- -
- 100%
- +
*
11. September 1984
Der Artikel hatte, zumindest am ersten Tag nach seiner Veröffentlichung, keinerlei Reaktionen hervorgerufen. Schranz traute dem Frieden aber nicht.
Heute hatte er nochmals einen Erholungstag eingelegt und war mit seinem aufgeregten Vierbeiner zum Badesee am Ort spaziert. Sie hatten beide im noch warmen See ausgiebig gebadet, Gipsy hatte mindestens 50 Mal ein Stöckchen aus dem Wasser apportiert. Ein herrlicher Tag. Gemütlich lief er die rund zwei Kilometer zu Fuß nach Hause. Daheim sah er, dass Franz mit seinem Oberkörper fast vollständig unter der roten Motorhaube des Golfs verschwunden war. Beim Näherkommen hörte er seine Stimme dumpf zwischen all den Schläuchen und dem Metall hervorklingen.
»Mensch, Junge, der Marder hat ganze Arbeit geleistet. Kein Wunder, dass dein Auto so viele Aussetzer hatte.«
Eine schwarze Hand aus dem Motorraum streckte sich ihm zum Gruß entgegen. »Und noch was, ich habe über Wilfried herausbekommen, kennst du doch, den Bauer aus Gerbertshofen, dass sie die jungen Ferkel vom Hällischen in die DDR verkauft haben.«
»Unglaublich, warum denn das?«
Schranz stand wie angewurzelt neben seinem Auto.
Ein heller metallener Ton verkündete, dass Franz etwas aus der Hand gerutscht war.
»Gibst du mir bitte mal den 12-er-Schlüssel hoch? Der liegt irgendwo unter dem Motorblock.«
Schranz tastete nach dem Schraubenschlüssel. Er berührte ihn, konnte ihn aber nicht beim ersten Mal greifen. »Ja, das ist es!«
Schranz fuhr mit einem Ruck hoch und schlug sich dabei schmerzhaft den Kopf an.
»Sie haben die jungen Ferkel in die DDR verkauft, um sie los zu sein. Die Ferkel sind jetzt sozusagen hinter dem Eisernen Vorhang. Dort haben sie noch Geld dafür bekommen, aber damit ist die Zucht vom SHL hier bei uns wieder monateweit zurückgeworfen!«
Mit einem lauten Ächzen richtete Franz sich auf.
»Hast du den Schlüssel? Und was meinst du mit zurückgeworfen?«
Schranz bückte sich nochmals, streckte seinen Arm und fand das Werkzeug. Schnell gab er es an seinen Nachbarn weiter und eilte dann wortlos in sein Haus hinüber.
Der Patrone hielt die Erklärung für möglich, aber er war sich nicht sicher. Am meisten schien es ihn zu ärgern, dass er nunmehr nur noch ein paar Ferkel für die weitere Zucht zur Verfügung hatte. Das Ganze ging ihm viel zu langsam voran.
Auf den Hof zurückgekehrt, war die Motorhaube bereits wieder geschlossen und Franz zeigte Schranz ein Kupferkabel, dessen schwarze Ummantelung nur noch teilweise sichtbar war.
»Morgen früh besorge ich dir eines dieser Kabel, und morgen Abend nach der Arbeit baue ich es dir ein. Dann kannst du dein Auto wieder benutzen.«
Auf dem Küchentisch lag immer noch die aufgeschlagene HV.
Darin war auch ein Prachtexemplar eines Landschweins abgebildet: lang gestreckt, nicht dünn aber auch nicht dick. Schöne, deutliche Farbzeichnung mit exakter Abgrenzung zwischen Schwarz und Weiß. Und dann dieser lange, kurz hinter der Körpermitte beginnende schwarze Körperteil, der sogenannte Sattel.
Irgendwie richtig edel. Die schwarze Farbe war schon etwas Besonderes! Dass manche Schweine richtiggehende Schlappohren hatten, erheiterte ihn. Fast war er versucht, ›süß‹ zu sagen.
Wobei er beim Betrachten von Schweinebildern immer diesen feinen Geruch in der Nase hatte, den er zum ersten Mal hier im Hohenlohischen beim Besuch auf dem Hof von Bauer gehabt hatte. Landluft pur, nicht allzu unangenehm, aber doch eindeutig nach Schwein riechend.
Am nächsten Morgen hatte Schranz keine Lust, sich im Haus zu betätigen. Er trödelte vor sich hin, fand kein Buch, das er intensiv lesen wollte. Beim Betrachten seiner Bilder inklusive der an der Wand hängenden Urlaubsfotos wurde er noch ein wenig schwermütiger.
Oder sollte er Veronika anrufen? Schranz dachte kurz über diese Idee nach, verwarf sie dann aber wieder. Insgeheim sehnte er sich schon nach einer festen Partnerin, obwohl ihm bewusst war, dass er durchaus ein wenig eigenbrötlerisch geworden war.
Und gestandene Frauen faszinierten ihn, auch wenn vom Alter her eine 20-Jährige durchaus noch Interesse an ihm haben könnte. Seine braunen, längeren Haare wellten sich leicht, seine tiefblauen Augen strahlten die meiste Zeit, weil er sich einfach zufrieden und glücklich fühlte. Die vielen Spaziergänge mit Gipsy hielten sein Körpergewicht auf einem akzeptablen Niveau, wobei man bei ihm nicht von einem Waschbrettbauch sprechen konnte.
Auch seine umgängliche, lebhafte Art wurde von allen und besonders von der Damenwelt geschätzt. Er war als Gast überall gerne gesehen, wobei es ihm meistens und vor allem bei Familienfesten sehr langweilig war. Unweigerlich kam hier das Thema auf den Bereich Fernsehfilme und hierzu konnte er überhaupt nichts sagen. Er besaß kein Fernsehgerät. Als sein Fernseher das Zeitliche gesegnet hatte, schaffte er damals kein neues Gerät an, weil ihm fast alle Sendungen als Zeitverlust erschienen. Gerade in den Abendstunden schrieb er einen Großteil seiner Artikel, da brauchte er Zeit und Ruhe zum Arbeiten.
Gipsy strich leicht an seinem rechten Bein vorbei. Sein Herrchen zuckte kurz zusammen. Er tätschelte seinem Hund die Seite und das Tier schaute ihn anbetend an. Auf dem Schaukelstuhl sitzend, berührte seine rechte Hand den Rücken seines ›schwarzen Teufels‹, wie er ihn immer wieder nannte, wenn dessen garstige Phase sein ansonsten sonniges Gemüt überdeckte.
Schranz dachte an den Patrone, und wie konsequent dieser seinen Weg ging. Wer stand noch an seiner Seite? Es hatte den Anschein gehabt, dass es zumindest Neumann wäre. Aber jetzt hatte auch er fast alle seine Ferkel des SHL an die Gegenseite verkauft. Mafiöse Strukturen sah er dort keine. Auch wenn Bauer anderer Meinung war.
Die anderen Bauern wirtschafteten weiter wie bisher, vielleicht würden sie ein paar SHL aufziehen, genau schienen sie sich noch nicht geäußert zu haben. Und dann stand auf der anderen Seite die Schweinezentrale, Tausende von Kleinbauern besaßen Anteile daran und waren dadurch loyal zu dieser, ihrer Organisation eingestellt.
So wie es aussah, hatten die Leiter der Schweinezentrale ihr Augenmerk auch sehr wachsam auf Heinrich Bauer gelenkt. Sie hatten auf jeden Fall einen Informanten in seinen Reihen. Als Ferkel auf den Markt gekommen waren, informierte dieser sie sofort und durchaus mit einer gehörigen Portion Bauernschläue.
War der Patrone ein Einzelkämpfer? Sein Dickkopf eventuell sogar schon zu stark ausgeprägt? Hatte David gegen Goliath überhaupt eine Chance? Eine faire Chance? Und was würde die Gegenseite unternehmen, um dessen möglichen Aufstieg zu bremsen?
Gispy war eingeschlafen. Die Atmosphäre im Schreibzimmer tat ein Übriges. Die vielen Bücher in den selbst gezimmerten Regalen, der große Schreibtisch, der ausnahmsweise recht aufgeräumt wirkte, vermittelten Behaglichkeit.
Das Telefon schrillte, Martens war dran.
»Mahlzeit Herr Schranz, störe ich Sie gerade?«
Hätte er ehrlich antworten sollen? Wie spät war es? Mittag schon?
»Hallo Herr Chefredakteur.« Martens gefiel diese Anrede nicht. Er wollte vielmehr als Kollege angesehen werden, nicht als Vorgesetzter.
»Ich bin am Lektorieren.«
Diese Ausrede hatte er von Martens übernommen, als er einmal eine geschlagene Stunde neben ihm in seinem Büro gesessen war, nur um danach einen Zettel von ihm zu bekommen, wo er als Nächstes hinfahren und einen Bericht schreiben sollte. Aber immer wenn Martens nicht die Wahrheit sagte, dann atmete er besonders ruhig und seine Stimme war etwas tiefer als normal. Ganz so, als ob er zusätzlich vertrauensvoll wirken wollte.
»Wir haben zwei Aufträge für Sie. Einmal eine Goldene Hochzeit in Stimpfach. Und dann die Kreisversammlung des Deutschen Roten Kreuzes in Honhardt. Dort gibt es auch noch einen Vortrag über die Blutspendeaktivitäten. Können Sie alles heute Abend erledigen.«
Hoffentlich war sein Auto bald fertig. Ablehnen konnte er diese Termine auf keinen Fall. Er musste Geld zusammensparen, um noch trockenes Holz vor dem nahenden Wintereinbruch kaufen zu können.
Wobei die Aufträge wirklich nicht seinen Vorlieben entsprachen. Bei Jubiläen verhielten sich die Ehepaare entweder so hektisch, dass er die Informationen gar nicht alle aufschreiben konnte. Oder er musste ihnen jedes Wort aus der Nase ziehen. Und Blutspende, alleine, wenn er das Wort hörte, bekam er feuchte Hände. Er konnte kein Blut sehen, weder sein eigenes noch das von anderen, und jetzt sollte er auch noch einen Vortrag zu diesem Thema anhören.
*
3. Oktober 1984
Die Kreisversammlung der Grünen stand an.
Schon zu Beginn seiner Tätigkeit hatte Schranz Martens gebeten, keine Berichterstattung über Politik machen zu müssen. Aber ein Kollege hatte sich krank gemeldet und Martens war als Blattmacher nicht in der Lage, selbst vor Ort zu recherchieren. Andere Journalisten waren unterwegs oder schon verplant.
Schranz solle sich nicht so anstellen, schließlich stünden Wahlen an, meinte sein Vorgesetzter. Einen der Bewerber würde er sogar persönlich kennen. Dabei hatte sich Martens linke Augenbraue etwas nach oben gezogen, was umso mehr auffiel, da sein Haaransatz erst sehr weit hinten begann. Es war tatsächlich so: Bauer war erst vor wenigen Wochen bei den Grünen eingetreten und stellte sich jetzt heute schon zur Wahl, um ein Amt zu übernehmen.
Die Waldhalle in Stimpfach, ein Betonfunktionsbau aus den 70er Jahren, der sein Baumaterial gar nicht verheimlichen wollte, war herbstlich geschmückt.
Als Schranz die gläserne Schwingtür nach innen aufdrückte, war die Halle bereits gut gefüllt.
Wie üblich war ganz vorne ein Platz für die Presse reserviert. Eine Lehrkraft der Grund- und Hauptschule Stimpfach kam sogleich auf ihn zu und führte ihn zu seinem Platz.
Es hieß ja immer, dies sei eine ›Jesus-Latschen-Partei‹, und Schranz hatte noch nie so viele Bärtige und Strickpulli tragende Männer gesehen.
Als er ganz vorne am Tisch angekommen war, direkt vor ihm lag nun die mit einem dunkelbraunen Holzparkett belegte Bühne, erkannte er auch Heinrich Bauer, der an einem der langen Tische saß. Und daneben Neumann. Was machte der denn hier? Ihn hatte er wahrlich nicht erwartet.
Wie Schranz schon vermutet hatte, gab es zu Beginn den ›Einpeitscher‹, einen ungefähr 50-Jährigen, der alle anderen politischen Parteien verdammte, über die Atomkraft herzog und aus Deutschland ein Bioland machen wollte.
Danach stellten sich die Parteimitglieder vor, welche als Kandidaten für den Kreistag gewählt werden wollten. Alle saßen auf der Bühne, der Redner von vorhin spielte nun den Interviewer und befragte alle dort Anwesenden. Jeder musste fünf Fragen beantworten. Es ging um Umwelt, Natur und um Landespolitik.
Das Ergebnis war vorhersehbar, Bauer hatte schon nach wenigen Sätzen das Publikum für sich eingenommen. Und es waren dieselben, manchmal sogar wörtlich gleichen Formulierungen, die er gegenüber den Bauern verwendet hatte. Wirklich erstaunlich, wie schnell der Patrone die Menschen für seine Sache und seine Ideen begeistern konnte.
Als er gesprochen hatte, gab es donnernden Applaus. Die Sache war schon entschieden, bevor der letzte, neben ihm sitzende Redner seine Antworten geben konnte. Bauer würde das Rennen machen. Das war klar.
Am Ende der Sitzung mied er den Kontakt mit Heinrich Bauer. Er wollte nicht den Anschein erwecken, überall dort aufzutauchen, wo dieser sich aufhielt. Und danach immer Artikel schrieb, welche diesen heroisierten.
Allerdings, was wollte Neumann heute Abend hier? Er würde ihn unter irgendeinem Vorwand anrufen und ein wenig aushorchen.
*
4. Januar 1985
Heinrich Bauer hatte mit Martens abgesprochen, dass die HV die Exklusivrechte haben sollte, wenn der erste Zuchteber in Dangertshausen eintreffen würde.
Dafür war Bauer morgens um 5 Uhr Richtung Odenwald gefahren, um bei Freongard ein Tier zu kaufen. Zuerst hatte er den jungen Journalisten noch gefragt, ob er nicht mitfahren wolle. Aber diesem war die Entfernung zu groß gewesen, und schließlich sollte er noch mit einer gewissen mentalen Distanz darüber berichten.
Dafür brauchte es Konzentration und Kraft. Zumindest nahm er das als Ausrede, warum er jetzt bei der Mutter von Bauer einen Schweinebraten mit Kartoffeln bestellte. Natürlich vom SHL.
So ließ sich die Wartezeit angenehm verkürzen. Glücklicherweise waren heute die Straßen frei, die Tage davor hatte es stark geschneit und da wäre auch ein Landrover nicht problemlos durchgekommen.
Schon nach kurzer Zeit bekam er sein Essen serviert. Frau Bauers Bäckchen glänzten heute besonders rosig. Entweder ging es ihr richtig gut oder sie freute sich auf den neuen Eber, der den Schweinezüchtern in Hohenlohe eine gute Zukunft bringen sollte.
Das Fleisch des Bratens war zart, es zerging fast auf der Zunge. Ganz feine Fettadern durchzogen es, aber diese waren ebenfalls weich, sodass es beim Kauen überhaupt nicht auffiel, dass der Braten nicht ganz mager war. Die hellbraune Soße hatte sich schon teilweise mit dem Fleisch vermischt und es schmeckte saftig und würzig. Schranz schnitt die Kartoffeln in Scheiben, und tauchte dann deren lange Seite in die Bratensoße hinein. Dazu dann noch ein Schluck des kühlen Haller Bieres, einfach wunderbar. So ließ es sich aushalten.
Diesen Gefallen tat er ihm allerdings nicht, erst drei Viertel des Bratens waren gegessen, da ertönte draußen eine Autohupe. Frau Bauer kam sofort aus der Küche und eilte durch den Gastraum Richtung Ausgangstür. Schranz musste sich beeilen, damit er ihr folgen konnte.
Wenn der Journalist es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er das Alter des Landrovers auf über 15 Jahre geschätzt. Aber er war fast neu und innen schön ausgestattet. So passte das Auto zum Fahrer.
Ein kleiner, aber hoher geschlossener Anhänger hing hinter dem Landi.
Der Patrone stieg aus, entweder hatte er seinen Hut die ganze Fahrt über getragen, oder er hatte ihn sich rechtzeitig aufgesetzt. Dieser Hut bedeutete ihm sehr viel, er stand für Freiheit, für einen freien Bauer, wie er stolz erklärt hatte.
Es war zwar erst 17 Uhr, aber schon fast stockdunkel, sodass Schranz seinen Fotoapparat mit einem starken Blitzgerät ergänzen musste.
»Ach hallo, Herr Schranz. Heute sind Sie pünktlich.«
Eine weniger ironische Begrüßung hätte es auch getan.
»Herzlichen Glückwunsch zur neuen Sau!«
»Ein Eber, Herr Schranz. Also ein männliches Schwein.«
Bauer nahm ihn heute ordentlich auf die Schippe.
»Und heißt ›HELM SH 304‹. Aber ich glaube, ›Helm‹ reicht vollkommen aus.«
Glücklich öffnete er den Deckel des Anhängers, um ihn danach nach unten zu klappen. Schranz nestelte noch an seinem Blitzgerät, bei dem kalten Wetter klemmte irgendetwas beim Hinaufschieben des Blitzes auf den Fotoapparat.
»Moment! Wir brauchen ein paar Fotos.«
Bauer war schon im Anhänger verschwunden. ›Helm‹ quiekte und es war nicht zu unterscheiden, ob das jetzt ängstlich oder erfreut geklungen hatte.
Man hörte Geräusche: Ein Strick wurde durch eine Öse gezogen, Trampeln war zu vernehmen und danach erschien Bauers Fuß auf der Anhängerrampe.
»Sind Sie bereit, Herr Fotograf?«
Trotz der kühlen Witterung schwitzte Schranz. Er wollte unbedingt ein gutes Foto schießen. Beim letzten Weihnachtsmarkt in Crailsheim hatte er sich extra für das Fotografieren im Winter Handschuhe gekauft, deren Fingerkuppen abgeschnitten worden waren. So konnte er den Druckpunkt des Auslösers seiner Canon spüren, auch wenn der metallene Knopf bereits eiskalt war.
Schranz drückte auf den Auslöser, diesmal war er zu früh dran und es würden sicherlich nur die Füße zu sehen sein. Aber er schoss noch weitere Aufnahmen, sodass eine kleine Bilderserie entstand, wie ›Helm‹ hohenlohischen Boden betrat.
Schön sah er aus, dieser ›Helm‹. Der Blitz erhellte seine schwarzen und weißen Hautfarben in der Dunkelheit und sie traten noch deutlicher zutage. Er war sehr kräftig, ein Laie würde vielleicht sogar fett sagen, und seine Ohren hingen lustig nach vorne. Wenn er allerdings ein Geräusch zu hören glaubte, dann spitzte er das eine Ohr kurz, wobei das andere Ohr schlaff hängen blieb. Ein witziger Anblick.
›Helm‹ schien die Fahrt gut überstanden zu haben: Er zeigte weder Angst, als er die Rampe des Anhängers hinunterlaufen musste, noch Sorge, wohin ihn denn nun sein neuer Herr führen würde. So ging Bauer voraus, und ›Helm‹ folgte ihm. Er war an einen ungefähr einen Meter langen Strick angebunden.
Quer über den Parkplatz ging es durch das hohe, metallene Gartentor Richtung Stall. Unweigerlich hatte Schranz sofort wieder diesen typischen Geruch in der Nase, diesmal allerdings freute er sich beinahe, hier sein zu dürfen. Alles verlief so harmonisch, auch das Tier schien glücklich zu sein. Es fühlte sich offensichtlich wohl.
*
14. Januar 1985
Der Bericht über ›Helm‹ hatte viel Beachtung gefunden. Martens hatte seinen Mitarbeiter für die guten Bilder gelobt. Das war zum ersten Mal vorgekommen, sonst bezeichnete der Chefredakteur seine Bilder oftmals als ›suboptimal‹.
Martens war von einigen wichtigen Leuten, so seine Vermutung, in positiver Weise auf die Berichterstattung über das SHL angesprochen worden und bestellte ihn zu sich ins Büro, um ihm zu eröffnen, dass er ab sofort ein um 20 Prozent höheres Honorar und auch deutlich mehr Aufträge bekommen würde. Es gab nur lobende Worte, was Schranz etwas beunruhigte, als er mit seinem Golf nach Hause fuhr. Lob machte ihn immer misstrauisch.
Der Anstieg nach dem Dorf Alexandersreut in Richtung Bernau war tagsüber nicht mit Salz abgestreut worden, sodass es nun bei Einbruch der Dunkelheit und Rückkehr des Nachtfrostes gefährlich glatt geworden war. Schranz verlangsamte seine Fahrt und fuhr untertourig im dritten Gang, um den Anstieg ohne Rutschpartie zu bewältigen. Hoffentlich fuhr ihm jetzt kein anderes Auto entgegen, dazu noch mit hoher Geschwindigkeit, es würde zwangsläufig einen Unfall geben.
Mühevoll erhellten die Scheinwerfer des Golfs die schmale Straße durch den hohen Wald, ihm war fast ein wenig unheimlich. Wie schön war diese Fahrt dagegen im Sommer!
Erleichtert kam er zu Hause an, er ahnte bereits, dass ihn jetzt ein kaltes Haus empfangen würde. Niemand hatte in den letzten vier Stunden Holz im Kachelofen nachgelegt. Und da es keine andere Heizung in seinem Haus gab, stellte er sich schon einmal auf eine mindestens einstündige Kältephase ein.
Als er die Haustüre aufschloss, sprang Gipsy ihm freudig in die Arme. Im Hintergrund schien gerade jemand zu sprechen, es musste der Anrufbeantworter sein. Schranz eilte in seine Richtung, aber er hörte nur noch die letzten beiden Worte.
»Richtung Jagstzell.«
Es war Martens, und seine Stimme klang sehr aufgeregt.
Schranz drückte die Playtaste.
»In Stimpfach brennt ein Bauernhof. Großeinsatz von Feuerwehr und Polizei. Fahren Sie schnell hin. Kein Zeilenlimit, ein bis zwei Fotos. Liegt Richtung Jagstzell.«
Der Ofen war nur noch Nebensache, aber Gipsy wollte er nicht alleine zurücklassen. So öffnete er kurz die Heckklappe seines Autos, und der Hund sprang dankbar hinein.
Ein Glück, dass es wenigstens nicht in Alexandersreut brannte. Diese gefährliche Strecke brauchte er nicht zu fahren, Stimpfach lag in der anderen Richtung.
Als Schranz eintraf, schlugen aus dem Stall des Hofes hohe Flammen. Dicker, beißender Qualm stieg auf, das Wohnhaus, das rund 30 Meter davon entfernt lag, schien unversehrt. Menschen rannten wild durcheinander, sie wollten wohl möglichst viele Tiere aus den Flammen retten. Die Feuerwehr versuchte, aus der nahen Jagst eine Standleitung für das Löschwasser zu erstellen, aber momentan war noch kein Wasser aus dem Schlauchende getröpfelt. Der ebenfalls bereits eingetroffene Löschzug schien sein Wasser schon verbraucht zu haben.
Es war eine Szenerie aus lauten Rufen, spitzen Schreien und Gebrülle von Kühen. Schweine schien dieser Bauer keine zu halten.
Der Journalist baute sein Stativ auf, steckte den großen Blitz auf das Kameragehäuse, was diesmal trotz der Kälte erstaunlich schnell ging. Er drückte mehrmals auf den Auslöser, um nach dem Entwickeln der Bilder wieder eine vernünftige Auswahl an Bildmaterial zu haben.
Als er die letzte Aufnahme machte, erhellte der Blitz eine merkwürdige Situation. Ein weiß-schwarzes Schwein trottete über den Hof, mitten hindurch durch das ganze Gewühl an Menschen und Tieren. Von niemandem angeleint, von keinem fortgescheucht. Einfach ruhigen Schrittes heraus aus dem Getümmel in Richtung Sicherheit und an die frische Luft.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr trat neben Schranz. Die beiden kannten sich von einigen früheren Einsätzen.
»Hallo Chris!«
Schon beim ersten Zusammentreffen hatten sie sich geduzt, das war wohl bei der Feuerwehr so üblich.
»Hallo Markus, habt ihr alles im Griff?«
»Ja, kein besonders schlimmer Fall. Menschen waren keine gefährdet, nur der Stall hat angefangen zu brennen. Vom Großvieh konnten wir alle Kühe retten, auch ein junges Kalb. Das hätte bei den Schweinen ebenfalls funktioniert, aber die waren schon tot, als wir gekommen sind.«
»Echt? Warum denn das?«
»Ach, sicherlich wie bei den meisten unserer Brände. Die Schweine sind so stressempfindlich. Wenn es da zu brennen anfängt, bekommen sie einen Herzinfarkt und fallen tot um. Auch waren es hier nur 10 Schweine, der Bauer wird es verkraften können.«
Aber ein Schwein hatte überlebt, dessen war sich Schranz sicher. Es müsste auch auf einem der Fotos zu sehen sein.
*
16. Januar 1985
Es sah schon komisch aus. Ein weiß-schwarzes Schwein lief seelenruhig durch ein wüstes Chaos aus Feuerwehrschläuchen, durchhastenden Menschen und einem brennenden Stall. Martens hatte genau dieses Bild ausgewählt, um den Brand in Stimpfach zu dokumentieren. Und da gerade wieder einmal eine nachrichtenarme Zeit war, zierte es sogar die Titelseite der Zeitung. Menschen waren bei diesem Brand tatsächlich keine zu Schaden gekommen, die Bauern hatten nur einen leichten Schock erlitten.
Schranz las die Zeitung in Ruhe, und auch in der Küche spürte man, wie sich langsam aber sicher die Wärme des nun wieder laut vor sich hinknisternden Kachelofenfeuers im ganzen Haus ausbreitete. Das war ein gewisser Nachteil des Holzofens. Morgens war er zwar noch warm, aber bei minus 15 Grad Außentemperatur brauchte es ungefähr eine Stunde, bis die Zimmertemperatur wieder über 18 Grad lag.
Gipsy hatte sich auf die Zehenspitzen von Schranz gelegt, bei diesem Wetter eine willkommene Wärmflasche. Nächsten Sommer wollte der junge Journalist, in Absprache mit seinen Vermietern, das Thema Isolierung angehen. Das Fachwerk ließ durch sein Mauerwerk ziemlich viel Kälte ins Haus hinein. Schranz registrierte, wie sich auch an diesem Morgen der Vorhang vor dem Küchenfenster leicht im Lufthauch bewegte. Er ahnte bereits, dass das Fachwerk an der Außenseite auf jeden Fall sichtbar bleiben sollte. Dann blieb scheinbar nur die Innenseite zur Isolation. Aber auch davon hatte ihm eine Expertin abgeraten.
Gedankenversunken schreckte er auf, als das Telefon klingelte.
»Mensch, ein tolles Foto.«
Der Patrone hatte heute Morgen offensichtlich schon die Zeitung studiert.
»Guten Morgen! Sieht fast ein wenig gestellt aus.«
»Aber klasse, wirklich super! Ich würde Ihnen das Bild gerne abkaufen.«
Es war das erste Mal, dass Bauer das Wort Geld in ihrer Zusammenarbeit erwähnte.
»Sorry, ich habe es ja bereits verkauft.«
»Nein, ich will keinen Abzug. Ich würde gerne das Original kaufen.«
So hatte Schranz wieder einen Kubikmeter Brennholz verdient.
»Und noch etwas, ich würde Sie gerne in Zukunft als unseren ›Haus- und Hofberichterstatter‹ engagieren. Wenn etwas ansteht, würde ich mich bei Ihnen melden. So wie jetzt zum Beispiel. Am 1. Februar wollen wir zu einer Vorbesprechung zur Gründung einer bundesweiten Züchtervereinigung für das Schwäbisch-Hällische Schwein einladen. Um 13 Uhr im Gasthof Krone in Hessental. Für Sie wären Essen und Getränke frei.«
Das war der erste Großkunde für Schranz und nach knapp einem Jahr in Hohenlohe freute er sich sehr darüber. Es war schwer gewesen und deutlich langsamer gegangen als im Großraum Stuttgart üblich.