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»Und was machst du jetzt?«
»Diese alte Rüttelplatte will einfach nicht mehr anspringen. Ich zerlege sie und in ein paar Tagen werden wir sehen, woran es liegt.«
Schranz war immer noch dankbar, dass die Nachbarn ihm freundschaftlich begegneten. Dies schien ihm nicht selbstverständlich zu sein. Als er von Stuttgart hierher gezogen war, befürchtete er, in einer Art Isolation leben zu müssen. Aber das war nicht der Fall gewesen. Schon von Anfang an hatte er bei Franz die Fußballspiele der Europameisterschaft angeschaut, und er konnte sich jederzeit mit Fragen und Problemen an seine Nachbarn wenden.
»Hast du das heute in der HV gelesen?«
Seit wann las Franz die Tageszeitung? Seine Frau Anne hatte einmal mit einem Augenzwinkern bemerkt, ihr Ehemann würde nur die Bilder angucken. Je bunter desto besser …
»Was denn?«
Die HV bekam Schranz nur dann kostenlos geliefert, wenn einer seiner Artikel darin veröffentlicht worden war. Die anderen Ausgaben hätte er sich kaufen müssen, und dazu war er zu geizig.
»In Zukunft soll der Schweinemarkt viel stärker von der EG aus Brüssel kontrolliert werden. Anscheinend gibt es zu viele Schweine, so wie es ja auch den Milchsee und den Butterberg gibt. Und das soll alles abgebaut werden.«
Schranz dachte bei sich, dass dies die Probleme der Schweinezüchter nicht unbedingt verkleinern würde. Probleme über Probleme, und das in dieser scheinbar heilen Welt.
»Sag mal Franz, hast du schon mal was von einer Wirtschaftsmafia gehört?«
Das braungebrannte Gesicht von Franz zeigte keinerlei Emotionen.
»Weißt du, Chris, das ist eine lange Geschichte. Für mich ist das ja egal, ich habe nur noch ein paar Tiere und bin nicht vom Ertrag und Verkaufswert dieser wenigen Schweine und Rinder abhängig. Aber bei den vielen anderen, den Vollerwerbsbetrieben, da sieht es anders aus.«
»Wer sind diese Leute? Warum nennt man sie so?«
Es kam Schranz fast so vor, als ob sich sein Nachbar umblickte, ob auch wirklich keiner der anderen Anwohner zuhören konnte.
»Komm die nächsten Tage mal abends zu mir. Mein Most mit den Wacholderbeeren müsste dann trinkbar sein.«
Das laute Gebell seines Hirtenhundes Gipsy erinnerte Schranz daran, dass es höchste Zeit war, sich um seinen vierbeinigen Liebling zu kümmern. Er hatte ihn als Baby aus dem Tierheim in Stuttgart geholt, mittlerweile war er ein Jahr alt – ein richtiger schwarzer Wirbelwind.
*
5. September 1983
Die Zeit war verflogen. Schon schien der Sommer zu Ende zu gehen, letzte Nacht hatte das Thermometer nur 5 Grad über null angezeigt.
Schranz war mit den letzten beiden Wochen zufrieden. Er hatte einen allgemeinen Artikel über das SHL verfasst, der einen positiven Leserbrief nach sich gezogen hatte. Ansonsten gab es keine Reaktionen: keine Anrufe und kein Martens, der sich in irgendeiner Art und Weise geäußert hätte.
Das Verhältnis zu seinem Hauptauftraggeber war momentan schwierig. Dank der regelmäßigen Aufträge der HV erreichte Schranz einen Wochenumsatz von durchschnittlich 700,- DM, womit er sich ernähren konnte. Durch die immer wieder anfallenden Lektoratsarbeiten junger Autoren verdiente er sich zudem ein kleines Zubrot. Und die daraus resultierende Gesamtsumme war völlig ausreichend, sodass er sich für die kommenden Monate keine großen Sorgen machte.
Der Sommer galt allgemein als ›Saure-Gurken-Zeit‹. Die interessanten Monate der Berichterstattung würden folgen.
Sein Nachbar Franz hatte ihn noch nicht zu dem versprochenen Gespräch eingeladen. Und Schranz wollte auch nicht drängen. Er hatte von Anne gehört, dass ihr Mann gerade wieder Herzprobleme hatte; sein Arzt hatte es noch nicht geschafft, ihm die richtige Dosierung an Medikamenten zu verordnen. So hatte er einen Tag einen hohen Blutdruck, am anderen Tag schlief er während der Arbeit auf seinem Bagger fast ein.
Bauer hatte sich auch nicht gemeldet, und so war Schranz überrascht, als er auf seinem neu erstandenen Anrufbeantworter eine Nachricht abhörte: »Rufen Sie mich an, wir haben den nächsten Termin.«
Gut, dass er die Stimme sofort erkannt hatte. Bauer hatte viel zu früh zu sprechen begonnen und seine Worte in der Geschwindigkeit von Gewehrsalven abgefeuert. Wahrscheinlich mochte er keine Anrufbeantworter.
Schranz rief sofort zurück, die Nummer hatte er auf einem kleinen Notizblock neben dem Telefon stets griffbereit liegen. Aber niemand meldete sich, ein Anrufbeantworter war nicht geschaltet. Beim Blick auf die Uhr wurde ihm klar, dass 10 Uhr eine sehr ungünstige Uhrzeit für einen Anruf war. Er wollte es über Mittag zwischen 12 und 13 Uhr nochmals versuchen. Jetzt war der Landwirt sicher auf den Feldern oder im Stall zu finden.
Wie immer war der nächste Auftrag für die HV eher gegen Abend zu erwarten, deshalb konnte er sich nun Gipsy widmen. Der Hundefriseur hatte ihm nochmals sein schwarzes Fell heruntergeschoren, es war schon ziemlich verfilzt gewesen. Nur schade, dass er sich mit dem Schäferhund aus der Nachbarschaft gerauft hatte, just in dem Moment, als sein Fell so kurz gewesen war. Von dieser Auseinandersetzung hatte er einige Abschürfungen und Bisswunden im Fell davongetragen. Wieder einmal hatte er sich nicht unterworfen, obwohl Bonnie viel größer war als er und auch viel kräftiger. Gipsy würde das lernen müssen, ansonsten konnte das übel ausgehen und für Schranz eine hohe Tierarztrechnung bedeuten.
Während er so sinnierte und den Vierbeiner streichelte, klingelte das Telefon. Eine gute Bekannte, Veronika, wie er sie für sich bezeichnete, war dran, und lud ihn auf ein Glas Wein ein. Noch hatte Schranz nichts von der HV gehört, war sich also noch unsicher, ob er am Abend überhaupt Zeit haben würde.
Er hatte momentan nichts vor, aber Veronika schon. Ihre Kinder waren noch da, sie sollten heute Abend von ihrem Vater ins lange Wochenende abgeholt werden. Und dann wäre es günstig, mit ihr in Ruhe die letzten Wochen zu besprechen.
Eigentlich war Veronika die einzige Frau, die Schranz bisher in seiner neuen Heimat kennengelernt hatte. Wie so oft hatte er vor einigen Wochen einen Abendtermin wahrgenommen, eine Aufführung eines Laientheaters. Martens hatte ihn ausgewählt, weil er ein gewisses Kunstverständnis hätte. So hatte er zumindest argumentiert, und wenn es in seine Strategie passte, dann hatte Schranz beim nächsten Auftrag auch politisches Verständnis. Er machte es immer passend.
Es wurde ein langer Abend. Um 22 Uhr stand erst der Beginn des zweiten von drei Akten an, und Schranz ärgerte sich bereits, dass er diesen Auftrag angenommen hatte. Vier Stunden Theateraufführung und es würden 80 Zeilen und ein Bild dabei herauskommen. Ein niedriger Stundenlohn, fürwahr.
Er verfolgte eher gelangweilt den Verlauf des Stückes. Es handelte von irgendeiner Verwechslungsgeschichte zwischen zwei Bauern, in die dann später auch noch die beiden Frauen verstrickt wurden. Dabei fand Schranz indessen immer mehr Gefallen an der rotblonden Schauspielerin, die eine der beiden recht garstigen Bauersfrauen spielte. Sie hatte eine gute Figur, eine schöne Stimme, ihre Augen glänzten, was entweder an den Bühnenscheinwerfern lag oder am vierten Bier, das der Journalist vor sich stehen hatte.
Nach der Vorstellung sah er die Mittdreißigerin kurz im Gang stehen, und sie bat ihn, ihr eine Kopie des Artikels dieses Abends zu schicken. Der Regisseur hatte sich schon vor Beginn des Stückes bedankt und Schranz darum gebeten, eine freundliche Kritik zu schreiben. Und so wusste der ganze Saal, dass Schranz nun am Zug war, diesen Abend in positiver Weise in der HV darzustellen.
Veronika hatte den jungen Mann angestrahlt und dabei erklärt, sie habe leider keine Möglichkeit, die Zeitung zu kaufen.
Durch dieses kurze Zusammentreffen war ein feines Band von Gefühlen entstanden, ohne dass sich die beiden in den letzten Wochen bisher sehr nahe gekommen wären.
Deshalb freute er sich über die Einladung. Allerdings fühlte er sich auch unsicher ob dieser Zweisamkeit, die auf ihn wartete.
Bauer klang am Telefon ziemlich genervt und hektisch.
»Mensch, Schranz, was haben Sie da für ein komisches Gerät? Immer mehr von diesen Dingern gibt es jetzt hier bei uns.«
»Sie haben Ihren Namen nicht draufgesprochen.«
»Doch klar, aber dieses Gerät hat dauernd gepiepst.«
Schranz vertiefte das nicht weiter. Er wollte zum eigentlichen Grund des Anrufs kommen.
»Was gibt es denn Neues?«
»Wir, das heißt, Sie, die Schweinezüchter und ich, werden uns wieder treffen. Gleicher Ort wie letztes Mal, gleiche Uhrzeit. Sie sollten bitte eine halbe Stunde früher da sein, wir beide müssten uns vorab noch absprechen.«
Es kam schon öfter mal vor, dass Leute versuchten, einen Journalisten vor dem Verfassen eines Berichtes zu beeinflussen. Was genau Bauer vorhatte, ahnte Schranz noch nicht. Da er sich nicht gerne beeinflussen ließ, war er auf der Hut. Obwohl auch sein Chef eine Art Zensur darstellte. Wenn Martens Kürzungen oder kleine Umstellungen am Text vornahm, dann hatte Schranz es auch zu akzeptieren.
In den ersten Wochen hatte er sich deswegen mit seinem Vorgesetzten ausgesprochen. Und die Erklärung von Martens für starke Textkürzungen an einem von Schranz’ Artikeln war gewesen, dass aufgrund eines Berichts über einen schweren Verkehrsunfall eben alle anderen Artikel auf dieser Zeitungsseite gekürzt worden seien. Und die entsprechenden Zeilen hatten natürlich auch seinen Artikel betroffen. Was hätte Schranz darauf erwidern sollen? Ein Chefredakteur würde immer plausible Erklärungen finden.
*
8. September 1983
Der Abend bei Veronika zog sich hin.
Schranz hatte sich nicht getraut, der jungen Frau zu gestehen, dass er sie großartig fand. Und sie war offensichtlich völlig übermüdet, die Erziehung ihrer beiden pubertierenden Töchter schien sie sehr anzustrengen. Nachdem sie nunmehr ein freies Wochenende vor sich hatte, brauchte sie dringend Erholung. So kam es, dass Schranz noch vor 24 Uhr wieder daheim gewesen war.
Der Termin bei den Schweinezüchtern stand auf der Tagesordnung. Wieder war Schranz viel zu spät losgefahren, durch Crailsheim hindurch herrschte das übliche Verkehrschaos. Es wurde Zeit für die schon lange geplante, aber noch nicht gebaute Umgehungsstraße.
Er würde wieder einmal mindestens 10 Minuten zu spät zu einem Termin kommen.
Diesmal fand er die Einfahrt zum Gasthaus Sonne auf Anhieb, er stellte seinen Golf in den kühlen Schatten einer hohen, alten Kastanie und betrat die Gaststube. Im Hintergrund hörte er Bauers kräftige Stimme. Er telefonierte wohl in einem Nebenraum.
»Nein, dem können wir nicht zustimmen. 50 Pfennige weniger als für die Rasse der Holländischen Schweine, das kommt gar nicht in Frage.«
Ein vernehmliches Krachen ließ vermuten, dass Bauer den Hörer auf die Gabel des Telefonapparats geknallt hatte.
Die Durchgangstüre wurde mit Schwung aufgestoßen, touchierte leicht die Wand, in welcher ihre Scharniere verankert waren und der Landwirt erfüllte sofort den Raum durch seine Präsenz.
»Hallo, Herr Schranz. Schön, Sie zu sehen. Außer uns ist noch niemand da. Gut so. Wir sollten uns eine Strategie überlegen.«
»Es ehrt mich ja, dass Sie wir sagen, aber ich weiß von nichts.«
»Na, mit wir meine ich auch wir alle, nicht nur Sie und mich. Alle Hohenloher, alle Bauern hier. Wir sitzen doch in einem Boot.«
Ein einnehmendes Wesen, da gab es keinen Zweifel.
Er hatte beide Arme in seine Hüften gestemmt, sodass sich seine kräftigen Oberarmmuskeln zeigen konnten und dabei das eng anliegende schwarze T-Shirt deutlich nach außen bogen.
»Ich möchte die nächsten Monate meine ganze Kraft daran setzen, einige Ferkel vom SHL so großzuziehen, dass es das bestmöglichste und schmackhafteste Fleisch ergibt. Dazu will ich mich aber nicht von den Futtermittelproduzenten abhängig machen. Ich werde das Getreide unserer Felder selbst zum Schweinefutter aufarbeiten, und ich werde die Ferkel nicht mit Antibiotika spritzen lassen. Dann wollen wir doch einmal sehen, ob sich dafür nicht ein Markt entwickelt.«
»Und wozu brauchen Sie die anderen Bauern?«
»Erstens bin ich hundertprozentig von meinem, bzw. unserem Erfolg überzeugt. Letztes Mal hat sogar einer der anderen Bauern beim Abschied zu mir gesagt, ich sei für sie alle so etwas wie ein ›Patrone‹.«
Bauer war sichtlich stolz darauf.
»Und zweitens, ich habe hier auf unserem Hof noch genau eine Sau vom SHL. Ich könnte zwar auf die Manneskraft des Ebers meines Schwagers zurückgreifen, aber ich brauche unbedingt frisches Blut. Und wissen Sie, noch etwas ist mir besonders wichtig …«
Seine Augen funkelten, als er Schranz anschaute.
»Letztes Mal muss einer dabei gewesen sein, der alles Wort für Wort an die Schweinezentrale ausgeplaudert hat. Danach hat diese den Einkaufspreis je Kilogramm für die normalen Ferkel nochmals um 10 Pfennige angehoben, bei den SHL ließen sie allerdings den alten, ungünstigeren Preis stehen. Typisch!«
Bauer machte eine verächtliche Handbewegung. Dabei hatte er anscheinend nicht mit einkalkuliert, dass er schon sehr nahe am Stammtisch stand. Seine Hand donnerte mit den Knöcheln auf die eichene Tischplatte, ein leichtes Krachen war zu vernehmen. Bauer verzog kurz sein Gesicht, um sich bald darauf wieder im Griff zu haben.
Das Gespräch mit den Landwirten nahm einen ähnlichen Verlauf wie beim letzten Mal, allerdings fehlten drei Bauern aus der Runde von vor zwei Wochen.
Schranz hatte sich nicht alle Gesichter einprägen können. Die Teilnehmer saßen auch an einem anderen Platz als beim letzten Mal. In Gedanken überlegte er, was wohl die Gründe sein konnten, diese Details an Dritte weiterzugeben. Wobei man schon sagen musste, dass es clever von der Schweinezentrale gewesen war, den Preisabstand zwischen normalem Schweinefleisch und dem SHL nochmals zu vergrößern. Er verstand jetzt auch, dass sich zwei Bauern beim letzten Mal selbst als Spinner und Idealisten bezeichnet hatten. Logisch schien es wahrlich nicht, ausgerechnet jetzt auf das SHL zu setzen.
Der Patrone führte das Wort, es gab wenige Wortmeldungen. Und alle hörten ihm zu, kommentarlos, wortlos, ohne Widerspruch, aber auch ohne ein Zeichen der Zustimmung.
Aber sie sagten ihm zu, dass er jeden ihrer Eber anfordern durfte, um seine letzte Sau vom SHL zu decken. Und sie wollten auch auf die übliche Deckgebühr verzichten. Anscheinend hofften sie darauf, an etwas Neuem, Zukunftsweisendem beteiligt zu sein. Ab der Stunde null, aus dem Nichts sozusagen.
Zum Abschluss versprach der Kollege Neumann dem Patrone, dass er den nächstmöglichen Decktermin seiner Sau ausnutzen wollte. So könnte es eventuell klappen, dass das SHL auf der nächsten Grünen Woche in Berlin ausgestellt werden konnte. Diese weltweit größte Veranstaltung ihrer Art schien Bauer genau dafür prädestiniert zu sein, die Geschichte des SHL wieder aufleben zu lassen. Wie er berichtete, hatte er auf eigene Kosten dort bereits einen Stand angemietet. Obwohl sich dieser aus finanziellen Gründen auf eine gewisse Mindestgröße beschränkte, würden laut Bauer doch zwischen 20.000 bis 30.000 DM an Kosten anfallen. Für die anderen Landwirte war das ein gewichtiges Wort, ein Grund mehr, einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.
Als sich alle von ihren Plätzen erhoben hatten, um wieder zu ihrer Arbeit zurückzukehren, stellte der Patrone wie beiläufig noch eine Frage:
»Weiß jemand von euch, ob unsere drei heute nicht anwesenden Kollegen noch an unserem Projekt interessiert sind?«
Einer brummelte vor sich hin:
»Du hast doch was gehört, Fritz.«
»Ja, Angermann hat zu mir gesagt, dass er vor einer Woche noch drei holländische Muttersauen gekauft hat. Vielleicht war er deshalb nicht hier.«
Die Versammlung löste sich rasch auf. Schranz blieb sitzen.
»Darf ich über diesen Abend jetzt als offizielle Veranstaltung berichten und auch über Ihre Ziele etwas schreiben?«
»Ja, geben Sie es raus. Vielleicht bringen wir damit die Sache noch mehr ins Rollen. Und ich werde mich um den Hinweis von meinem alten Freund Fritz kümmern. Wissen Sie, Schranz«, der Patrone schaute Schranz fast schon freundschaftlich an.
»Friedrich Neumann oder Fritz, wie wir ihn alle nennen, kennt mich schon von Kindesbeinen an. Er war des Öfteren bei uns auf dem Hof und hat mit meinem Vater über die Landwirtschaft diskutiert. Ich weiß noch, wie ich als Kind lange auf der Holzbank vor unserem Haus gesessen bin, und die beiden Männer stundenlang über Kühe, Schweine, Winterweizen usw. gesprochen haben.«
Jetzt verhärtete sich sein Blick wieder.
»Aber diesem Angermann, dem traue ich schon länger nicht mehr. Dass er ausgerechnet auch noch in Rufweite von Fritzens Hof wohnt, ist wirklich nicht optimal.«
Als Schranz nach Hause kam, sah er seinen Anrufbeantworter hektisch blinken.
»Haben sich gelohnt, die 200 DM, auch wenn es viel Geld für so ein kleines, schwarzes Kästchen ist«, murmelte er vor sich hin.
»Schranz, gut, dass Sie dieses Gerät haben.«
Martens klare Stimme klang aus dem Mikro.
»Heute ist eine Anzeige bei uns drin, dass ein gewisser Herr Freongard aus dem Odenwald Züchter vom SHL hier bei uns in der Gegend sucht. Diese sollen sich bei ihm melden, er wolle die Schweinerasse erhalten. Richtig große Anzeige. Könnte ja vielleicht wichtig sein für Ihren Artikel. Bis später.«
Bevor die Leitung unterbrochen wurde, hörte man im Hintergrund noch das aufgeregte Klappern der Schreibmaschinen im Redaktionsraum. Die Produktion der Texte für die morgige Ausgabe schien während des Telefonats auf Hochtouren gelaufen zu sein. Der Anruf war wohl gegen 17 Uhr gewesen.
Also noch Zeit genug, um in Stimpfach schnell im Gasthof Linde die dort auf dem alten Schirmständer hängende Ausgabe der HV zu studieren und die Telefonnummer dieses Herrn Freongard herauszufinden.
Er lief hinter das Haus, um seinen Golf zu holen, als er auf der gegenüberliegenden Seite seinen Nachbarn am Traktor hantieren sah. Wie so oft in den letzten Tagen hatte Franz die große Ladeschaufel an seinen Traktor montiert, um abends Brennholz aus dem Freilager in seinen Schuppen einzufahren. Dort sollte es die letzten Monate vollends austrocknen, um im Winter als preiswerte Heizmöglichkeit zu dienen.
Schranz schmunzelte. Was wäre Franz bloß ohne sein Holz …
Schon von Weitem rief dieser ihm zu.
»Chris, komm kurz her, ich habe dir heute eine Anzeige aus der Zeitung herausgeschnitten. Das könnte interessant für dich sein.«
Schranz wählte die kurze Nummer von Freongard, nach der Vorwahl kamen nur noch zwei Ziffern für die Rufnummer. Das musste dort wirklich eine sehr ländliche Gegend sein.
»Freeeongaaard.«
Eine extrem tiefe Männerstimme meldete sich schon nach dem dritten Klingeln.
»Grüß Gott, Herr Freongard. Hier Chris Schranz von der ›Haller Volkszeitung‹.«
Keine Reaktion am anderen Ende der Leitung.
»Hallo?«
»Ja?«
»Ich dachte schon, Sie seien nicht mehr da. Ich habe Ihre Anzeige in der ›Haller Volkszeitung‹ gelesen.«
»Ja?«
»Und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir dazu etwas erzählen könnten.«
»Haben Sie ein Schwein?«
»Wie, ob ich ein Schwein habe?«
»Ich suche jemanden, der mir Ferkel vom SHL produzieren kann. Damit ich meine Zucht auffrischen kann.«
Schranz war etwas überrascht, dass Freongard anscheinend doch längere Sätze sprechen konnte.
»Nein, ein Schwein habe ich nicht. Aber ich kenne jede Menge Bauern, die noch eines oder mehrere in ihrem Stall stehen haben.«
Rasch vermittelte Schranz den Kontakt zum Patrone. Nicht, ohne sich fest vorzunehmen, am übernächsten Tag nachzufragen, ob sich Freongard auch wirklich gemeldet hatte.
2
9. September 1984
Schranz war wie üblich zwischen 8 und 9 Uhr aufgewacht, und als er sich noch etwas müde den Schlaf aus den Augen rieb, klingelte auch schon das Telefon.
»Klasse, dass Sie mich da in den Odenwald vermittelt haben.«
Das ging ihm nun alles ein wenig zu schnell, ohne Kaffee am Morgen brauchten seine Gehirnwindungen etwas länger als gewohnt.
»Wir können über Freongard bereits 30 Ferkel vom SHL absetzen. Das kommt wie gerufen.«
Bauer schien bester Stimmung zu sein.
»Guten Morgen, Herr Bauer. Oh, es hat schon funktioniert?! Gut! Zu was Zeitungslesen nicht alles gut ist.«
»Und stellen Sie sich vor, dieser Freongard zahlt sogar den Preis, den wir hier für die normalen Schweine als Ferkelpreis bekommen. Zudem hat er mir versprochen, dass er den Transport der Ferkel selbst organisieren und bezahlen wird. Ich bin begeistert!«
Der Patrone bedankte sich noch mehrfach. Landschweine wie die Schweinezentrale für die holländischen Schweine. Wirklich erfreulich.
Am Morgen steckte die HV in seinem Briefkasten. Wahrscheinlich hatten sie im Verteilerschlüssel vermutet, dass sein Bericht über das SHL bereits heute abgedruckt sein würde. So hatte er nun eine interessante Frühstückslektüre.
Schranz hatte sich nur mit einer kurzen Hose und einem T-Shirt bekleidet. Morgens empfand er es zu dieser Jahreszeit immer noch angenehm warm im Haus, und die Tasse Grüntee und die zusätzliche Tasse Milchkaffee heizten ihm jeden Morgen zusätzlich ein, sodass er sich meist erst nach einer Stunde komplett anzog.
Der Wasserkocher blubberte. Auf den ersten Seiten der HV gab es die üblichen Beiträge, die CDU hatte sich mit der SPD in der Wolle und umgekehrt. Im Wirtschaftsteil stieß er auf die Schlagzeile: ›Fleisch vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein schlecht vermarktbar‹. Was war das nun schon wieder? Und warum ausgerechnet jetzt?
Die Bildunterschrift lautete: ›Schwäbisch-Hällisches Landschwein bringt den Bauern zu wenig Ertrag. Sie stellen deshalb wieder auf holländische Schweinerassen um.‹
Schranz war zu vertieft und so entging ihm, dass das Telefon anhaltend klingelte. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Bauers Stimme schallte ihm entgegen, als er lossprintete.
»Die Schweinezentrale hat alle restlichen Ferkel bis auf fünf Stück, die Neumann nicht hergegeben hat, gekauft. Wissen Sie da was? Ich versteh das nicht! Und dann noch dieser Artikel heute in der HV. Bitte rufen Sie zurück. Ach ja, mein Name: Baauuuuer!«
Schranz grinste. Lernfähig war er durchaus. Nur der Inhalt dieser Nachricht machte in Kombination mit der Zeitungsmeldung überhaupt keinen Sinn. Dieser Artikel vom Leiter der Schweinezentrale sagte etwas ganz anderes aus. Und dann kauften sie fast alle Jungschweine vom SHL auf.
Schranz rief bei Neumann an. Er war natürlich nicht zu erreichen, seine Frau behauptete, ihr Mann wisse überhaupt nichts. Die Schweine seien verkauft und bei der Abholung bar bezahlt worden. Mehr sei nicht aktuell, und außerdem hätten sie fünf Stück auf dem Hof behalten. Und die Muttersau und der Eber seien auch noch da.
Aus ihren Worten klang ihre Verwunderung über dieses Aufsehen. Wie konnte man herausfinden, was hinter den Kulissen der Schweinezentrale ablief? Schranz entschloss sich, nach Crailsheim zu fahren und zuerst einmal deren Gebäude in Augenschein zu nehmen.
Dort war viel los, es war um die Mittagszeit und ein Lkw reihte sich an den anderen. Durch die Gitterstäbe der Aufbauten konnte Schranz in das Innere der Ladeflächen schauen. Die meisten waren leer, und wenn sie etwas geladen hatten, dann meistens ausgewachsene Schweine. Als die Lkw vom Hof fuhren, notierte er sich einige Kennzeichen. Die meisten waren aus Süddeutschland, ein paar aus Niedersachsen und einer sogar aus der DDR. Das war überraschend. Gab es tatsächlich einen innerdeutschen Austausch von Schweinefleisch? Oder brachte einer von beiden Handelspartnern dort seine Überproduktion unter?
Bevor er sich verdächtig machte, fuhr er wieder nach Hause. Natürlich war der Patrone im Moment nicht zu erreichen. Er war auf den Feldern unterwegs. Seine Mutter sagte, man müsse das gute Wetter ausnutzen, der Winter stünde vor der Tür. Die Waldbäume müssten gepflegt werden, das nächste Holz eingebracht werden und noch vieles mehr.
Vielleicht konnte Schranz Franz einspannen und der konnte über irgendwelche Kanäle etwas in Erfahrung bringen. Und außerdem würde er ihn bitten, nach seinem Golf zu schauen. Obwohl Schranz den Joke voll gezogen hatte, stotterte dieser seltsam, wenn er den Motor anließ. Die Werkstatt verlangte schon für den Kostenvoranschlag 75 DM. Gut, dass der Journalist so einen geschickten Nachbarn hatte.