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Was der sich herausgenommen hat, dachte Agatha auf der Heimfahrt von Exeter nach Torquay, ganz schön unverschämt. Er war ein Hasardeur, dieser Leutnant Christie, ein Abenteurer offenbar, aber auch ein Mann mit viel Mut. Er war vierundzwanzig Jahre alt, in Indien geboren und bei der Mutter mit Bruder Campbell in Bristol aufgewachsen. Das Soldatenleben, hatte er ihr erzählt, bedeute ihm weiter nichts, aber beim Militär könne er etwas machen, was für ihn als Zivilisten unerschwinglich sein würde: fliegen. Er habe sich bereits für das Königliche Fliegerkorps qualifiziert und besäße ein entsprechendes Zertifikat. Wie stolz er darauf war! Agatha sagte, dass sie ihn sehr gut verstehe und dass sie auch schon mal in die Lüfte aufgestiegen sei, bei einer Flugschau mit ihrer Mutter. Da konnte man einmal kurz mit einer Maschine in die Wolken tauchen, es kostete die enorme Summe von fünf Pfund. Es habe ihr unwahrscheinlich gut gefallen. Archibald küsste ihr die Hand. Jetzt lächelte auch sie.
Ein paar Wochen später spielte Agatha gerade bei der Nachbarsfamilie Mellors mit dem jungen Mellors Badminton, als ihre Mutter sich am Telefon meldete: sie solle doch bitte sofort nach Hause kommen, es sei Besuch für sie da. Agatha wusste, dass es Clara überhaupt nicht gefiel, wenn sie die Honneurs für einen Verehrer ihrer Tochter machen musste, und so lief sie gleich rüber nach Ashfield. Da saß im Salon niemand anderes als der blonde Soldat aus Exeter. ›Habe ich ihm denn gesagt, wo ich wohne?‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Nein, habe ich nicht, er muss sich bemüht haben, es rauszufinden.‹ Jetzt stand er auf, sie zu begrüßen, und er teilte ihr mit, dass er mit dem Motorrad gekommen sei. Allerhand, dachte sie. Und sagte: »Wie nett, Leutnant Christie, dass Sie vorbeigekommen sind.«
Nach diesem Überraschungsbesuch in Ashfield dauerte es nur ein paar Tage, und Archie war wieder da. Er kannte ja nun den Weg. Clara war skeptisch, was diesen selbstsicheren Jüngling betraf, er gefiel ihr, aber sie zweifelte, dass er für ihr Mädchen der Richtige sei. Sie fürchtete, er sei der Typ, der keine Rücksicht nimmt. Ganz anders Agatha. Sie interessierte sich jetzt für die Luftschifffahrt. Sie verschwand manchmal halbe Tage. Ihr Verehrer lud sie zu einem Konzert in Exeter ein und zum Neujahrsball in Torquay. Er wanderte mit ihr durch das unwegsame Dartmoor und erzählte dabei von den neuesten Fluggeräten. Wenn er sie nach Hause brachte, nahm er ihre Hand, und sie schaute nicht an ihm vorbei, sondern in sein Gesicht. Ihr Vorstellungsvermögen dichtete ihm keine Geschichte an, sondern verhielt sich ganz ungewöhnlich: es schwieg. Es überließ sie der Wirklichkeit. Sie drückte seine Hand, ging langsam ins Haus und in ihr Bett und sagte zu sich nur ein Wort, seinen Namen: Archie. Und dachte bei sich: ›Er ist mir so fremd.‹ Und schlief ein. Eines Abends, als sie im Pavillon an der Seepromenade Tee getrunken und sich von ihren Stühlen erhoben hatten, sagte er zu ihr mit ernster Miene: »Bitte heirate mich, Agatha!« Sie konnte gerade noch Ja sagen, dann kamen seine Arme und sein Kuss.
Agatha nannte ihre beiden Novellen, die sie für die kritischen Augen von Eden Philpotts ein letztes Mal überarbeitet hatte Vision (englisch: Vision) und Was für ein Eigensinn (englisch: Being so Very Wilful) und machte eine Randnotiz, in der sie Philpotts bat, es mit der Rechtschreibung nicht so genau zu nehmen, das könne man alles korrigieren. Diesmal brachte sie die Manuskripte ihrem Nachbarn selbst. Der Schriftsteller saß in einem Sessel am Fenster, er litt unter Gelenkbeschwerden und ging nur selten aus. Er bot Agatha den zweiten Sessel an.
»Ich bin sehr gespannt auf Ihr neues Werk«, sagte er. »Es kommt öfter vor, dass mir Manuskripte zur Begutachtung zugesandt werden. Meistens schicke ich sie mit ein paar Worten des Bedauerns zurück, denn meine Kräfte schwinden, ich kann nicht mehr allen gerecht werden. Aber auf Ihr Manuskript freue ich mich tatsächlich, da ist Leben im Text.«
Agatha errötete und stotterte: »Da-danke.«
»Man hört ja so dies und das«, fuhr Mr Philpotts fort, »und unsere Haushälterin ist sehr redselig. Es heißt, Sie hätten sich verlobt?«
Agatha lächelte und sagte: »Ja, ich bin verlobt und hoffe, bald zu heiraten. Und wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich unglücklich bin«, fügte sie, plötzlich entschlossen, ihrem Mentor die ganze Wahrheit zu sagen, hinzu, »dann dürfen Sie nicht denken, es sei wegen der Wahl, die ich getroffen habe. Es liegt daran, dass ich mich doppelt verlobt habe.«
»Nun, solange Sie nicht beide Männer heiraten, begehen Sie keine Straftat.«
»Das ist es ja. Ich muss einen von beiden furchtbar vor den Kopf stoßen.«
»Ich nehme an, derjenige, den Sie nicht heiraten wollen, ist der sympathische Lucy-Sohn, der derzeit in Indien stationiert ist?«
Agatha nickte. »Ich mag ihn sehr gern, wissen Sie. Deshalb steht es mir so bevor –«
»Verständlich, verständlich. Und der Glückliche, dem Sie Ihre Hand geben, ist dieser Leutnant aus Bristol vom Fliegerkorps, nicht wahr? Ein Pilot … Das ist natürlich ganz was anderes als ein Kanonier.«
»Es ist nicht nur das. Ich –«
»Natürlich. Sie lieben diesen Flieger, und Lucy ist nur sympathisch. Sie machen es richtig. Und wenn Sie in Zukunft nicht mehr so viel zum Schreiben kommen, dann grämen Sie sich nicht. Leben Sie, lieben Sie –« Er sah aus dem Fenster und murmelte: »Ich sah Sie da neulich entlanggehen mit Ihrem feschen jungen Mann. Da wusste ich: Ihre Leidenschaft für die Literatur hat Konkurrenz bekommen.«
Schon eine Woche später erhielt Agatha einen Brief von Eden Philpotts. Er schrieb:
»Liebe Agatha, ich möchte über Ihre Geschichte ›Being so Very Wilful‹ nicht in technische Details gehen, aber ich freue mich, sagen zu können, dass sie einen stetigen Fortschritt zeigt. Sie haben hart gearbeitet, und Sie haben ein natürliches Empfinden für Aufbau und Gleichgewicht. Tatsächlich entwickelt Ihre Arbeit sich so gut, und falls Ihr Leben sich als eines erweist, in dem für die Kunst Platz ist und Sie den schweren Weg nach oben wagen und gewinnen wollen, haben Sie jedenfalls genug Talent. Ich mache keine Prophezeiungen, aber ich schätze, wenn Sie bereits jetzt so schreiben können, werden Sie es weit bringen. Doch das Leben treibt einer ganzen Zahl von Leuten die Kunst aus, und Ihre zukünftigen Lebensumstände lassen Sie vielleicht einen anderen als den harten Weg der Kunst einschlagen. Wie auch immer –« Der Brief war sehr lang und ausführlich und enthielt etliche Lektüre-Empfehlungen, darunter Gustave Flauberts Madame Bovary. Er schloss mit: »Besuchen Sie mich, wenn Sie möchten und wenn Sie etwas wissen wollen oder Zeit für mehr Bücher haben. Ihr Freund Eden Philpotts«.
Agatha saß allein im Schulzimmer, als sie den Brief las. Sie küsste ihn nach dem Lesen und stand dann auf, um ihn Clara zu zeigen. Sie lachte laut, als sie die Treppenstufen runterlief. Clara las und lachte und wiederholte inbrünstig die lobenden Passagen. »Darling«, rief sie, »wie wunderbar! Am liebsten würde ich diesen Brief in die Zeitung setzen lassen. – Aber was meint Mr Philpotts, wenn er schreibt: Das Leben treibt einer ganzen Zahl von Leuten die Kunst aus …?«
Agatha setzte sich auf die Lehne von Claras Sessel. »Ich habe ihm erzählt, dass ich meine erste Verlobung lösen muss und dass ich heiraten werde, verstehst du? Er hat auch gesagt, er hätte mich mit Archie gesehen, von seinem Fenster aus.«
»Zu Reggie bist du auf Abstand gegangen, als du gefürchtet hast, er würde dich nicht singen lassen. Meinst du, Archie könnte was dagegen haben, dass du schreibst?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Was heißt das nun, Mama? Dass ich ganz sicher bin: Er wird nichts dagegen haben? Oder dass es mir egal ist und ich nachgeben würde, wenn er was dagegen hätte?«
Es wurde eine stürmische Verlobungszeit, sie dauerte anderthalb Jahre. Agatha schrieb Reggie, dass sie die Verbindung mit ihm lösen müsse, und Reggie schrieb zurück, er sei ein Idiot gewesen, sie nicht sofort geheiratet zu haben. Als Agatha das las, weinte sie und machte sich dann hübsch für Archie. Der seinerseits hatte nach Rücksprache mit seinem Ausbilder nun doch Bedenken, sofort zu heiraten: das Militär fürchtete Versorgungsansprüche von Witwen und bevorzugte unverheiratete Anwärter, also hatte man Archie nahegelegt, sich jetzt noch nicht zu binden. »Es ist nur bis zur Abschlussprüfung«, sagte er zu Agatha, aber die war erneut schwer enttäuscht. Archie bot ihr an, sie freizugeben, was die Ärmste nur noch unglücklicher machte. Als aber Clara in dasselbe Horn stieß, weil sie wusste, dass Archie mit seinem jetzigen Sold niemals einen standesgemäßen Hausstand gründen könne, fügte sich Agatha in eine längere Wartezeit. Dann geschah es, dass Claras Mutter nach Ashfield ziehen musste, weil sie erblindete und nicht mehr allein zurechtkam und die Verhältnisse im Hause nun noch enger wurden. Es fehlte an Geld, Personal musste entlassen werden. Agatha sah ein, dass sie künftig im Haushalt mitarbeiten müsse und dass sie, wie die Dinge lagen, moralisch nicht berechtigt sei, Ashfield zu verlassen. Ihre Zweifel gipfelten in dem Vorschlag, jetzt ihrerseits die Verlobung zu lösen. Clara war hin- und hergerissen. Sie wollte Agatha nicht verlieren, ihrem Glück aber auch nicht im Wege stehen. Archie war empört über diese Wendung der Dinge und widersetzte sich der Trennung in aller Entschiedenheit. »Niemand kann für mich das sein, was du für mich bist«, schrieb er ihr, »vergiss mich nie, mein Liebling und liebe mich in alle Ewigkeit.« Zur Not würde er seine Braut entführen. Für Agatha war das genau die richtige Ansage. Aber als sie sich an ihr Pult setzte, um Archie nach Netheravon, wo er seine Übungen absolvierte, einen Liebesbrief zu schreiben, kam Clara mit einer Neuigkeit herein, die sie eben vom Markt in Torquay mit nach Hause gebracht hatte: Auf dem Kontinent war der Krieg ausgebrochen. Es werde auch in England zur Mobilisierung kommen.
II
Archie
Das Fliegerkorps wurde zuerst eingezogen, Archie wartete auf seinen Marschbefehl. Der kam sehr bald: Seine Staffel musste von Southampton aus nach Frankreich starten, es ging los. Agatha und Archie trafen sich ein letztes Mal Anfang August in Salisbury, sie konnten einander nur wenig sagen und beließen es dabei, sich in den Armen zu halten und die Tränen zu verbergen. Es war eine Trennung, ohne dass die Trauung vorausgegangen war, ohne dass sie einander schon angehörten. ›Ich schaffe es einfach nicht zu heiraten, was ist bloß los mit mir?‹, dachte Agatha, ›dabei möchte ich nichts auf der Welt so gerne. Ich habe es mir immer wieder ausgemalt, stand auch schon kurz davor – mit Bolton, mit Reggie und jetzt mit Archie. Aber es wird nie wirklich was draus. Wie in einem Albtraum, wenn man laufen will und die Füße sind am Boden angewachsen. Bin ich etwa die ewige Braut – die nie Ehefrau wird? Werde ich in aller Zukunft eine alte Jungfer sein? Jetzt bin ich schon fast 24!‹ Agatha seufzte und schnupfte in ihr Taschentuch auf der Rückfahrt nach Torquay. Dort entschloss sie sich, etwas zu tun. Schon, um nicht immer an ihre Ehelosigkeit denken zu müssen und daran, ob Archie womöglich abgeschossen worden sei und sie ihn verloren habe. Sie meldete sich beim Freiwilligen Hilfskomitee und trat umgehend ihren Dienst als Schwesternhelferin im Lazarett an, das in der großen Town Hall untergebracht war.
Der Hafen in Torquay wurde häufig von Schiffen mit Verletzten angefahren, hier kam Agatha in Kontakt mit Kriegsopfern, und das brachte sie Archie näher. Sie war von Anbeginn einsatz- und lernbereit und ließ sich weder durch klaffende Wunden noch Schmerzensschreie der Patienten abschrecken. Die Arbeit war hart und belastend, die jungen weiblichen Freiwilligen wurden angeherrscht und rumgescheucht, aber Agatha klagte nicht, versagte nicht und stand jeden Morgen zu allem bereit auf der Matte. Sie wollte ihren Beitrag leisten in diesem Kriegsgeschehen. Sie wollte hinter Archie nicht zu weit zurückstehen. Die Oberschwester war klug genug, die Freiwilligen anzulernen. » Glauben Sie ja nicht«, musste Agatha sich anhören, »Sie könnten sich nützlich machen, indem Sie etwas tun, was Sie nicht gelernt haben. Sie könnten großen Schaden anrichten.« Agatha schrieb sich den Satz hinter die Ohren und übte sich ausdauernd im Verbände-Wechseln, Wunden-Reinigen und im Lagern und Transportieren der Versehrten. »Ich beschloss, auf jeden Fall durchzuhalten.« Bald war sie recht angesehen auf der Station. Sie überlegte sogar, ob sie nicht eine regelrechte Ausbildung zur Krankenschwester beginnen solle. Es war das erste Mal, dass sie eine richtige Arbeit hatte, sie bekam einen kleinen Lohn, und sie war stolz darauf. »Ich wäre eine gute Krankenschwester geworden«, sagt sie in ihren Memoiren. Wie auch später stets in ihrem Leben bewunderte sie Kompetenz, ganz gleichgültig in welchem Bereich, und wenn ihr die Möglichkeit gegeben wurde, etwas zu erlernen und richtig gut zu machen, griff sie zu. So auch jetzt im Lazarett. Am Abend schrieb sie Briefe an Archie und las die Briefe, die er schrieb. Clara und sie studierten täglich in der Zeitung die Liste der Verletzten und Gefallenen. So viele würden niemals wiederkommen, es waren Nachbarn und Bekannte darunter. Agatha betete für ihren Liebsten. Und Clara dachte an Monty, der in Afrika kämpfte.
Zu Weihnachten bekam Archie Urlaub. Die Verlobten trafen sich in Bristol, wo Peg Hemsley, Archies Mutter, mit ihrem zweiten Ehemann William lebte. Dort standen sie einander gegenüber, frierend, befangen, um Worte verlegen.
»Es war, als müssten wir wieder ganz von vorn anfangen«, so Agatha im Rückblick. »Der Unterschied zwischen uns beiden machte sich sofort bemerkbar. Seine betonte Lässigkeit, sein frivoles Gehabe störten mich. Ich wiederum war ernster und empfindsamer geworden und hatte die Unbeschwertheit meiner glücklichen Mädchenzeit weitgehend abgelegt. Es war, als bemühten wir uns vergeblich, einander näherzukommen, als entdeckten wir bestürzt, dass wir vergessen hatten, wie wir das anstellen sollten.«
»Ich bin befördert worden«, sagte Archie, »ich habe eine Belobigung für Tapferkeit erhalten.«
»Die hast du verdient.«
»Aber ich werde mit der Fliegerei Schluss machen müssen, ich halte den Luftdruck in der Höhe nicht aus. Irgendwas in meinen Nebenhöhlen ist geplatzt.«
»Ach ja? Wie schrecklich.«
»Ich werde zur Artillerie versetzt.«
Archies Mutter brachte Tee. Ihr Gatte scherzte mit dem Stiefsohn und klopfte ihm auf die Schulter. »Der Krieg wird am Boden entschieden, mein Junge, es ist gut, zur Artillerie zu gehen. Schießt ihn in den Grund, den Kaiser, gebt ihm Saures mit den Kanonen.« Archie lächelte gequält. Er hatte den Krieg erlebt, konnte aber nicht darüber sprechen und wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Agatha hatte um ihn gebangt und wünschte, sie könne ihrer Freude Ausdruck verleihen, dass er nun bei ihr war. Aber es war ihr nicht möglich. Sie hätte auch gern von ihrer Arbeit im Hospital erzählt, doch wenn sie dazu ansetzte, blieb ihr die Stimme weg. Alles was sie fühlte war: Er ist mir fremd, er ist mir entsetzlich fremd. Als Archie ihr dann sein Geschenk überreichte, brach sie in Tränen aus. Sie schrie ihn an: »Was soll das?« Es war kein Ring, kein Armband, kein seidenes Tuch – es war etwas Praktisches, ein Reisenecessaire. Dieser Verstoß gegen alle Regeln einer romantischen Courtoisie warf Agatha um. Sie forderte ihn auf, das Geschenk zum Lederwarenhändler zurückzubringen. Er knallte die Tür. Als er wiederkam, passte sie ihn in der Diele ab, gab ihm ihre Hände und flüsterte: »Es tut mir so leid. Lass uns nie mehr streiten. Lass uns wieder gut sein, für immer. Wie ist das: Kannst du nicht bald noch einmal Urlaub nehmen, damit wir heiraten können?«
Archie schüttelte den Kopf und redete mit gepresster Stimme auf sie ein: »Es geht nicht, das weißt du. Es wäre völlig falsch. Man darf es nicht übereilen. Du kriegst eine Kugel ab, es erwischt dich, und du lässt eine junge Witwe zurück, am Ende ist auch noch ein Kind unterwegs. Nein, das wäre egoistisch und falsch.«
Agatha stand wortlos da. Dann sprach sie, zitternd: »Ich sage dir jetzt mal, was hier passiert, Archie. Es ist das Luftfahrtministerium, dem wir unser Glück opfern, es ist deine Fliegerstaffel, es ist der Krieg. Ist es das wert? Sag mir ins Gesicht, dass du England und seinem Kriegsministerium enger verbunden bist als mir.«
Archie schwieg. Er sah bitter aus und plötzlich viel älter. Eine Weile ging er auf der Diele hin und her. Dann blieb er vor ihr stehen, packte sie bei den Ellenbogen und rief:
»Ja, du hast recht, Schluss mit dem Hin und Her. Kein Aufschub mehr, Agatha. Wir heiraten heute noch.«
»Bist du verrückt?«
»Ja. Wir heiraten sofort.«
»Aber es dauert Wochen, bis man eine Lizenz bekommt.«
»Im Krieg werden Ausnahmen gemacht. Ich weiß das ganz sicher. Ein Kamerad hat kürzlich –«, und da hatte er ihr schon den Mantel umgelegt und sie zur Tür geschoben. »Lass uns sofort alles in die Wege leiten. Morgen müssten wir es hinbekommen.«
»Aber morgen ist Heiliger Abend!«
»Ein guter Tag zum Heiraten!«
Und in der Tat, Archie kriegte es hin. Als Offizier erhielt er eine Sondergenehmigung, für acht Pfund ergatterte er eine Heiratslizenz, er und seine Verlobte mussten nur ihre Ausweise vorzeigen. Zur Trauung liefen sie in die Gemeindekirche des Bristoler Bezirks Clifton, William Hemsley begleitete sie als Trauzeuge, und unterwegs trafen sie – was für ein Zufall! – eine Freundin Agathas aus Torquay, die hier Verwandte besuchte. »Du musst mit mir kommen und unsere Trauzeugin sein«, rief Agatha und zog die Freundin am Ärmel mit sich fort. In der Kirche übte gerade ein junger Organist. Agathas Schwiegervater forderte ihn auf, den Hochzeitsmarsch zu intonieren, während Archie zum Hilfspfarrer in die Sakristei stürmte: »Kommen Sie schnell, Sie müssen uns trauen!« Da stand nun Agatha in einem schlichten Straßenkostüm mit ihrem Flieger vor dem Altar, ohne Hochzeitsgesellschaft, ohne Brautstrauß und ohne Ring, aber sie tat endlich das, was sie so lange schon hatte tun wollen: sie heiratete. »Als die Zeremonie begann«, so erinnerte sie sich später, »dachte ich einen traurigen Moment lang, dass wohl keine Braut jemals weniger Mühe auf ihr Aussehen verwendet hat. Kein Brautkleid, kein weißer Schleier, nicht einmal ein hübsches Kostüm.« Dafür ein hübscher Mann an ihrer Seite und die tiefe Befriedigung, nun Mrs Christie zu sein.
Clara, Madge und Archies Mutter – sie waren alle empört über diesen Coup und tief enttäuscht darüber, um ein großes Fest gebracht worden zu sein. Das junge Paar nahm das in Kauf. Der Krieg veränderte die Prioritäten, auch das zivile Leben verlief jetzt anders, man machte sich seine Regeln neu, und vieles, was früher unverzichtbar erschienen war wie etwa eine Hochzeit in Weiß, war jetzt nicht mehr wichtig. Archie buchte per Telefon im Grandhotel Majestic von Torquay ein Zimmer, die Brautleute fuhren hin und verbrachten ihre Hochzeitsnacht in Agathas Heimatstadt. Weihnachten feierten sie in Ashfield. Drei Tage später musste Archie zurück an die Front.
Agatha nahm ihren Dienst im Lazarett wieder auf. Es gab viele Gründe für sie, den Krieg zu verfluchen: er hatte ihr den Ehemann weggenommen, und er nötigte sie, ihre Tage mit Sterbenden zu verbringen, in einem Miasma aus Blut und Chloroform, er hielt sie fest in ihrem Elternhaus, aus dem sie sich nun gerade mutig wegbewegen wollte. Sosehr sie immer noch an Ashfield hing – den Anfang des Ehelebens hatte sie sich als Nestbau vorgestellt, als den Erwerb und die Einrichtung eines Hauses, darauf insbesondere hatte sie sich gefreut, und nun wurde nichts daraus. Stattdessen: Hilfsdienst, täglich, auch sonntags. Zu Hause: der blinden Großmutter vorlesen, mit dem Strickzeug im Wohnzimmer hocken, dem Stubenmädchen zur Hand gehen, Schränke aufräumen, im Garten mit anfassen. Zwischendurch stahl sie sich ins Schulzimmer, um ein bisschen zu schreiben. Für ihren ersten Roman hatte sie keinen Verlag gefunden. Aber jetzt wollte sie die Wette mit Madge gewinnen. Und sich und der Welt beweisen, dass sie einen Krimi schreiben konnte.
»Agatha, glaubst du nicht, dass unser trefflicher Sir Arthur Conan Doyle schon alles getan hat, was man in diesem Genre tun kann? Wie willst du Sherlock Holmes übertreffen?«, fragte Clara ihre Tochter beim Dinner.
»Ich muss ihn nicht übertreffen. Ich kann versuchen, es anders zu machen.«
»In welcher Hinsicht?«
»Ich möchte einen ganz anderen Detektiv-Typen erfinden. Keinen Spurenleser, sondern einen Charakterkundler. Er soll den Fall intuitiv lösen, aber ohne dass er die Fakten ignoriert. Er interpretiert sie bloß auf seine Art. Er soll sich einen Begriff vom gesamten menschlichen Szenario machen, in dem der Mord passiert – und dann seine Schlüsse ziehen. Für mich heißt das, ich muss immer die Perspektive des Täters im Auge behalten, solange er der Einzige ist, der die Wahrheit kennt. Entlang dieser Perspektive muss ich erzählen, aber ohne die Zusammenhänge zu klären. Am Anfang der Geschichte müssen sie verdeckt bleiben, ebenso wie das wahre Motiv.«
»Wie kann man das im Dunkeln lassen – es gibt ja gar nicht so viele Motive. Und die liegen doch meist offen zu Tage«, sagte Clara. »Lass uns überlegen – was sind das für Leidenschaften, die einen Menschen bewegen zu morden? Geldgier, Machtgier, Rache, Angst, Eifersucht …«
»Und ›verschmähter Liebe Pein‹, so heißt es im Hamlet. O Mama, ich möchte so gerne ein Stück für die Bühne schreiben.«
»Das Drama – die Königsdisziplin. Dachtest du an ein Kriminalstück? Passt das denn, eine Mörderjagd und die Bühne?«
»Unbedingt. Schließlich ist Hamlet auch ein Krimi. Der Prinz ist zugleich ein Detektiv, er sucht den Mörder seines Vaters.«
»Ich dachte immer, Hamlet sei ein Drama über Melancholie und Lebensüberdruss.«
»Mag sein, aber vor allem ist das Stück ein spannender Krimi.«
»Man weiß doch gleich, wer der Mörder war, denn Hamlet bekommt einen Tipp aus dem Jenseits. Der Geist seines Vaters erscheint ihm und klärt ihn auf.«
»Schon richtig, aber jetzt muss Hamlet in der wirklichen Welt den Beweis führen. Nicht so einfach. Zumal der Mörder sehr schnell merkt, dass er verdächtigt wird und sich einerseits vorsieht, andererseits dem Detektiv nach dem Leben trachtet.«
»Aber das Motiv ist doch klar: Claudius will an die Macht, er will den Thron.«
»Mehr noch: Er will Gertrud, er will die Frau seines Opfers, Hamlets Mutter.«
»Oho. Und die will auch ihn?«
»Das ist ein Kniff von Shakespeare. Er lässt es offen. Aber man kann das Stück so lesen, Mama, dass der Mord ein Komplott war.«
»Und Hamlet, der das alles durchschaut, verfällt in Melancholie …«
»Ja, weil er sieht, wie stark das Böse in der Welt ist. Man kann keinen Krimi schreiben, glaube ich, ohne darauf zu sprechen zu kommen, wie stark das Böse in der Welt ist.«
»Liebes, hast du je mit Mr Christie darüber gesprochen, dass du auch in Zukunft schreiben willst?«
Agatha legte das Messer auf den Teller. »Mutter«, sagte sie, »warum nennst du meinen Mann Mr Christie? Sag doch wenigstens Archibald.«
»Er ist mir immer noch ein bisschen unheimlich. Und jetzt diese übereilte Heirat …«
»Nach einer Verlobungszeit von achtzehn Monaten sprichst du von ›übereilt‹?«
»Du weißt genau, was ich meine. Der Krieg ist kein Grund, sich in eine Ehe zu stürzen, die man dann gar nicht leben kann. Ihr seid doch so oder so gezwungen zu warten, ob mit Trauschein oder ohne.«
»Warten, warten, warten. Mir ist es inzwischen zuwider. Was hieltest du davon, wenn ich mir Männerkleider anziehen würde, mich zur Truppe meldete und zu Archie nach Frankreich ginge?«
»Haha! Shakespeares Mädchen in Hosen sind ja immer zauberhaft, aber nicht im Krieg, darling. Ich fürchte, du musst dir eher öfter mal eine Schürze umbinden und in der Küche helfen. Jane hat gekündigt.«
»Nein!« Agatha warf die Gabel hin. Sie hatte von einem Moment auf den anderen keinen Appetit mehr. »Das kann sie nicht machen, nein, Mama.«
»Doch, sie kann. Ihr Bruder ist pflegebedürftig geworden und braucht sie. Sie wird zu ihm ziehen.«