- -
- 100%
- +
Provisorien, laut Stresemann durch besondere Langlebigkeit charakterisiert, dominierten das Zeitgeschehen. Es galt nicht nur für Besiegte. Auch Sieger mussten sich damit auseinandersetzen. Als provisorisch entpuppte sich zum Beispiel auch der Einzug des französischen Militärs in die Funker-Kaserne, die sie schon vor Monaten in Beschlag genommen hatten. Eines Nachmittags fuhren amerikanische Armeefahrzeuge vor die Kaserne, denen der Einlass verwehrt wurde – die Schranke blieb geschlossen. Gespannt harrte ich mit Spielkameraden der Dinge, die da kommen sollten. Es entwickelten sich allerlei diplomatische Aktivitäten. Französische und amerikanische Offiziere redeten heftig gestikulierend aufeinander ein. Die Amerikaner bemühten ihr Feldtelefon, offensichtlich mit dem Ziel, sich höheren Orts bezüglich des weiteren Procedere abzustimmen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Der amerikanische Konvoi zog sich um einige Meter zurück. Sandsäcke wurden aus den Lastkraftwagen abgeladen, zu einer Barrikade aufgeschichtet und einige Geschütze dahinter in Stellung gebracht – Zielrichtung Kaserne. Die Kinderschar hielt es jetzt für angemessen, den Rückzug anzutreten. Zwar nicht restlos, dafür war die Angelegenheit viel zu spannend. Aber doch in einen zurückliegenden Garten, aus dem der weitere Verlauf beobachtet werden konnte. Die Geschütze waren offensichtlich zunächst nur als Drohgebärde gedacht, sie wurden wohl noch nicht einmal geladen, verfehlten aber doch nicht ihre Wirkung. Nach ungefähr einer halben Stunde, die wie eine Ewigkeit vorkam, erschienen am Kasernentor einige französische Offiziere in schicken Uniformen mit ordensgeschmückter Brust und einer weißen Fahne. Die amerikanischen Offiziere beschränkten sich auf schlichtes Olivgrün, verzichteten auch auf jegliche Fahne und traten erneut in Verhandlungen ein, die jetzt aber sehr kurz ausfielen. Die Franzosen gewährten Einlass und räumten am Tag danach sang- und klanglos das Feld. So alliiert, wie es das Wort vorgibt, waren die Alliierten wohl doch nicht. Zumindest gab es vereinzelt Schnittstellen, die Irritationen hervorriefen, wie das Gesehene zeigt.
Kurz darauf begannen die Amerikaner Wohnungen für ihre Offiziere in der Flandernstraße zu requirieren. Ihr Vorgehen war nicht gerade zimperlich. Sie klingelten auch am Haus der Großmutter, murmelten Unverständliches in ihren nicht vorhandenen Bart, schoben die Bewohner einfach zur Seite und stapften durch das ganze Haus. Es missfiel offensichtlich das fehlende Bad, weshalb sie wortlos wieder abzogen. In Krisenzeiten kann eine bescheidene Raumausstattung ungeahnten Vorteil bedeuten. Gegenüber wohnenden Nachbarn ging es weniger gut: Zwei Häuser mussten innerhalb vierundzwanzig Stunden geräumt werden. Den Herren Siegern war schnuppe, wo die Besiegten Unterschlupf finden. In eines der Häuser durften die Besitzer nach zwei Jahren wieder einziehen, das andere blieb länger beschlagnahmt. In ihm wohnte noch viele Jahre ein amerikanischer Offizier mit Weib und zahlreicher Kinderschar. Letzteren bereitete es besonderes Vergnügen, das Autodach des Vaters zu erklimmen und als Trampolin umzufunktionieren. Das Blech bog sich wie eine zusammengedrückte Schuhcremedose und schnellte mit metallischem Klirren wieder nach oben. Die Kinderseele jauchzte. Alle vier Wochen rückte der Vater dem Haarwuchs seiner Söhne zu Leibe. Er bediente sich eines Maschinchens, das in wenigen Minuten Kind für Kind zu einer Glatze verhalf. Je nach Wetterlage fand die Schur vor der Haustüre oder in der Wohnung statt. Amerika präsentierte sich nicht als Hort besonders gepflegter Konventionen. Aber es beeindruckte doch ein Stück weit durch viel ungeniert offen zur Schau gestelltes Selbstverständnis.
Die Segnungen des Marshallplanes sollten erst später ihre Wirkung entfalten. So auch die nach Herrn Hoover benannte Schulspeisung. Wie der Name sagt, bedurfte es zur Erlangung solcher Köstlichkeit des Schulbesuchs. Der führte in die am Marktplatz gelegene Esslinger Waisenhofschule. Sie konnte von zuhause über die Beutauklinge oder, etwas romantischer mit kleinem Umweg, über die Burg erreicht werden. Weglänge ca. 2 km bergab auf dem Hinweg. Der Rückweg geriet bergauf etwas zeitaufwendiger. Neben dem Tornister mit Schiefertafel – Papier war zunächst noch Mangelware – und einigen zerfledderten Lehrbüchern aus der Kriegszeit, gehörte im Winter die Spende von einem Brikett oder ähnlich Brennbarem pro Schüler zur Wegbegleitung. Letzteres blieb mangels Masse oft nur ein frommer Wunsch. Schließlich fror man in den eigenen vier Wänden schon erbärmlich. Mein Beitrag bestand schwerpunktmäßig im Einsammeln von nachts abgebrochenen Zweigen auf dem Weg zur Schule. Bei Schnee und Regen das richtige Substrat, um dem gusseisernen Koloss im Klassenzimmer statt Wärme gewaltige Rauchschwaden zu entlocken. Zumal die Heizungsspenden der Schulkameraden qualitativ ähnlich dürftig ausfielen. Bei Sonnenschein und klirrender Kälte sorgte die über dem Schornstein geringfügig erhöhte Wärme, dass der Ofen auch da nicht ziehen wollte. Sozusagen angewandte Physik in Sachen Thermik und deren Einfluss auf die Ausdehnung von Gasen. Die kleinen Wölkchen ausgeatmeter Luft verschwanden in den gewaltigen, dem Ofen entweichenden Rauchwolken. Alsbald tränten die Augen, setzten Hustenattacken ein. Im Eiltempo aufgerissene Fenster verhinderten eventuelle Evakuierungsmaßnahmen. Man war nicht verwöhnt und zitterte sich warm. Dabei half die drangvolle Enge von über 40 Kindern in dem kleinen Klassenzimmer. Der sich dabei langsam entwickelnde Mief trug zu wohlig allumfassendem Gemeinschaftsgefühl bei. In der großen Pause stürmte die hungrige Meute, das mitgebrachte Essgeschirr unter dem Arm, zu den Futtertrögen im Schulhof. Eine wahrhaft segensreiche Spende aus Amerika, die sich mit dem Namen „Hoover’sche Schulspeisung“ einen unauslöschlichen Ehrenplatz in uns Kindern eroberte. Klassenweise geduldig eine Schlange bildend, sah man erwartungsvoll den Köstlichkeiten entgegen, die jeder portionsweise zugeteilt erhielt. In der Hoffnung, eventuell einen Nachschlag zu ergattern, stellte man sich, fleißig aus dem Napf löffelnd, umgehend hinten wieder an. Der Speisezettel war nicht sehr abwechslungsreich: Erbsensuppe, Reispampe, Haferflockenbrei mit Kakao, sowie eine atemberaubende Kombination von einem Stück fetten Speck mit einer Dampfnudel und einer süßsäuerlichen lila Soße. Deren Farbe hätte jedem Kreuz auf der Fahne eines Kirchentages zur Ehre gereicht. Alles schmeckte herrlich, und wer glücklicher Besitzer eines Kochgeschirrs aus alten Heeresbeständen war, brachte vom eventuellen Nachschlag noch eine Kleinigkeit mit nach Hause.
Es war eben alles ein wenig ärmlich, aber die Masse der Habenichtse von wohltuender Homogenität. Diese Einheit in Armut war friedensstiftend. Der Blick zum Nachbarn ließ keinen Neid aufkommen. Nur einmal im Winter beim Schlittenfahren unterhalb des Waisenhauses fühlte ich mich etwas verlassen und ausgegrenzt. Niemand war bereit, mich wenigstens einmal den Berg runterrutschen zu lassen. Ein lächerlich kindlicher Schmerz. Und doch, 60 Jahre später, immer noch erstaunlich gegenwärtig.
Schwimmen, die andere spielerische Form der Fortbewegung, lag der Mutter bei ihrem Sohn besonders am Herzen. Fünf Reichsmark wurden in einen Kurs investiert. Nun schwebte der Adlatus im Merkel’schen Schwimmbad beim Bademeister an der Angel. Anfänglich noch mit Schwimmflügeln legte man sich mit dem Bauch auf dem von der Angel getragenen Gurt und erlebte überrascht, wie die sinnvolle Koordinierung von Arm- und Beinbewegungen, begleitet von vernünftiger Atemtechnik, zu angenehm dahingleitender Vorwärtsbewegung führte – fern von hastig nach Luft japsender Zappelei. Die Luft entwich langsam den immer schmalbrüstiger werdenden Schwimmflügeln, bis sie völlig überflüssig wurden. Der Gurt unter dem Bauch hing nicht mehr so straff an der Angel, und nach wenigen Übungsstunden reichte es, wenn sich der Bademeister irgendwo in Sichtweite aufhielt. Selten haben sich fünf Reichsmark als so segensreiche Investition erwiesen. Was wären all die späteren Ferienerlebnisse ohne ihr schwimmendes Badevergnügen gewesen?!
Meine Geschwister sollten das Gymnasium besuchen. Die höheren Lehranstalten waren jedoch 1946/47 in Esslingen noch nicht so richtig in Schwung geraten. So landeten sie auf der Schwäbischen Alb in einem Internat in Urspring, nicht weit von Schelklingen bzw. Blaubeuren und Ulm entfernt, damals in der französisch besetzten Zone gelegen. Zu häuslichen Besuchen in Esslingen war ein Passierschein erforderlich, den zu erlangen es einiger bürokratischer Klimmzüge bedurfte. Grund genug die Grenzüberschreitung, manchmal auch bei Nacht, heimlich still und leise, ohne Passierschein zu bewerkstelligen.
Bei einem Ferienaufenthalt in Esslingen gelang es dem Bruder, im hinteren Teil des Gartens einen Hühnerstall zu errichten. Das dazugehörige Federvieh wusste, was sich gehörte: Die Hennen legten fleißig Eier, die Hähne landeten im Kochtopf. So sorgte jedes Tier auf seine Weise für die dringend benötigte Eiweißzufuhr. Dennoch, wie schon beschrieben, die Folgen der Mangelernährung waren unübersehbar. Ich absolvierte innerhalb weniger Monate die schon beschriebene Rallye durch fast alle gängigen Kinderkrankheiten. Der Hausarzt beantragte eine Kindererholungskur im Otto-Hofmeister-Haus auf der Schwäbischen Alb. An diese wohlmeinende Initiative knüpfen sich allerdings keine erfreulichen Erinnerungen. Die für das leibliche Wohl zuständigen Rotkreuzschwestern ließen mit hartnäckiger Regelmäßigkeit jeden Morgen, den Gott werden ließ, eine aus dünner Magermilch gefertigte Milchsuppe anbrennen. Deren Produkt waberte ganztägig durch die lieblos kasernenähnlichen Räume. Zusätzlich plagte mich nicht ganz Elfjährigen ein kaum zu stillendes Heimweh. Es mündete, zu meinem Entsetzen, in nächtliches Bettnässen. Um die Blamage zu vervollständigen, blieb das Malheur in dem großen Schlafsaal nicht verborgen. Zum Schaden gesellte sich somit der Spott, der das Heimweh noch heftiger beflügelte. Zu allem Überfluss lief ich mir auf einer der zahlreichen Waldspaziergänge in den wieder einmal zu eng gewordenen Schuhen auch noch eine Blase an die rechte Großzehe. Sie vereiterte und zog eine mehrtägige Bettruhe nach sich. Während dieser Zwangspause genas ich eines prächtigen Bandwurmes, der sich plötzlich in der Toilettenschüssel fand. Zum Dank für diese Tortur durfte abschließend noch ein möglichst individuell gestalteter Dankesbrief an die Spender dieses „Jugendglücks“ nach Amerika auf den Weg gebracht werden. Ich schrieb mich in einen wahren Dankesrausch. Weder früher noch später konnte ich mich erinnern, einmal so ausdauernd inbrünstig gelogen zu haben.
Nach vierjähriger Volksschulzeit war eine Aufnahmeprüfung für das Gymnasium fällig, die ich auch bestand. Trotzdem empfahl man, noch ein Jahr Volksschule anzuhängen: In den drei Zügen der Sexta herrschte mit je 50 Schülern drangvolle Enge. An einen vierten Zug war wegen Lehrermangels nicht zu denken. Im Herbst 1947 erfolgte dann der Wechsel auf das humanistisch orientierte Georgii-Gymnasium – es sollte für die nächsten Jahre der Beginn eines schmerzlichen Leidensweges werden.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.