- -
- 100%
- +

Agatha Christie als Kind.
Bücher galten zu jener Zeit als Quellen wichtiger Erkenntnis und schöner Erbauung, aber auch von gefährlicher Reizung der Phantasie – weshalb Kinder nicht zu früh in die Kunst des Lesens eingeführt werden sollten. Für Töchter war ohnehin keine schulische Bildung vorgesehen. Was sie zu lernen hatten, konnte man ihnen daheim vermitteln, es sei denn, sie zeigten in irgendeiner Disziplin besondere Begabung – dafür wurde dann ein Hauslehrer engagiert oder eine Gouvernante. Bei Agatha galt es erstmal abzuwarten, das stille, in sich gekehrte Kind zeigte scheinbar keine besondere Wissbegier. Bis die Fünfjährige auf Nursies Schoß plötzlich bei der Bibellektüre Worte zu entziffern vermochte und Nursie das Buch zu und eine Hand vor den Mund schlug. »O-O«, sagte sie, »meine Kleine, was ist denn das?« Und gehorsam machte sie Meldung bei Mutter Clara: »Ich fürchte, Madam – Miss Agatha kann lesen.« Clara war durchaus ein wenig besorgt. »Aber«, sagte sie nach Rücksprache mit ihrem Mann, »da es nun so ist, soll sie lesen. Doch wir müssen auch an andere Fächer denken. Papa wird ihr Rechenstunden geben und ich sie schreiben lehren.« Ach, das Schreiben machte Agatha überhaupt keinen Spaß. Auf die Rechenstunden aber freute sie sich. Der Papa war überrascht. »Ihr Gehirn funktioniert mathematisch«, sagte er. Agatha war ziemlich stolz darauf, nun eine Schülerin zu sein. Zwar waren Madge und Monty als Internatszöglinge ihr weit voraus, aber auch sie ging jetzt die ersten Schritte in Richtung auf Erkenntnis und Wissen. Allerdings fürchtete sie sich stets vor den Rechtschreibstunden. Ihr Leben lang blieb Orthografie ihre schwache Seite. Sie hatte die Wörter durch Nursies Erklärungen nach der Ganzheitsmethode erlernt und schrieb nach Klang. O ja, sie war sehr musikalisch. Als ihre Hände ein bisschen größer geworden waren, kam eine Klavierlehrerin ins Haus, und die war bald richtig beeindruckt von Agathas flüssigem und ausdrucksstarkem Spiel.
Schon als Kind erlebte Agatha eine erste schmerzhafte Trennung vom Ashfieldschen Kosmos mit seinen Menschen, Tieren, Bäumen und Büchern. Ihr Vater schrieb, wenn er beim Ausfüllen eines Formulars oder beim Einzug in ein Hotel seinen Beruf angeben sollte, stets schlicht »Gentleman« hinein. Er arbeitete nicht, sondern lebte das angenehme und abwechslungsreiche Leben eines vermögenden Herrn zwischen Club, Cricketground, Kunst-Auktionen, Wochenend-Einladungen, Theatervorstellungen, Gardenpartys, Reisen und Ashfield. Er sammelte Antiquitäten, las interessante Autoren, kaufte antike Möbel, verwöhnte seine Frau und unterrichtete seine Kinder. Frederick Miller war ein äußerst beliebter Zeitgenosse, hatte viele enge Freunde und angeheiratete Verwandte. Finanzieren konnte er sein müßiges Leben durch den Besitz ausgedehnter Liegenschaften in den Vereinigten Staaten; seine Häuser in New York warfen seit vielen Jahren eine bedeutende Summe ab. Leider aber stellte sich eines Tages heraus, dass seine Verwalter drüben doch nicht die tüchtigsten und auch nicht die vertrauenswürdigsten waren. Sein Vermögen war zusammengeschmolzen, die finanzielle Lage angespannt, die Aussicht düster. Eine Weile besprach sich Frederick mit seinen Anwälten, Kabel und Briefe mit unerquicklichen Abrechnungen gingen hin und her – und am Ende stellte sich heraus, dass der Lebensstil der Millers so nicht zu halten war. Frederick redete mit Clara. Man würde sich einschränken müssen.
Um die Jahrhundertwende war es eine beliebte Methode der Geldersparnis für großbürgerliche Engländer, ihre herrschaftlichen Villen über den Sommer oder sogar das ganze Jahr zu vermieten und sich derweil im Süden Europas oder im Nahen Osten niederzulassen, wo die Lebenshaltungskosten nur einen Bruchteil der britischen betrugen und das Wetter obendrein besser war. Es gab genügend Touristen vom Kontinent, die sich während der Sommermonate in so reizenden Orten wie Torquay aufhalten wollten, auch Industriekapitäne aus dem Norden zog es sommers an die Küste. Das war nun vorerst die Lösung für die Familie Miller: Sie vermieteten Ashfield, schickten das Personal mit einer Abfindung vorübergehend nach Hause und fuhren nach Südfrankreich. Dem Papa, der seit den schlechten Nachrichten aus Amerika Gesundheitsprobleme hatte, würde das Klima guttun, und für die Jüngste wurde es Zeit, Französisch zu lernen. Solange die Eltern bei ihr waren, machte Agatha gern alles mit, aber sie war jedes Mal nur allzu froh, wenn sie zurück nach Ashfield kam, wenn sie Toni bellen und ihren Kanari piepsen hörte, wenn sie wieder in ihrem eigenen Bett schlafen durfte und es Jane war, die die Mahlzeiten zubereitete. Und wenn sie in der Bibliothek mit einem Buch im Schoß auf dem Boden saß und den schweren süßen Holzgeruch einatmete.
Der Vater war aber nun krank geworden vor lauter Sorgen um sein Vermögen. Erst suchte er Ärzte in Torquay und London auf, dann kamen die Ärzte nach Ashfield, es wurde viel ausprobiert mit Medizin und Diät, und es hieß, dass Luftveränderungen nun nicht mehr helfen würden. Als Agatha elf Jahre alt war, starb Frederick Miller an einem Herzleiden; das Töchterchen wurde vorübergehend zur Großmutter geschickt, die Mutter war untröstlich, und am Ende – Madge und Monty waren längst aus dem Haus – blieben im großen Anwesen Ashfield nur Clara und ihre Jüngste übrig. »Ashfield ist zu groß für uns beide«, sagte Clara, »und zu aufwendig dazu. Wir müssen es verkaufen.« Die Verzweiflung, die Agatha bei diesen Worten ergriff, war so tief, ihr Schluchzen so fürchterlich, dass Clara erschrak. »Vielleicht können wir es halten«, sagte sie und klopfte Agathas Scheitel, »wenn wir es zwischenzeitlich wieder vermieten.«
Wie sehr ihre Mama den Mann vermisste, erkannte die Tochter bald, und das Mitleid mit der Mutter mischte sich mit ihrem eigenen Schmerz um den Verlust des Vaters. Manchmal fürchtete Agatha, ihre Mutter könne vor Kummer sterben und schlich nachts an ihr Bett, um sie atmen zu hören. Schwester Madge stand kurz vor ihrer Verheiratung mit James Watts, dem Besitzer des weitläufigen Anwesens Abney Hall nahe Manchester, und Bruder Monty, der nach einer gescheiterten Ingenieursausbildung zum Militär ging, war in Indien stationiert, aber beide machten sich von ihren Verpflichtungen vorübergehend frei und kamen für ein paar Wochen nach Ashfield, um Clara beizustehen. Sie hatten ihrerseits heftig gegen einen Verkauf des Hauses protestiert und stifteten ein wenig Geld für den Erhalt von Ashfield. Zur Trauer um den Papa kam die Enttäuschung, was das Erbe betraf: Außer einer schmalen Pension für Clara und geringfügiger monatlicher Unterstützung für die drei Kinder war nichts geblieben. Jetzt gingen in Ashfield die Kristalllüster aus, Clara konnte es sich nicht mehr leisten, große Gesellschaften oder Bälle zu geben wie in besseren Zeiten. Manchmal ging sie mit ihrer Tochter abends ins Theater, meist aber saß sie einfach nur mit ihr in der Bibliothek, und sie lasen einander ihre Lieblingsautoren vor: Charles Dickens, William Thackeray, Walter Scott und Shakespeare. Clara hielt nichts von schulischer Mädchenbildung, aber um die verwaiste Agatha auf andere Gedanken zu bringen, meldete sie ihre Jüngste nun doch bei einem Institut mit gutem Ruf an, bei Miss Guyers Schule für Töchter höherer Stände. Agatha ging nach anfänglichem Fremdeln gern dorthin, und sie verblüffte alle – auch sich selbst – durch ihre glänzende Begabung fürs Rechnen, aber auch was englische und französische Literatur betraf, konnte sie mithalten. Bei der Orthografie allerdings haperte es weiterhin, und an ihren Aufsätzen bemängelte die Lehrerin ein Zuviel an Phantasie. Was Agatha gefiel, waren die Tanzstunden, auch in Musik war sie stark. Handarbeiten machten ihr großen Spaß, sie strickte gern und bestickte Kissenbezüge – nach Vorlagen oder eigenem Design. An den Nachmittagen kamen die Lucy-Mädchen und nahmen die Freundin mit zum Rollschuhlaufen auf dem Pier oder zum Tennis. Im Sommer ging Agatha für ihr Leben gern schwimmen. Bis ins hohe Alter hat sie an diesem Sport festgehalten und sich immer Gelegenheiten gesucht, ihn auszuüben.
Für die Sechzehnjährige hieß es dann: Jetzt musst du eine Dame werden. Agatha hatte auch gar nichts dagegen – außer dass ihr die Korsetts den Atem nahmen und die Fischbeinkragen den Hals wund scheuerten. Aber wie alle Mädchen jener Zeit nahm sie das hin. Schwerer wog schon der Abschied von Ashfield – denn für den »letzten Schliff«, wie das damals hieß, war ein Aufenthalt in Paris und ein intensives Studium der französischen Sprache sowie der Sitten, Musik und Küche Frankreichs unumgänglich. Clara verwendete ihre letzten Ersparnisse für Agathas Bildung, sie brachte die Tochter in einem angesehenen Internat unter. Paris war ein Traum, und die Internatsschülerinnen – viele Amerikanerinnen unter ihnen – erwiesen sich als lustige Truppe. Agatha konzentrierte sich vor allem auf die Klavier- und Gesangsstunden; eine tiefe Enttäuschung erlitt sie, als sie bei einem Schulkonzert versagte und sich eingestehen musste, dass es ihr nicht gegeben war, in der Öffentlichkeit Klavier zu spielen. Ihre Nervosität war einfach zu groß, und die wiederum war eine Folge ihrer Selbstzweifel. »Damals ermutigte man junge Mädchen nicht zu musikalischen Karrieren«, schrieb Agatha in ihren Lebenserinnerungen. »Ich bin ganz sicher, dass es im Leben keine größeren Seelenqualen geben kann, als wenn man um jeden Preis etwas erreichen will und doch weiß, dass es bestenfalls zur Mittelmäßigkeit reicht.« Aber singen konnte Agatha problemlos vor Publikum. Sie übte täglich hingebungsvoll. Ihr Lehrer fand, dass sie eine gute Kopfstimme habe und auch ihr Brustton überzeugend sei, aber die mittlere Lage habe nicht genug Kraft. »Das kann ja noch kommen«, sagte sich Agatha und intensivierte die Übungen für die mittlere Lage. Sie freundete sich mit einigen Schülerinnen an und ließ sich vom Reiz des französischen savoir vivre beeindrucken. Tief in ihrem Herzen aber blieb sie davon überzeugt, dass wahre Wohnkultur nirgendwo anders zu Hause sei als in Ashfield und dass die Kochkunst Janes letzten Endes unübertroffen blieb.
Ihre Pariser Zeit dauerte ein Jahr. Sie war siebzehn, als sie zurückkehrte und sehr froh, daheim zu sein. ›Meine Mutter‹, dachte sie, ›ist die, mit der ich zusammen sein will, alle anderen müssen warten.‹ Im Schulzimmer saß sie gern allein, las und schrieb Geschichten oder sang, sich selbst am Klavier begleitend. Und es gab auch immer mal wieder einen Kissenbezug, der darauf wartete, bestickt zu werden. Jane war noch im Hause, außerdem ein Stubenmädchen, aber der Gärtner kam nur noch zweimal die Woche, einen Butler, eine Nähmamsell sowie zusätzliche Küchenhilfen konnte Clara sich nicht mehr leisten. Das Leben in Ashfield war einfacher, frugaler und stiller geworden. Agatha focht das nicht an. Solange sie im Schulzimmer für sich sein, mit Clara auf der Terrasse plaudern und dabei Toni kraulen, solange sie Janes wunderbare Pasteten und Puddings verspeisen konnte, war sie zufrieden. Zumal sie inzwischen Emile Zola las, May Sinclair, Arthur Conan Doyle und Edgar Allan Poe. Ihre Mutter aber hatte einen weitergehenden Erziehungsplan für die Jüngste. Agatha musste als Nächstes »in die Gesellschaft eingeführt werden«, und es gab in ganz Großbritannien innerhalb der Society wohl kein einziges Mädchen, das nicht auf diese ihre Rolle als Debütantin hinfieberte – mit allem was an Garderobe, Glanz und Geselligkeit damit zusammenhing. Allerdings kostete eine solche »Einführung« ziemlich viel Geld – das begann mit der Ausstattung und endete noch nicht bei den Mietkutschen, in denen eine Debütantin auf Bälle und zu Wochenendpartys gefahren werden musste. Clara fand eine Lösung: sie würde für Agathas »Saison« mit ihr nach Kairo gehen, wo man preisgünstig lebte. Es gab dort eine tonangebende britische Gesellschaftsschicht, die mit den lokalen Autoritäten zusammenwirkte, dorthin hatten Millers Kontakte. Kurzerhand ließ Clara für die Tochter drei elegante Abendkleider schneidern, Mutter und Tochter packten die Koffer und reisten im Herbst 1910 nach Ägypten. Ihre Lieblingsrobe, ein roséfarbenes Satinkleid mit Rosenknospen auf der Schulter, hat Agatha ihr Leben lang aufbewahrt.
Die junge Miss Miller war ein introvertiertes Mädchen, sie hatte, wie sie in ihren Memoiren bedauert, kein Talent für small talk und fühlte sich »in Gesellschaft« stets gehemmt. Das hat sich nie geändert. Als sie längst eine weltberühmte Schriftstellerin war, brauchte sie immer noch eine Art Autosuggestion oder auch ironische Anfeuerung, die sie sich vor Auftritten in der Öffentlichkeit selbst zuflüsterte: »Das ist Agatha, die so tut, als wäre sie eine erfolgreiche Autorin, die jetzt zu ihrer eigenen großen Party geht, die so aussehen muss, als wäre sie eine Persönlichkeit und eine Rede halten soll, die sie nicht halten kann und überhaupt etwas sein muss, was sie nicht ist.« Wahrscheinlich war es ihr überreiches Innenleben, ihre ausschweifende Phantasie, die ihr im Wege standen, wenn sie sich im wirklichen Leben inszenieren oder auf Herausforderungen reagieren sollte. Wurde ihr zum Beispiel ein junger Mann vorgestellt, so dachte sie sich sofort einen Lebenslauf und ein Schicksal für ihn aus, anstatt ihm in die Augen zu schauen und Fragen zu stellen. Sie wich aus in ihre Vorstellungswelt und verweigerte so die Realität. Einer ihrer Tanzpartner während der »Saison« sprach mit Clara über sie, er lobte ihr Aussehen und ihren Tanzstil und fügte hinzu: »Jetzt sollte sie auch noch reden lernen.« Dennoch hatte Agatha an den Kairoer Bällen und Geselligkeiten ihren Spaß. Sie erwartete nicht von sich, als Ballkönigin aufzutrumpfen. Sie stand gerne auch mal daneben und sah zu. Oft hatte sie das Gefühl, dass sie bei all diesen Vergnügungen, um die so viel Aufhebens gemacht wurde, nur eine Nebenrolle spielte. Zugleich hoffte sie insgeheim, dass ihre Stunde irgendwann schlagen würde. Zumal sie wusste, dass sie gut aussah: groß, schlank, mit einem ausdrucksvollen Gesicht, über dem eine Krone dichter blonder Locken glänzte. In Kairo hatte sie Gelegenheit, ein gutes Quantum an femininer Selbstsicherheit zu entwickeln – es gab einen Ball nach dem anderen, das rosa Satinkleid musste immer wieder aufgebügelt werden. Agathas Tanzkarte war meistens gut gefüllt, sie erhielt sogar zwei ernst gemeinte Heiratsanträge. Höflich lehnte sie ab. Am Ende ihrer Kairoer Saison konnte sie sich als eingeführte junge Dame fühlen, bereit und fähig, einem interessanten und gut situierten Ehemann das Haus zu führen. Möglichst in Torquay.
Zurück in England überdachte Agatha ihre Lage. Nein, lange wollte sie mit der Eheschließung nun nicht mehr warten. Ihre Schwester Madge hatte ein Jahr nach ihrer Heirat einen kleinen Jungen geboren, Clara und Agatha nahmen immer wieder die Gelegenheit wahr, die Familie Watts auf Abney Hall zu besuchen und sich um das Kind zu kümmern, während Madge einen ihrer geliebten London-Trips unternahm, und Agatha bekam eine Ahnung von den Freuden der Mutterschaft. Sie war ihrem Neffen Jack zärtlich zugetan und fand große Freude daran, Spiele, Lieder und Reime für ihn auszudenken. Sie hatte ja nun ihrerseits eine ganze Reihe treuer Verehrer, unter denen Reggie, der es zum Major bei den Kanonieren gebracht hatte, ihr am besten gefiel. Und es geschah in der Tat, dass der junge Mann kurz nach seiner Rückkehr aus Hongkong um ihre Hand anhielt. Agatha war gerührt und sagte Ja. Reggie vergalt es ihr mit einem scheuen Kuss und fügte hinzu, dass er die nächste Zeit im Ausland stationiert sein würde und sie deshalb mit der Hochzeit noch warten müssten. Zu Agathas Ideal leidenschaftlicher Liebe passte ein solcher Aufschub nicht. Sie bat ihren Zukünftigen, doch eine baldige Heirat ins Auge zu fassen. Aber der sprach von Verpflichtungen, die leider bindend seien. Agatha senkte den Kopf. Sie hatte Ja gesagt, und er fuhr erstmal weg. War das Liebe? Doch Reggie war fair. Er wollte sie nicht nötigen, herumzusitzen und nur auf ihn zu warten. »Geh nur aus und vergnüge dich«, sagte er, »und wenn du einen anderen findest, habe ich eben Pech gehabt.« Spätestens jetzt wuchs sich Agathas Enttäuschung zur Abwehr aus. Sie wahrte die Form, sie stimmte zu, aber sie dachte bei sich: ›Das kannst du haben!‹ Dennoch akzeptierte sie, dass das, was Reggie und sie zustande gebracht hatten, eine Verlobung war.
Clara mochte Reggie gern, sie beglückwünschte Agatha zu ihrer Wahl. Zwar hatte sie auf einen vermögenden Schwiegersohn gehofft, und Reggie hatte nur seinen Sold, aber wichtiger war ja doch, dass Herz zum Herzen fand. Was aber das Herz betraf, war Agatha sich nicht mehr sicher.
»Was ist mit dir, darling?«, fragte Clara und warf noch ein Scheit in den Kamin, »du hast Post von deinem Verlobten und machst den Brief nicht auf?«
»Was Briefe betrifft«, antwortete Agatha und putzte sich die Nase, »ist Reggie nicht gerade die Nr. 1. Wenn ich da an Boltons Briefe denke … Die reinste Dichtkunst dagegen.«
»Vielleicht hat er die Briefe von einem Schriftsteller schreiben lassen, so à la Cyrano de Bergerac?«, erwog Clara.
»Meinst du wirklich?«
»Aber ja, das ist sehr wahrscheinlich. Die Herren haben doch gar nicht Zeit dafür und oft auch nicht die Gabe, mit geschriebenem Wort das Herz eines Mädchens zu rühren. Vor allem nicht, wenn sie beim Militär sind. Bei einem unbeholfenen Brief bist du wenigstens sicher, dass der Junge ihn selbst geschrieben hat.«
»Du willst nur, dass ich gut von Reggie denke, Mami, ich verstehe. Aber ich zweifle wirklich, ob er der Richtige ist.«
»Zweifeln ist deine Lieblingsbeschäftigung, Herzchen. Irgendwann musst du damit aufhören.« Agatha starrte ins Kaminfeuer. Eine Weile sagte sie nichts. Dann: »Mama, ich fürchte, er würde nicht wollen, dass ich singe.«
»Darauf wollte ich dich ansprechen, Tochter. Du erinnerst dich an die Fishers, Freunde von Papa aus New York –«
Es war sonst nicht ihre Art, der Mama ins Wort zu fallen, aber jetzt tat sie es.
»Wenn ich die Mimi singe oder die Margarete, dann bin ich in einer eigenen Welt. Und ganz anders als am Piano stört mich das Publikum nicht. Im Gegenteil, ich kann es anschauen, wenn ich eine Koloratur anstimme. Mama, in diese Welt müsste mein Ehemann mich gehen lassen, hörst du, und wenn er dazu nicht imstande wäre …«
»Davon will ich ja gerade reden«, sagte Clara, »von dieser eigenen Welt. Ich treffe mich morgen mit den Fishers. Sie sind hier in Begleitung einer sehr wichtigen Persönlichkeit, einer Dame mit besten Beziehungen zur Metropolitan Opera, sie unterrichtet dort den Nachwuchs. Ich habe die Fishers gebeten, sie zu fragen, ob du ihr vorsingen könntest. Ob sie bereit wäre, dich anzuhören und ein Urteil abzugeben. Sie hat Ja gesagt, und das ist ein großes Entgegenkommen. Na, was sagst du? Wenn du schon immer so viel zweifelst – vielleicht kann diese Gesangslehrerin deine Zweifel zerstreuen?«
Es kam anders. Die Gesangslehrerin zerstreute nicht Agathas Zweifel an ihrem Talent, sondern ihre Gewissheit, zur Sängerin geboren zu sein. Sie habe eine gut gebildete, schöne Stimme, sagte die Amerikanerin, und zu einer passablen Konzertsängerin würde es reichen. Aber nicht für die Bühne. Dafür fehle Agatha das Volumen, vor allem in der mittleren Lage. Und darauf komme es an. Agatha weinte auf dem Heimweg, sie weinte im Schulzimmer und in der Küche bei Jane, und dann hörte sie unvermittelt damit auf. So war es nun. Es war die zweite arge Niederlage bei ihrem Versuch, in der Welt der Musik Fuß zu fassen, und es tat grausam weh. Aber so jung Agatha war, sie konnte verlieren. Zumal sie fest davon überzeugt war, dass ihr wahres Lebensziel woanders lag. Es hatte nichts mit Chopin zu tun und nichts mit Rossini und nichts mit der Opernbühne, sondern mit – nein, womöglich nicht mit Reggie. Aber auf jeden Fall mit einem, mit ihrem Ehemann. Sie wollte heiraten und glücklich werden. Das sei ihre Bestimmung, so sagten Clara und Madge und die Großmutter und die Großtante. So sagten alle, also auch sie selbst.
Clara aber hatte schon eine Idee, wie sie ihren Liebling trösten konnte. Sie ging rauf ins Schulzimmer, nahm das Manuskript von Snow upon the Desert, von dem sie wusste, dass Agatha es kürzlich überarbeitet hatte, in die Hand und trug es über die Straße zu Eden Philpotts. Der Schriftsteller versprach, es zu lesen und eine Beurteilung zu schicken. Er hielt sein Wort.
Es war stets eine Freude für Agatha und Clara, wenn Madge zu Besuch kam. Sie zog in Ashfield ein als eine alte Bewohnerin, die sie ja war, mit allen Rechten und Pflichten und prüfte sehr genau, ob auch alles noch am rechten Platze stand. Madge galt immer als das große poetische Talent in der Familie. Sie hatte schon Gedichte veröffentlicht, als Agatha noch klein war, und ihre Kurzgeschichten stießen bei Lesungen in der Familie und im Freundeskreis auf große Resonanz. Einige verkaufte sie sogar an Zeitschriften. Agatha war stolz auf ihre Schwester, aber auch ein wenig neidisch, wobei dieser Neid durch den beträchtlichen Altersabstand, der zwischen der Erstgeborenen und ihr bestand, gemildert wurde. Aber seit Agatha erwachsen war, fühlte sie eine Verpflichtung, es der Schwester gleichzutun, und die positive Beurteilung ihres Erstlings durch Mr Philpotts war nun eine Trumpfkarte, die sie ausspielen konnte.
»Aber wie wird es jetzt weitergehen?«, fragte Madge, die sich nie auf ihren Erfolgen ausruhte. »Wirst du Snow upon the Desert an einen Verlag schicken?«
»Aber ja, das werde ich. Drück mir die Daumen, dass jemand anbeißt.«
»Du musst weiterschreiben. Nur keine größeren Pausen, sonst kommst du aus der Übung. Was machst du als Nächstes?«
»Ich sitze an einer Kurzgeschichte, genauer gesagt: an zweien. Ich möchte sie wieder Eden Philpotts vorlegen – mal sehen, ob er findet, ich sei weitergekommen.«
Natürlich sprachen die Schwestern auch über das Ende von Agathas musikalischer Karriere.
»Weißt du«, sinnierte Agatha, »ich habe etwas erkannt. Wenn das, was du dir mehr als alles andere wünschst, nicht möglich ist, ist es besser, es hinzunehmen, als sich mit Reue oder vergeblicher Hoffnung aufzuhalten. Man muss nach vorne blicken.«
Madge legte ihr einen Arm um die Schulter. »Ich habe gerade den neuesten Kriminalroman von Gaston Le Roux gelesen«, sagte sie, »musst du auch lesen, unbedingt. Und überleg dir, ob das nicht was für dich wäre: einen Kriminalroman zu schreiben. Ich hab es schon versucht. Ist höllisch schwer. Na ja, womöglich schaffst du es nicht, man soll sich auch nicht überfordern.«
»Ich möchte es versuchen.«
»Wetten, du schaffst es nicht?«
»Es war keine richtige Wette«, so erzählt es Agatha im Rückblick, »aber mein Ehrgeiz war geweckt. Von diesem Augenblick an war ich wild entschlossen, einen Krimi zu schreiben. Ich fing nicht gleich damit an, legte mir auch keine Handlung zurecht, aber die Saat war im Boden.«
Das andere große Thema bei Madges Besuchen waren Agathas Eheaussichten.
»Reggie Lucy«, sagte Madge, »ist ein reizender Junge, und er ist von hier. Hat er vor, sich in Torquay niederzulassen?«
»Vermutlich.«
»Du klingst nicht gerade begeistert …«
»Er hält um meine Hand an und geht mit meinem Ja nach Indien. Ist das in Ordnung?«
»Längere Verlobungszeiten sind üblich. James und ich waren doch auch eine ganze Weile verlobt. Ein Paar hat dann Zeit, alles zu überdenken.«
»Das ist es ja. Wenn ich anfange, alles zu überdenken, möchte ich hier in unserem Ashfield bleiben.«
»Um dich dazu zu bringen, eine Ehe einzugehen, müsste man dich also entführen wie ein Raubritter, des Nachts und mit Gewalt. Ist es das, was du sagen willst?«
Agatha überlegte. Und nickte. »Ja, genauso ist es. Ich möchte überwältigt werden – aber natürlich nicht körperlich, sondern seelisch. Was meinst du: Ist das falsch?«
Es war im Oktober 1912, als Lord und Lady Clifford von Chudley in Exeter einen Ball gaben – für die Offiziere und die Truppe der dortigen Garnison. Selbstverständlich waren junge hübsche Damen hochwillkommen, und so erhielt auch Agatha diese unverhoffte Einladung. Alte Freunde von Frederick Miller hatten sie empfohlen, nahmen sie in ihrer Kutsche mit und stellten sie ein paar Bekannten vor. Ihre Tanzkarte war bald gefüllt, und als der erste Kavalier sich aufmachte, seine Dame abzuholen, kam ihm ein hochgewachsener junger Soldat zuvor. Er war Agatha schon aufgefallen, weil er so gut aussah. Er verbeugte sich vor ihr, sie schmiegte sich in seinen Arm, und er schwang sich mit ihr über das Parkett; ihr Gewissen pochte, weil ja ein anderer Kandidat auf ihrer Karte stand. Laut genug, um den Geräuschteppich aus Musik, Tanz und Gelächter zu übertönen, stellte sich ihr Tanzpartner vor: Leutnant Archibald Christie, Königliche Feldartillerie von der Brigade Exeter. Ob sie ihm auch den nächsten Tanz gönnen könne? »Sorry«, sagte Agatha, »der ist vergeben.« Archibald führte Agatha von der Tanzfläche zu den Stühlen am Rand des Saales, ließ sich ihre Karte zeigen, zog einen Stift aus seiner Uniformtasche und strich die nächsten drei Anwärter aus. »A-Aber –«, sagte Agatha, doch da war sie schon wieder am Arm ihres Kavaliers mitten unter den tanzenden Paaren. Der Leutnant hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen halb geschlossen, als könne er so besser auf die Musik und den Rhythmus achten, und lächelte.