft nicht würdig, wer sich, nach derlei dürftigen Anfangserfolgen, durch solche Petitessen auf dem Weg zur Vermehrung weiterer Einsichten in das Naturgeschehen aufhalten ließe. Was seine Schuldigkeit getan, darf hinter sich gelassen werden: Der hartleibig in der Blumenerde verbliebene Stängel wird, samt Topf, mit kühnem Schwung – ex und hopp – aus dem Wagen befördert und damit entsorgt. Nicht jede zusätzliche Horizonterweiterung ist zwangsweise schmerzfrei. Bei dem nun folgenden Objekt der Begierde handelte es sich um einen stachelbewehrten Kaktus. Der Wunsch nach innigerem Kontakt wird, da äußerst schmerzhaft, jäh beendet. Wer sich derart undankbar erweist, verdient keine genauere Begutachtung und folgt, unbesehen kurzer Hand, dem Weg des entlaubten Usambaraveilchens. Die Fixierung von Topf Nummer drei zwischen den Beinchen wird von der Ankunft der Eltern jäh unterbrochen. Mit sicherem Griff entleert der Vater beide Backentaschen des frühreifen Naturforschers und bringt damit das pausbäckige Kindergesicht wieder auf Normalmaß. Diffiziler gestaltet sich die Frage, wie gesundheitsschädlich erweist sich möglicherweise solch ungebremster Forscherdrang? Umgehend beim Apotheker telefonisch eingeholter Rat bremst unangebrachte Panik. Gleichzeitig die Empfehlung einer Reduktion des Mageninhalts durch tief in den Rachen eingeführten Finger. Außerdem weitere Wachsamkeit im Sinne genauerer Beobachtung bezüglich eventueller Auffälligkeiten in den nächsten Tagen. Eine Inspektion des Mageninhalts signalisierte beruhigende Entwarnung: Ich hatte uneingeschränkt dem Hamstereffekt den Vorzug gegeben. Die zusätzliche fürsorgliche elterliche Zuwendung wurde wohltuend registriert.
Im Reich des Vaters – der Praxis eines Landarztes Tücken kindlicher Anpassung
Vorbei an der Patiententoilette der Zugang zum Wartezimmer, dem sich rechter Hand ein Sprech- und ein Behandlungszimmer anschlossen. Hier entfernte der Vater an meinem linken Daumen im zarten Alter von zwei Jahren einen kleinen Knorpel in der Strecksehne. Eine winzige Narbe erinnert noch heute an den kleinen Eingriff. Die Arme der Mutter hielten mich, auf ihrem Schoß sitzend, eng umschlungen. Ängstlich bemüht, mein Gesicht vom Ort des Geschehens abzuwenden. Ich reagierte mit heftiger Gegenwehr, einschließlich lautem Gebrüll. Der Vater plädierte für mehr Transparenz, die dem Opfer durch Einblick zu gewähren sei. Sieh da: Die kleine Operation nahm den Sohn so gefangen, dass er keinen Mucks mehr von sich gab – frühe Faszination für einen spannenden Beruf.
Nicht minder aufregend das im Nebenraum installierte Röntgengerät. Gelegentlich erlaubte der Vater bei eingeschalteter Röntgenröhre die Hand hinter den Bildschirm zu halten. Das ergab einen freien Blick auf die vom Fleisch befreiten, gruselig aussehenden Fingerknöchelchen, die sich beim Schließen und Öffnen der Hand magisch vor dem Bildschirm hin und her bewegten. Mit solch einem Zauberapparat täglich umgehen zu dürfen, beflügelte den frühen Wunsch des Sohnes, einmal in die beruflichen Fußstapfen des Vaters zu treten. Außerdem suggerierte das werktäglich stets gut gefüllte Wartezimmer, dass der Vater nicht zur Arbeit gehen musste, sondern diese zu ihm kam. Ein Umstand, der im krassen Gegensatz zu den väterlichen Berufen meiner Spielkameraden zutage trat. Solch feine Beobachtung klammerte allerdings die Tatsache notwendiger Hausbesuche, selbst zu nachtschlafender Zeit, großzügig aus. Aber instinktiv ahnte ich, dass dieses Privileg etwas mit dem mir später als Erwachsenen geläufigen Begriff „Sozialprestige“ zu tun haben könnte. Also kein Wunder, dass ich auf die Frage: „Was willst du denn später einmal werden?“ wie aus der Pistole geschossen verkündete: „Arzt wie mein Vati!“ Als meine Patentante, Frau Amela Unger, eine altehrwürdige Dame, die sich um den Aufbau des Roten Kreuzes in Schlesien große Verdienste erworben hatte, sich mit diesem Berufswunsch ihres Patenkindes konfrontiert sah, legte sie gerührt die Hand auf meinen Kopf und meinte: „Das ist aber schön, dass du den kranken Menschen gerne helfen möchtest, wieder gesund zu werden!“ Derlei Fehlinterpretation löste energisches Kopfschütteln aus: „Nein, ich will das werden, weil die Menschen da zu mir kommen müssen und nicht umgekehrt!“ Die Reaktion auf so viel ungebremste Ehrlichkeit war eindeutig: Die eben noch huldvoll auf dem Kopf ruhende Hand entfernte sich blitzartig. Es folgte eine etwas peinliche Stille. Ich ahnte instinktiv: Da ist was schiefgelaufen.
Meine Kinderseele bewegten, fern jeglichen Marketings des eigenen Egos, andere Probleme. Schon früh bekam ich wie die Geschwister, ein Sparschwein. Wöchentlich mit zehn Reichspfennigen durch die Eltern gefüttert. Für ein Kind, das eigentlich nichts zu entbehren hatte, kein Grund zur Unzufriedenheit – sollte man meinen. Wäre da nicht Armin gewesen, der glatt das Doppelte bekam! Dies erschien mir in Anbetracht der offen zutage liegenden höchst unterschiedlichen finanziellen Grundvoraussetzungen beider Haushalte als Gipfel der Ungerechtigkeit. In schöner Regelmäßigkeit brach am Sonnabend erneut diese schmerzhafte Wunde auf. Galt es doch an diesem Tag zu entscheiden, ob man mit Armin gemeinsam zum Bäcker Schulz in der Lorenzstraße pilgerte, um dort sein wöchentliches Sparschweindeputat gegen ein Stück Zuckerkuchen einzutauschen oder sollte es mein Schweinchen mästen? Stolz verkündete Armin dann, dass ihm derlei Skrupel fremd sind: Zehn Pfennig für den Zuckerkuchen und zehn Pfennig für das Sparschwein, lautete sein Verteilungsschlüssel. Meine Bemühungen, ähnlichen Standard zu erreichen, waren gleichermaßen zahlreich wie vergeblich. Es war Bestandteil des Erziehungsprogramms, hier kein sowohl als auch zu ermöglichen, sondern ein entweder oder zu fordern. So wurde ein Entscheidungsmuster eingeübt, das zukünftig zu erwartenden Konfliktsituationen eher entsprach, da sie auf finanzielle Sparflamme ausgerichtet waren. Derlei höchst vernünftige erzieherische Überlegungen überforderten natürlich meine kindliche Einsicht. Die zehn Reichspfennige von damals sind heute die Designerklamotten. Nur das Niveau hat sich geändert, die grundsätzliche Problematik ist uns treu geblieben.
Letzte Jahre in Schlesien
Meine Erinnerungen an den Vater sind ähnlich blass wie das Zusammenleben mit den Geschwistern zu Freystädter Zeiten. Beim Vater liegt das daran, dass ich ihn leider viel zu selten bewusst erleben durfte. Die Ausfahrten im Sportcabrio kenne ich nur von Fotografien. Neben dem Vater, gut eingepackt in den Armen der Mutter. Zuletzt besaß der Vater einen DKW, mit dem er einmal bergab mit Rückenwind stolze 80 Stundenkilometer auf den Tacho zauberte. Damit wurden Ausflüge nach Neusalz, Glogau und Sagan unternommen. Ich erinnere mich nur noch an intensiv nach Teer duftende Kähne, die bei Neusalz am Ufer der Oder festgezurrt, still vor sich hin dümpelten. Das familiäre Drumherum ist verschüttet. Ebenso gelegentliche Besuche bei der Konditorei Hanke am Marktplatz in Freystadt. Neben dieser Konditorei existierte ein Friseursalon, den die Mutter in regelmäßigen Abständen zur Erneuerung ihrer Dauerwelle aufsuchte und dabei von mir, zwecks Reduzierung der eigenen Haarpracht, begleitet wurde. Die eigene Schur gestaltete sich kurz und schmerzlos. Die Mutter saß dagegen eine gefühlte Ewigkeit unter der Haube. Ich vertrieb mir währenddessen die Zeit vor dem Laden, indem ich mit schwingenden Armen und lautem Zischen Lokomotive spielte. Als im Winter bei Kälte mit jedem Zischlaut Dampf aus dem Mund strömte, war ich davon so begeistert, dass der Berufswunsch für kurze Zeit vom Arzt zum Lokomotivführer wechselte. Man sollte sich mit der Realisierung seiner Berufswünsche Zeit lassen.
Nur aus Schilderungen der Mutter – von den Geschwistern bestätigt – erfuhr ich, dass man den Jüngsten gerne bezüglich seiner Strapazierfähigkeit auf die Probe stellte. Im Sportwagen angegurtet bot die Kurve beim Übergang von der Hesse- in die Lorenzstraße das richtige Terrain zur Erprobung des „Elchtestes“, den der Sportwagen nicht bestand, der kleine Bruder aber unbeschadet über sich ergehen ließ. Auch die Fahrt mit demselben Vehikel die steile Bodentreppe hinab verlief ohne ernsthaftere Blessuren.
Es herrschte eine wohltuende kindliche Sorglosigkeit, die z. B. den älteren Bruder dazu ermunterte, bei seiner jüngeren Schwester als Figaro tätig zu werden. Mit kühnem Schnitt ging er der weiblichen Lockenpracht zu Leibe – das Schwesterchen trug einige Wochen eine recht futuristische Frisur …Zur Weihnachtszeit hatte das Krippenspiel Konjunktur: Unter der Bettdecke leuchtete der ältere Bruder mit der Taschenlampe auf die Geschwister herab und rief nicht ohne Pathos: „Siehe, ich verkündige euch große Freude!“ Die Freude war etwas einseitig, als die Mutter dahinterkam. Eigentlich hätten die Kinder zu dieser Zeit längst schlafen sollen.
Wie alte Fotografien zeigen, hat der Vater wohl sehr liebevoll mit den beiden älteren Geschwistern gespielt, ich war dafür einfach noch zu klein. Mein Vater geriet zur Konkurrenz, wenn er für kurze Zeit von der Front auf Heimaturlaub nach Hause kam. Dann fiel das nachmittägliche Spielen mit der Mutter aus, weil sich – für mich völlig unverständlich! – die Eltern nach dem Mittagessen zu Bett begeben wollten. Als ich dann hinter verschlossener Schlafzimmertür geradezu beängstigende, sehr ungewöhnliche Geräusche vernahm, war meine Geduld erschöpft: Wütend trommelte ich mit den kleinen Fäusten gegen die Tür und forderte Einlass. Es gibt Dinge, für die sich der Sohn noch heute gerne bei seinen Eltern entschuldigen würde …
Auch die Begleitung des Vaters durch das kleine Städtchen anlässlich eines Heimaturlaubs, blieb in keiner guten Erinnerung. Er trug zwar eine ungemein schicke Uniform, die er aber mit solch raumgreifenden Schritten spazieren führte, dass ich kaum zu folgen vermochte. Dieser Dauerlauf wurde immer wieder durch zeitraubende Gespräche mit irgendwelchen Bekannten unterbrochen, wobei man sich sehr angelegentlich nach dem jeweiligen Befinden erkundigte. Dies war wiederum für den Sohnemann geradezu ätzend langweilig. Weil er das sehr deutlich zu erkennen gab, konnte der Vater noch nicht einmal mit einem gut erzogenen Sprössling glänzen. Nein, die Beziehung zwischen Vater und seinem Jüngsten war nicht gerade das, was man als Erfolgsgeschichte bezeichnen würde. Die Verhältnisse, sie waren halt nicht so …
Die Schatten des Krieges
„Homo homini lupus.“
Titus Maccius Plautus (ca. 254 – 184 v. Chr.) Nach der Übersetzung von Artur Brückmann: „Denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch. Das gilt zum mindesten solange als man sich nicht kennt.“
Ich war gerade fünf Jahre alt, als die Nachricht eintraf, dass der Vater in Russland „auf dem Feld der Ehre gefallen“ war, wie das damals so betulich heroisch formuliert wurde. „Dulce et decorum est pro patria mori …“ („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“). Auch ihm hatte man das sicher Jahre zuvor im Gymnasium vordeklamiert. Es hätte mich später einmal brennend interessiert, was der Vater von diesem Schwachsinn gehalten hat. Kurz zuvor war Gisela Hallup, die Sprechstundenhilfe, noch zu nächtlicher Stunde in Freystadt durch das Haus getanzt und jubelte: „Kiew ist gefallen!“ Ich konnte diesen Jubel nicht nachvollziehen. Daran hat sich bis in die Gegenwart nicht das Geringste geändert …
Auch der letzte Feldpostbrief des Vaters ist noch erhalten. Hier ein Auszug:
„Liebe Lydia! Wir stehen im Rücken der ukrainischen Hauptstadt und greifen heute an. Nach einem Tagesbefehl des Generals Reichenau steht die russische Südfront vor dem Zusammenbruch. Ein schöner klarer Herbsttag bricht an, die Nebel sind gesunken, heute früh ein kaltes Hühnchen verzehrt, das nächste Quartier heißt wohl für 8 bis 10 Tage wieder Erdloch. Wenn Du diesen Brief hast, dann ist Kiew bestimmt schon genommen und unsere Truppen vielleicht schon am Don. Es scheint hier wohl vor dem Winter schon Schluss zu werden, viele herzliche Grüße an Dich, Liebste, an Ernst-Johann und Mäuschen und Wölfi – eben war Fliegeralarm – ist schon vorbei! In Treue und Liebe Dein Hellmut. 22.9. Es geht mir gut. Viele Grüße aus Kämpfen südöstlich von Kiew. Hellmut“
Stunden später für ihn das Erdloch, nicht für 8 bis 10 Tage – ein Erdloch für die Ewigkeit …
Trotz des dünnen Eises, auf dem sich die Beziehung zwischen Vater und Sohn bewegte, ist mir bis auf den heutigen Tag kaum nachvollziehbar, warum mich der Tod des Vaters innerlich so wenig berührt hat, dass ich mich geradezu dafür schäme. Dieser Tod war damals, wie in späteren Jahren, nur deshalb schmerzlich präsent, weil es einfach unübersehbar war, wie sehr die Mutter unter diesem Verlust litt. Unendlich schwerer geriet ihr Leben in den Nachkriegswirren als Flüchtling und Sozialhilfeempfängerin mit drei Kindern ohne den starken Mann an ihrer Seite. Noch heute steht das entsetzte Gesicht von Armins Eltern vor mir, als ich ihnen, wie beiläufig, vom Tod meines Vaters berichtete. Armins Mutter schüttelte ungläubig den Kopf: „Mein Gott, der Junge weiß noch gar nicht, was das für ihn bedeutet!“, platzte es aus ihr heraus. Mutter und Gisel schlichen tagelang weinend durch das Haus. Es bedrückte furchtbar. Der ältere Bruder ging mit seinen 14 Jahren auf die Mutter zu und versuchte zu trösten: Ab sofort werde er an Vaters Stelle treten und für die Familie sorgen! Wie rührend diese kindliche Fürsorglichkeit des älteren Bruders. Ausdruck bemühter Ernsthaftigkeit in schon sehr jungen Jahren. Ein Spiegel höchst unterschiedlicher Wesensart der Brüder: Mir wäre selbst in weit fortgeschrittenem Alter so viel Verantwortungsbewusstsein nicht in den Sinn gekommen. Zwei Jahre später wurde der Bruder als Flakhelfer nach Breslau abkommandiert. Wie auf alten Bildern dokumentiert, ein schmächtiges kleines Bürschchen, dem das Kind noch aus allen Knopflöchern schaute. Ich habe ihn zusammen mit der Mutter dort in Kraftborn bei Breslau besucht. Die Flakgeschütze haben schon sehr beeindruckt. Ursprünglich hätte sich der Bruder zur Waffen-SS melden sollen. Irgendwie war es gelungen, dies zu umgehen.

Zu dieser Zeit setzte die Kinderverschickung ein, mit der man Kinder aus den bombardierten Rüstungszentren im Ruhrgebiet in ländliche Regionen verfrachtete. Man wähnte sie dort sicherer untergebracht. So marschierte man eines Tages auf den kleinen Freystädter Bahnhof, um eine Schar von Kindern in Augenschein zu nehmen, die dort etwas verlassen auf dem Bahnsteig herumstanden und darauf warteten, von einer Freystädter Familie auf Zeit „adoptiert“ zu werden. Das Ganze erinnerte bedrückend an eine Art Sklavenmarkt. Unvergessen ein kleiner Junge, der einen Spielbaukasten in die Höhe hob: Seht her, wer mich nimmt, der kriegt den Baukasten gratis frei Haus! Beim Blick zurück wird deutlich: Zum ersten Mal entstanden Risse in meiner bisher so heilen kleinen Welt.
Lustiger ein Spektakel, das sich zu gleicher Zeit vor den Toren des Städtchens ankündigte. Nach vorab durch Lautsprecherwagen bekannt gemachtem Event pilgerte man zu einer grünen Wiese, auf der ein Galgen errichtet war, an dem eine mit Phosphor gefüllte Stabbombe baumelte. Die Feuerwehr war aufgefahren, aus dem Lautsprecher klang fröhliche Musik: „Am Abend auf der Heide, da küssten wir uns beide …“ Trotz der Absperrung, die das erwartungsvolle Publikum in gebührendem Abstand hielt, kam so etwas wie Volksfeststimmung auf. Nach einem Hornsignal löste sich die Stabbombe vom Galgen und landete ohne sonderlich spektakulärem Knall auf dem Boden. Aber es brannte wenigstens ein bescheidenes Feuerchen. Dies war das Signal für die Feuerwehr, in Aktion zu treten. Begleitend von erklärenden Worten aus dem Lautsprecher wurden die nutzlosen Löschversuche mit Wasser demonstriert. Anschauungsmaterial für die „Hinterlist des Feindes, der solch diabolisches Machwerk zum Einsatz bringt, um scheinbar hilflose Bürger umzubringen“, so schallte es über die Wiese. Aber eben nur scheinbar hilflos: Der deutsche Volksgenosse ist clever und weiß sich zu wehren, mit einigen Schaufeln Sand wird dem Spuk ein Ende bereitet. Mit dieser Botschaft: Seht her, der Krieg ist gar nicht so gefährlich, wurde man wieder in seine wohligen vier Wände nach Hause entlassen. Dies allerdings nicht ohne den mahnenden Hinweis, dass ab sofort in jedem Haus ein Sack Sand nebst Schaufel jederzeit griffbereit zur Verfügung stehen müsse. Jahre später mit den verwüsteten deutschen Städten konfrontiert, in denen beim Bombardement im Feuersturm zigtausend Menschen einen qualvollen Tod starben, tauchte immer wieder jener Abend auf der Wiese mit dem Galgen aus der Versenkung. Die damals als Happening inszenierte „Aufklärung“ erhielt einen kaum zu überbietenden bitteren Beigeschmack. Der Realität angemessen: Einzigder Galgen …