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Im Lazarett wurde eine neue Abteilung gegründet – eine Apotheke. Sie war im Stadtkrankenhaus untergebracht. Die Hilfsdienstleistenden konnten sich dort in einem Kursus zur Apothekenhelferin ausbilden lassen, richtig mit Abschlussprüfung. Agatha war sofort interessiert. Pharmazie hatte ihr immer schon gefallen, die geheimnisvolle Welt der Wässerchen, Essenzen, Pulver und Giftpflanzen – gern wollte sie mehr darüber wissen. Also wechselte sie in die neue Abteilung und belegte den Lehrgang. Sie tat das auch, weil sie wusste, dass Archie ihr Engagement auf der Lazarettstation scharf missbilligte. »Warum sollst du dich dort abmühen und so viel Schreckliches miterleben?«, fragte er sie. »Du kannst dich doch auf andere Art nützlich machen.« Das tat sie jetzt. Die Lehrerin »begann mit der Theorie«, erzählte Agatha später, »nicht mit der Praxis. Plötzlich mit Atomgewichten und Steinkohleteer-Derivaten konfrontiert zu sein, das konnte für mich nur in völliger Verwirrung enden. Aber schließlich fand ich mich doch zurecht und begriff die einfachen Fakten. Und nachdem uns bei einer Probe zum Nachweis geringer Arsen-Mengen unsere Kaffeemaschine explodiert war, machte ich recht gute Fortschritte.«

Agatha mit ihrem ersten Ehemann, Archibald Christie (1889–1962).
Die Gifte! Arsen, Zyankali, Curare – Agatha musste unbedingt wissen, wie sie wirkten, was sie im menschlichen Körper anrichteten und was für Spuren sie hinterließen. Sie plante einen Giftmord – auf dem Papier, in ihrem Krimi. Während sie Substanzen abwog und mischte, wanderten ihre Gedanken zu ihrem neuen Roman, und sie ersann einen Plot. Aber sie rief sich immer wieder zur Ordnung und zur Konzentration auf die Pharmazeutika. Der größte Teil ihrer Arbeit in der Lazarett-Apotheke galt zwar harmlosen Stoffen, die zu Medikamenten zusammengerührt wurden, aber auch hier kam es auf Genauigkeit an und somit auf größte Sorgfalt. »Als Amateure in der Spitalarbeit bereiteten wir alle Arzneien mit äußerster Präzision zu. Wenn der Arzt zwanzig Gran Wismutkarbonat für eine Dosis verschrieb, bekam der Patient genau zwanzig Gran. Das war richtig so, eben weil wir Amateure waren, aber ich kann mir gut vorstellen, dass ein Apotheker, der fünf Jahre studiert hat und einen akademischen Grad besitzt, sein Handwerk ebenso perfekt beherrscht wie eine Köchin das ihre. Mit großer Selbstverständlichkeit mischt er die Ingredienzen, ohne alles abzumessen oder zu wiegen. Er weiß es einfach. Bei Giften und gefährlichen Drogen ist er natürlich sehr genau, aber harmloses Zeug kommt in ungefähren Mengen dazu. Ähnlich geht es auch bei Färbemitteln oder Würzessenzen zu. Er macht es Pi mal Daumen.« Agatha führte ein Notizbuch, in dem sie die besonderen Eigenschaften verschiedener Substanzen aufschrieb, ihre Gerüche, Konsistenzen und Reaktionen an der Luft und im Wasser. ›Wer weiß, wann ich je wieder so tief in diese mysteriöse Welt hineingucken kann‹, sagte sie sich. Antimon, Belladonna, Digitalis, Morphium, Strychnin – so hießen die Überschriften in ihrem Büchlein. Als die Prüfung vor der Apotheker-Gilde anberaumt wurde, war Agatha ziemlich nervös. Sie hatte mehr Gewicht auf ihre Privatstudien gelegt und den Lehrplan nicht so ernst genommen. Aber sie bestand trotzdem – allerdings knapp. Bald darauf meldete sie sich bei der Handelsschule für einen Kursus in Stenografie und Maschineschreiben an. Die Kurzschrift lag ihr gar nicht, aber beim Maschineschreiben kam sie gut voran.
Wenn Archie einen seiner kurzen Urlaube erhielt, traf sich das Paar mal in London, mal in einem kleinen verschwiegenen Ort, bezog ein Hotel und feierte die zweite, die dritte und die vierte Hochzeitsnacht. Sie hatten so wenig Zeit füreinander gehabt, und es sah nicht so aus, als ob sich das bald ändern würde – der Krieg zog sich hin, er schien keineswegs jener begrenzte Waffengang zu sein, als den ihn die britische Presse und das Kriegsministerium eingeschätzt hatten. Archie war zum Bataillonskommandanten befördert und erneut wegen besonderer Tapferkeit ausgezeichnet worden. Agatha gegenüber spielte er die die Gefahr und den Schrecken herunter – das machten alle so, insbesondere die Offiziere, es galt als unschicklich, mit Müttern und Ehefrauen Klartext zu reden und so ihre Ängste zu steigern. Aber es nützte natürlich nichts. Die Frauen wussten genau, was im Feld geschah, Agatha sogar sehr genau, denn sie hatte an den Betten der Verwundeten gesessen und ihre Geschichten gehört.
»Weißt du, was ich gern täte?«, fragte sie Archie im Garten eines kleinen Hotels in New Forest, »ich würde mir gern Männerkleider anziehen, eine Einberufung fälschen und in den Krieg ziehen, zufällig genau in deinen Truppenteil.«
Archie küsste ihre Wange. »Sei froh, dass du das nicht musst«, sagte er. Und dann klagte er doch ein wenig – darüber, dass er nicht mehr fliegen konnte. Es hatte ihm so viel bedeutet. Er vermisste die Wolken. »Du musst mich entschädigen. Du und dein goldenes Haar.«
»Warum treffen wir uns nicht nächstes Mal in Ashfield?«, fragte Agatha. »Ich möchte mit dir auf der Terrasse sitzen. Und wir könnten den Pier entlangwandern …«
»Lass uns lieber nach Bristol gehen«, antwortete Archie, »ich scheue Ashfield wegen deiner Mutter. Ich habe das Gefühl, dass sie mich ablehnt.«
»Das tut sie ganz und gar nicht. Im Gegenteil, du gefällst ihr. Aber du hast eben diesen einen großen Nachteil: du nimmst mich ihr weg. Das ist es, womit sie nur schwer fertigwird.«
»So ein Unsinn. Du wirst 26. Alle Mütter müssen ihre Töchter gehen lassen. Das ist der Lauf der Welt.«
»Mit Clara hat es eben eine besondere Bewandtnis.«
»Was für eine Bewandtnis?«
»Sie kann Trennungen nicht vertragen. Und ich bin die Letzte, die sie noch hat. Verstehst du?«
»Nein, verstehe ich nicht.«
»Wirst du aber, wenn du weißt, wie meine Mutter aufgewachsen ist. Sie hat ihren Vater verloren, da war sie neun Jahre alt. Sie hatte noch drei Brüder. Ihre arme Mutter Mary Ann, meine Omi, stand nun allein in der Welt, sie bekam nur eine winzige Pension. Da hat Claras Tante Margaret, Omis Schwester, der Witwe ein Angebot gemacht. Margaret war jung verheiratet und gut gestellt, und sie sagte zu ihrer Schwester Mary Ann: Gib uns eins deiner Kinder ab, wir ziehen es für dich auf, dann ist deine Bürde ein bisschen weniger schwer. Und Omi gab Tochter Clara zu ihrer Schwester. Meine Mutter musste also ihre Familie verlassen und zur Tante ziehen, die außerordentlich lieb zu ihr war, aber es war eben nicht die Mutter. Es war eine neue Familie, in die sie sich erst einleben musste. Und das ist nicht gut gelungen. Verstehst du jetzt?«
»Huh«, machte Archie, »die Ärmste ist also weggegeben worden?«
»So ist es. Sie hatte furchtbares Heimweh, das nicht vergehen wollte. Bis heute fühlt sie sich von Trennungsängsten verfolgt. Ehrlicherweise muss man aber zugeben, dass der Wechsel für Clara auch was Gutes hatte. Sie lernte dort ihren Cousin Frederick kennen. Der war nicht ihr richtiger Cousin, keine Blutsverwandtschaft, er war der Sohn aus erster Ehe von Tante Margarets Ehemann, einem Amerikaner, der Miller hieß. Ihr Cousin Frederick Miller gehörte also mit zur Familie, er war neun Jahre älter als meine Mutter. Er hat sie, als sie Kinder waren, immerzu geneckt und geärgert und geknufft, und als Clara erwachsen war, ging das so weiter, nur mit anderem Unterton. Und stell dir vor: Irgendwann machte er ihr den Antrag. Mein Vater Frederick Miller, ja. Sie ist also doch noch gut ausgegangen, Claras Geschichte. Aber dass ihr Trennungen zu schaffen machen, das müsstest du jetzt verstehen.«
Archie brummte vor sich hin. Dann nickte er und sagte: »Einverstanden. Bei meinem nächsten Urlaub komme ich nach Torquay. Und nach Ashfield. Ich will deiner Mutter klarmachen, dass sie sich von ihrem Schwiegersohn Archie Christie niemals trennen muss.«
Oft saß Agatha im Schulzimmer, starrte aus dem Fenster und dachte über ihren Krimi nach. Er würde ihr gelingen, das fühlte sie, und sie würde diesmal Mr Philpotts mit dem Manuskript verschonen, es dafür sogleich an einen renommierten Verlag schicken. »Ich konnte mir natürlich einen sehr ungewöhnlichen Mord und ein sehr ungewöhnliches Motiv ausdenken, aber das entsprach nicht meiner schriftstellerischen Absicht. Der ganze Witz eines guten Kriminalromans besteht darin, dass einer offensichtlich der Mörder sein muss, es aber ebenso offensichtlich aus irgendeinem Grund nicht sein kann. Obwohl er es natürlich ist …« Agatha hatte von Madge eine alte Schreibmaschine geerbt, an der saß sie in ihrer freien Zeit, übte für den Kursus und tippte die handschriftlichen Skizzen für ihren Krimi ab. So eine Seite sah, wenn man sie aus der Maschine herausdrehte, auf eine herrliche Weise gedruckt aus. Das war ein Vorgeschmack auf das Buch, das sie irgendwann in Händen halten würde. Würde sie? Anfang und Ende hatte sie schon genau im Kopf, einige Passagen schrieb sie auf gut Glück nieder – aber sie hatte noch keinen Detektiv. Madge glaubte nicht an das Projekt, sie fand, Agatha sei für die Genauigkeit, die ein Krimi verlange, zu wunderlich. Aber Clara nickte ermutigend. Eines Tages kam sie zu Agatha ins Schulzimmer, setzte sich auf den Sessel für die Lehrerin und fragte geradeheraus:
»Hast du mit Archibald über deine schriftstellerischen Pläne gesprochen?«
»Ich habe mal so etwas angedeutet«, erwiderte Agatha, »er fand das ganz in Ordnung. Hab keine solchen Bedenken, Mama, Archie ist ein ziemlich moderner Mann, und er wünscht sich eine moderne Frau, eine, die selbständig denkt und handelt und – schreibt.«
»So was sagen die Männer vor der Ehe, und hinterher wollen sie, dass man nur für sie allein da ist.«
»Aber wir sind doch nicht mehr ›vor der Ehe‹.«
»Praktisch schon. Ihr führt doch kein Eheleben.«
Agatha seufzte. »Dieser Krieg kann nicht ewig dauern.«
Clara sagte: »In Russland hat es eine Revolution gegeben. Das bedeutet weitere Flüchtlinge für uns, diesmal aus dem Zarenreich.«
Agatha überlegte: »Mein Krimi spielt im Hier und Heute. Was hieltest du davon, wenn mein Detektiv ein geflüchteter Ausländer wäre? Einer, der in seiner Heimat ein Kriminalbeamter war?«
»Soll er denn sympathisch sein?«
»Nicht unbedingt. Ich stelle ihn mir ein wenig sonderbar vor, mit einer speziellen Begabung. Er sieht hinter die Fassaden. Aber sympathisch? Hm. Manche mögen ihn, andere nicht. Auf jeden Fall ist er ein Außenseiter. Seiner Umgebung soll er ein wenig unheimlich sein, weil er Dinge wahrnimmt, die anderen entgehen.«
»Das ist üblich bei einem Detektiv. Aber um eins bitte ich dich: kein Russe!«
»Nein-nein, er muss ja Englisch sprechen und auch sonst Bildung haben.«
»Wie wäre es denn – du hast doch sicher von dieser Kolonie in der Gemeinde Tor gehört, dort hat man Leute untergebracht, die kurz nach Kriegsbeginn aus Belgien geflohen sind …«
»Ein Belgier! Ja, warum nicht? Man spricht dort Französisch, oder? Jedenfalls in größeren Landesteilen. Alle werden meinen Detektiv für einen Franzosen halten, weil er diesen Akzent hat. Und er kann seine Mitmenschen dann ein bisschen von oben herab berichtigen: ›Ich bin Belgier.‹ Und ich darf immer mal französische Wendungen einfließen lassen, etwa: ›Ah, mon ami‹, oder ›Voilà!‹ oder ›Eh bien!‹ – So was frischt einen Dialog auf! Ja, danke, Mama, der Vorschlag ist wirklich gut.«
Clara lächelte. »Und der Name?«
»Lass mich überlegen. Wie heißen Belgier denn so?«
»Lilian Pirie hat einen Belgier aus dieser Kolonie kennengelernt, der heißt Vandewall.«
»Nee. Es gibt doch wohl französische Namen in Belgien, oder? Ein bisschen Harmonik sollte schon mitschwingen; diese germanischen Namen klingen durch die Bank entsetzlich barsch und bestenfalls schwermütig.«
»Ja, warte, dieser Vandewall hat einen Nachbarn namens – äh – Poiret. Wie ist es denn damit?«
»Passt schon eher. Ich werde ihm übrigens einen Freund an die Seite stellen, mit dem er sich über den Fortgang seiner Ermittlungen austauscht. Damit ich diesen Fortgang in einen Dialog packen kann, verstehst du? Der Freund hat schon einen Namen: Major Arthur Hastings.«
»Ein bisschen wie bei Sherlock Holmes und Dr. Watson, he?«
Agatha errötete. »Nun ja, aber dass ein Detektiv einen Freund hat, dem er sich anvertraut, das ist ja sozusagen trivial. Das ist Realität.«
»Verrate mir doch, woran stirbt denn dein armes Mordopfer?«
»Ich denke mal: Strychnin.«
Ideen kamen Agatha im Gehen. Dabei tat sie dasselbe, was sie als Kind getan hatte, wenn sie durch den Garten schnürte und sich Wesen, Gestalten, Personen ausdachte, mit denen sie dann spielte. Sie probierte auch ihre fiktiven Dialoge so im Gehen aus. ›Wenn man ein neues Buch plant, ist nichts besser, als irgendwo einen langen Spaziergang zu machen. Das fehlende Glied in der Kette (englisch: The Mysterious Affair at Styles) schrieb ich gewissermaßen im Gehen. Man kann erst anfangen zu schreiben, wenn man sich die Figuren überlegt und das Gefühl hat, dass sie real sind. Dann kann man mit ihnen durch den Garten spazieren.‹ Lange überlegte sie, in welcher Gestalt ihr Detektiv, den Poirot zu nennen sie sich entschlossen hatte, ihr selbst und dem Lesepublikum begegnen sollte. Eine außergewöhnliche Erscheinung würde er sein, so viel war klar. Sie hatte einmal in der Straßenbahn einem Mann gegenübergesessen, der mit seiner Sitznachbarin französisch parlierte und einen sehr eigenartigen Akzent hatte. Irgendwann redeten die beiden über Brüssel, und es war klar, dass es sich um die Heimatstadt des Mannes handelte. Ein Belgier also. Er war sehr klein und rund, hatte einen Eierkopf und einen großen Schnurrbart. Dieser kleine Herr kam Agatha sogleich in den Sinn, als sie sich entschlossen hatte, ihren Detektiv einen Belgier sein zu lassen. Sie seufzte ein wenig, als sie entschied, Poirot äußerlich nach dem Mann aus der Bahn zu formen, denn der war alles andere als attraktiv. Aber sie hatte keine Wahl, denn sie wusste, dass ihre Phantasie reflexartig auf den kleinen Schnurrbartträger zurückkäme, wenn sie über Poirot schreiben und ihn sich dabei vorstellen würde. ›Er wird die Menschen verstehen und stolz darauf sein‹, dachte sie, ›und ich werde ihm einen Vornamen geben, der in scharfem Gegensatz zu seinem Wuchs steht: Hercule … Er sollte Inspektor in seiner Heimat Belgien gewesen sein, um über eine gewisse Erfahrung in der Verbrechensbekämpfung zu verfügen. Er würde sehr ordentlich, sehr exakt sein, ein Mann, der die Dinge zurechtrückte, sie paarweise anordnete, der eckige Formen lieber hatte als runde. Er sollte sehr intelligent sein, eine Menge kleiner grauer Zellen im Kopf …‹ Nie fühlte sich Agatha so mit sich selbst im Einklang, so leicht und frei, als wenn sie schrieb. Nun, da Hercule Poirot aus ihrer Phantasie in die Schrift übergesprungen war, arbeitete sie in einem enormen Tempo und mit großer innerer Befriedigung.
Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatten die Angehörigen der britischen Mittelschicht, überwiegend wohlhabende gebildete Zeitgenossen, in ihrer großen Mehrheit nicht kommen sehen. England war seinerzeit eine Weltmacht, sein Kolonialreich erstreckte sich von Australien über Indien, den Nahen Osten und große Teile Afrikas bis nach Kanada, das alles lernten die Kinder in der Schule oder, wie in Agathas Fall, daheim von den Eltern oder Hauslehrern, und sie fühlten sich entsprechend unangreifbar. Dass dieses Weltreich in einen Krieg hineingezogen werden konnte, schien ganz und gar unmöglich, aber es passierte, und damit ging eine Ära zu Ende. Königin Victoria war schon 1901 gestorben, aber das Viktorianische Zeitalter mit der ihm eigenen Stabilität versank erst 1914, als England gegen alle Wahrscheinlichkeit in einen Krieg eintrat mit all den fürchterlichen Folgen wie Verlusten an Menschen und Material und mit tiefem Leid und Lebensmittelknappheit zu Hause. Wie die meisten Engländer hoffte Agathas Familie auf ein baldiges Ende dieser ganz und gar unbegreiflichen Feldzüge, und als sich die Kampfhandlungen dann doch über Jahre hinzogen, war es das Ende des Krieges, auf das niemand mehr gefasst war. Man hoffte darauf, aber man rechnete nicht mehr damit. Agatha Christie schrieb ihren ersten Kriminalroman mitten im Krieg während der Jahre 1916/17, und sie entwickelte die Handlung nicht zufällig um einen Detektiv, der aus Belgien geflüchtet war und um dessen Freund Major Hastings, der einer Verwundung wegen Fronturlaub hatte. Von überallher strömten damals Menschen, die vom Krieg entwurzelt worden waren, auf die Insel, deren Bewohner ihrerseits um Söhne und Gatten auf dem Kontinent oder in Afrika fürchteten und ihre Ersparnisse von den Banken abzogen, um sie in ihren Geheimfächern zu verstecken. Aber dann war es irgendwann doch so weit. Agatha begab sich gerade auf den Heimweg von ihrem Kursus in der Handelsschule, sie trat auf die Straße und konnte nicht glauben, was sie da sah. Überall in den Straßen tanzten Frauen. Englische Frauen neigen nicht dazu, auf der Straße zu tanzen, aber da waren sie nun, in einer wilden Orgie des Glücks, lachend, schreiend, drängend, springend, in einer zügellosen Euphorie. Es war furchterregend. Man hatte das Gefühl, wenn in diesem Augenblick ein paar Deutsche in der Nähe gewesen wären, hätten die Frauen sie in Stücke gerissen. Wahrscheinlich waren nur einige von ihnen betrunken, aber alle benahmen sich so. Sie wankten, taumelten, jubelten. Es war der 11. November 1918. Der Krieg war vorbei.
Archie war schon im September nach England zurückgekehrt, aus Gesundheitsgründen. Seine Nebenhöhlen gaben auch bei der Artillerie keine Ruhe, außerdem hatte er ständig Magenprobleme, und jetzt war er, mittlerweile im Rang eines Obersten, ins Luftfahrtministerium abkommandiert worden. Selten hatte sich Agatha über eine Nachricht so gefreut wie über dieses Telegramm: «Ich komme nach Hause, stop. Archie.« Und von Clara erfuhr sie, dass sich Bruder Monty, der in Afrika verwundet worden war, auf dem Wege der Besserung befand. ›Unsere Familie hat Glück gehabt‹, dachte Agatha. Sie und Archie wollten sich in London niederlassen, sie suchten eine Wohnung – so wie ganze Scharen demobilisierter Soldaten mit und ohne Familie. Die Bleibe musste preiswert sein, denn Agatha und Archie waren nicht reich. Archies Sold war mäßig, und Agatha hatte nur ihr sehr bescheidenes Erbe. Aber beide waren zuversichtlich. »Ich werde einmal viel Geld verdienen«, brüstete sich Archie, und Agatha sagte sanft: »Hauptsache, wir sind zusammen.« Bald fanden sie ein passendes Apartment in London, Madison Mansions, und richteten es mit Elan ein. Archie ging Tag für Tag ins Ministerium und versah dort seinen Dienst, aber er teilte Agatha mit, dass er sich nach etwas Besserem umsehe und dass er kündigen werde, sowie er in der City einen Posten gefunden hätte. Verdiente Offiziere wurden bei Unternehmen und Banken gerne eingestellt. Agatha bewunderte Archies Pragmatismus. Sie war davon ausgegangen, dass das Militär seine Heimat sei, aber jetzt, wo der Krieg aus war, wollte er ins zivile Leben, dorthin, wo Geld verdient wurde und er keine Uniform tragen musste.
An einem Winterabend saßen er und Agatha zusammen in ihrem Wohnzimmer, das nach Ashfield-Maßstäben klein war, für sie selbst aber eine große Freude, und Agatha sagte zu ihrem Mann: »Ob du es glaubst oder nicht, ich habe einen Roman geschrieben. Einen Kriminalroman mit einem äußerst rätselhaften Fall und einem bemerkenswerten Detektiv. Ob du den lesen würdest?«
Archie kniff die Augen zusammen und sagte: »Wirklich?« Agatha nickte. Und er: »Na, her damit.« Agatha stand auf, um das Manuskript von Das fehlende Glied in der Kette zu holen. Sie war gar nicht besonders erleichtert über Archies Bereitschaft, ihr Buch zu lesen, denn sie hatte nichts anderes erwartet. »Hier«, sagte sie und legte ihm den dicken Papierstapel auf den Schoß, »schau mal rein, ich habe alles selbst mit der Maschine getippt.« Ehrfürchtig strich er über das Konvolut und sagte: »Alle Achtung«.
Nun kam Archie öfter mit nach Ashfield. Einmal, während Agatha die neue Köchin zum Wochenmarkt begleitete, saß er mit Clara beim Tee im Esszimmer und sagte zu ihr:
»Es tut mir leid, liebe Schwiegermama, dass ich so lange so abweisend war. Aber du darfst nicht vergessen, dass du versucht hast, mich aus dem Feld zu schlagen und stattdessen diesen Reggie …«
Clara fiel ihm ins Wort. »Schnee von gestern. Du musst dich nicht entschuldigen, Archie. Ich möchte dir aber etwas sagen, was dich vielleicht überrascht. Wahrscheinlich hat Agatha dir von meiner Kindheit erzählt, dass ich weggegeben wurde und darunter gelitten habe –«
»Ja, das hat sie.«
»– und dass ich es deshalb nicht vertrage, mich von meinen Kindern zu trennen. Aber das ist nicht so, Archie. Ich habe Madge gehen lassen und Monty, und ich musste mich von meinem Mann trennen, den mir der Tod geraubt hat, das war sehr schwer. Aber ich habe es durchgestanden. Mit Agatha ist es etwas anderes.«
Weil Clara eine Pause machte, im Wohnzimmer umhersah und auf ihrer Unterlippe kaute, fragte Archie: »Was ist es denn?«
»Ich habe Agatha hier in Ashfield noch eine Weile behalten wollen – nicht, weil ich mich nicht von ihr hätte lösen können, sondern weil ich es richtig fand, sie noch ein wenig länger zu behüten.«
»Das hast du ja nun getan. Sie ist immer noch nicht ganz von Ashfield ausgezogen. Seelisch, meine ich.«
»Wie du sagst. Agatha ist auf ihre Art ein Kind geblieben, verstehst du? Und sie braucht einen entsprechenden Schutz.«
Da lachte Archie. »Liebe Mama, ich kenne sie ja nun auch. Sie ist durchaus eine Frau!«
»Sicher ist sie das.« Clara wiegte ihren Oberkörper ein wenig unbehaglich hin und her. Und sagte: »Ich habe sogar das Gefühl, dass sie sehr glücklich mit dir ist. Aber Agatha ist nicht so gestrickt wie du und ich. Sie lebt nicht unmittelbar in der Wirklichkeit. Sie nimmt die wirkliche Welt nur durch den Filter ihrer Vorstellung von ihr wahr. So wie Kinder es tun, die die Dinge um sie herum beseelen und sie nach den Maßstäben ihrer Phantasie einschätzen, anstatt sie als das zu nehmen, was sie sind.«
Archie schaute zweifelnd: »Du meinst, Agatha lebt in einer Traumwelt?«
»So würde ich es nicht sagen. Aber ihre Phantasieproduktion ist ungewöhnlich stark und bestimmt ihre Weltwahrnehmung und ihre Lebensentscheidungen auch dann, wenn es darauf ankommt, die Dinge klarzusehen. Deshalb hatte ich Angst um sie und wollte –«
Archie ging lachend dazwischen. »Sorge dich nicht, verehrte Mama! Wenn es wirklich nötig sein sollte, Agatha ein bisschen mehr Bodenhaftung zu verschaffen, so werde ich das übernehmen. Schon morgen. Wir machen einen Ausflug ins Dartmoor.«
Archie fand bald einen Job in der Finanzwelt. Er war sehr stolz und fest entschlossen, sein Bestes zu geben. Am Anfang verdiente er noch nicht das große Geld, aber eine fühlbare Verbesserung seiner und damit auch Agathas Einkommenslage konnte gefeiert werden. Tagsüber blieb Agatha allein in der gemeinsamen Wohnung und versuchte, Routinen des Ehelebens für sich zu entwickeln und Freude daran zu finden. Müsste es sich nicht als wundervoll erweisen, eine verheiratete Frau zu sein? Blumen arrangieren, Kissenbezüge sticken … Alle Geschichten über das Leben und das Schicksal von Frauen liefen auf diesen einen Punkt zu: die Eheschließung. Danach brauchte nicht mehr viel erzählt zu werden, denn was jetzt begann, sollte pure Seligkeit sein. Zwar murmelten alte Damen manchmal etwas von der Unzuverlässigkeit oder gar Treulosigkeit der Ehemänner und von dem Schmerz, der daraus erwuchs, aber dergleichen galt ja wohl nicht für Mr und Mrs Christie. Doch abgesehen von den Wochenenden mit Archie, die sie sehr genoss, verspürte Agatha überhaupt keine Seligkeit. Sie empfand ihr neues Leben sogar als ausgesprochen öde. Archie mochte sie das so nicht sagen, denn wenn er da war, verhielt es sich ja anders: dann war sie immer zufrieden, oft froh und manchmal richtig glücklich. Aber unter der Woche wusste sie einfach nicht, was tun. Haushaltspflichten waren zu erfüllen, das ja, aber da es seinerzeit in der englischen Gentry als unschicklich galt, über kein Personal zu verfügen, egal, wie beschränkt die Mittel waren, mit denen man auskommen musste, hatten auch die Christies eine Haushälterin eingestellt, die alle anfallenden Aufgaben, inclusive Küche, zur Zufriedenheit ihrer Herrschaft erledigte. Die Arbeit im Hause bestand für die bessergestellte Hausfrau ohnehin nur in der Koordination und Beaufsichtigung der Dienstboten – die freundliche Mrs Woods jedoch, die Agatha und Archie den Haushalt führte, musste nicht groß beaufsichtigt werden; man konnte eher sagen, dass es Mrs Woods war, die Agatha ein bisschen beaufsichtigte, wenn sie mitbekam, wie die arme junge Frau erwartungsvoll in den Tag schaute, der ihr nichts bot außer einer vagen Freude auf den Abend. »Vielleicht hat Madam Lust, mit mir ein bisschen Apfelkompott einzukochen?« O ja, dazu hatte Agatha durchaus Lust. Des Abends, wenn Mrs Woods gegangen war und Archie heimkam, passierte aber meistens auch nichts. Er stopfte seine Pfeife, ließ sich von Agatha Bier servieren und erzählte ihr kurz von der City.