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Vom unteren Bahnsteig her riecht es verführerisch nach Ackerkrume und Schmieröl - ich bin in meinem Element. Ich brauche gar keinen Geheimauftrag von Frau Maaßen, ich habe ganz von selber Lust, hier rumzulaufen. Sei mir gegrüßt, Grenander. Du hattest nicht viel Platz für das Zwischengeschoss, wie? Und konntest auch nicht wissen, dass die Menschen gegen Ende des Jahrhunderts gern mal zwei Meter hoch werden. Jetzt müssen sie ihre Köpfe einziehen, bevor die Tiefe sie aufnimmt. Dort aber werden sie reichlich belohnt. Der Hönower Bahnsteig ist ein grüner Dom, hoch, weit und unwirklich wie die Kultstätte eines verschollenen Stammes Innerirdischer, die nur künstliches Licht kennen. Der einzige Luxus ist Höhe. Der einzige Schmuck sind die Nieten an den vierkantigen Trägern - wenn man von der Wandkeramik absieht. Die erscheint zunächst schlicht grün. Guckt man aber genauer hin, erkennt man, dass der Schimmer changiert. Es sind nur geringe Farbnuancen, worin sie sich unterscheiden, aber die genügen, damit die Wände leben. Später ausgebesserte Stellen erkennt man sofort: an der dicken farbigen Gleichförmigkeit, von der ein deprimierender Schwimmbad-Effekt ausgeht. Auch sonst ist die Entwicklung unterm Pflaster seit Grenander rückläufig. Einst wurden für Fahrkartenschalter Architektenwettbewerbe ausgeschrieben! Heute gibt es nur noch Automaten, ohne jeden Reiz.
Nach dem Mauerfall warf ich mich auf die Ostbahnhöfe. Ich machte den Versuch, Almut an meiner Passion teilnehmen zu lassen, und fuhr mit ihr durch Grenanders Welt. Es klappte anfangs prima; sie hörte sich geduldig meine Ausführungen über Strecken, Waggons und Bahnhofsarchitektur an. Ich vergaß sogar, mich vor ihr zu schämen, dass ich Modelleisenbahner bin und ziemlich viel Zeit und Geld in dieses Hobby stecke. Aber ihre Toleranz war oberflächlich. Und ihre Lust zum Hinausfahren klang ab. Ich mochte sie nicht drängen, also wartete ich. Wir machten unsre erste Reise nach Paris. Danach, so hoffte ich, würde sie sich schon wieder auf die Schiene locken lassen. Von wegen. Jetzt war es an mir, in ihre Passion eingeweiht zu werden.

Dass sie »anders« sei, hatte sie mir gleich zu Beginn gesagt. Sie hatte es ein paar Mal wiederholt und einige geheimnisvolle Andeutungen drumherumgewoben, aber ich wußte nie genau, was es bedeuten sollte. Sie vielleicht auch nicht, dachte ich unbesorgt. Wer ist denn schon wie alle? Klar war mir lediglich, dass dieses Anderssein mit Sex zu tun hatte, das war aus dem Zusammenhang ihrer Andeutungen hervorgegangen.
Während unserer Pariser Wochen - es war die Zeit, als wir täglich miteinander ins Bett gingen und uns immerzu Streiche spielten: Sie versteckte meine Schuhe und meine Krawatte, und ich praktizierte ihr eine lebendige Schnecke in die Handtasche - während dieser Zeit vergaß ich ganz, dass da etwas nicht stimmen sollte. Sie erschien mir wunderbar normal, ich konnte, abgesehen von ein paar kleineren Eigentümlichkeiten, keinen Unterschied zwischen ihr und den Liebhaberinnen meiner Jugendjahre entdecken. Während ich nichts Böses ahnte, dachte sie nur eins: Wie sag ich’s ihm? Und sie verfiel auf eine glänzende Idee: Sie verlegte ihre Andersartigkeit in die Vergangenheit. Nur in dieser Zeitform konnte sie mir alles sagen.
Wir saßen auf einer Bank im Jardin de Luxembourg. Es war Sommer. Ich hatte eine Flasche mit Sprudel dabei, Almut eine Tüte mit Blätterteigbruch. Ich war glücklich. Sie nicht. Wie kam es nur, dass ich es nicht merkte? Glück macht blind. Der es einem schenkt, denkt man, muss davon im Überfluss haben.
»Du hast mich nie gefragt«, sagte sie, »was ich meine, wenn ich sage, ich sei >anders<...«
»Na, dass du auf Frauen stehst, kann ich mir nicht vorstellen -«
Sie lachte. Es klang komisch. Ich sprach schnell weiter:
»Also, ich finde, das einzig Ungewöhnliche an dir sind deine langen Beine, deine schlanken Hüften, deine schönen -«
Sie unterbrach mich:
»Jaja, das ist es ja. Es ist schon vorbei mit dem Anderssein. Du hast es mir ausgetrieben. Jetzt bin ich wie normale Frauen...«
Sie wandte sich mir zu, und ich wollte sie in den Arm nehmen, um die Versöhnung nach einem nie erfolgten Zerwürfnis, nach der bloßen Drohung einer Krise zu besiegeln, hatte dafür auch schon eine passende Antwort auf den Lippen, nämlich ein launiges »Das ist doch meine Rede«, als ich sah, dass sie mir die Blätterteigtüte hinhielt und selbst kaute. Ich nahm ein bisschen Gebäck und begriff, dass es zu früh gewesen wäre, die Sache beizulegen. Jetzt, wo die Gefahr nicht mehr akut, sondern ins Dunkel der Vergangenheit abgeschoben schien, konnte man über sie reden. Und ich bat Almut, mir alles zu sagen.
Sie holte aus, sprach über ihre Jugend, stockte dann und fragte, ob ich mir unter »weiblichem Exhibitionismus« etwas vorstellen könne. Ich musste lachen, was sie verstimmte. Ich beherrschte mich und sagte, ich dächte dabei an Stripteasetänzerinnen. Sie wandte ein, dass diese Mädchen häufig gar keine echten Exhibitionistinnen seien. Sie machten es des Geldes wegen und hätten keine wahre Freude dran. Bei ihr sei es folgendermaßen:
Sex in der Abgeschlossenheit des Schlafzimmers habe ihr früher wenig bedeutet. Sie habe es dem Mann zuliebe getan. Was sie brauchte, war ein Zuschauer, also eine dritte Person. War die zugegen und als Voyeur glücklich, während sie es trieb, dann - und nur dann - kam sie auf höchste Touren und ging, wie sie es ausdrückte, ins Nirwana ein. So sei sie nun mal gestrickt gewesen, da habe sie gar nichts dafür gekonnt. Sie hatte sich immer, als junges Mädchen bei ihren ersten Liebschaften, gewundert, wie wenig sie empfand. Bis sie einmal, bei Sex im Freien, sich beobachtet glaubte und auch tatsächlich beobachtet wurde. Da plötzlich durchfuhr sie der große Schauer. Und sie wusste: So geht’s. Seitdem brauchte sie für ihre Lust einen Mann mehr als andere Frauen.
Almut redete sich alles von der Seele. Sie sah zuerst in ihrer Veranlagung einen Makel und entschloss sich, in Therapie zu gehen. Sprang aber vor der ersten Sitzung wieder ab. Mittlerweile hatte sie einen lebenspraktischen Ausweg gefunden: die Phantasie. Wenn sie mit ihrem damaligen Freund ins Bett ging, stellte sie sich vor, es stünde ein Fremder hinter der Gardine, und schon ging alles gut. Aber die Vorstellungskraft erlahmte mit der Zeit. Nachdem Almut ihr alle Varianten entlockt hatte, einschließlich des unterm Bett versteckten Einbrechers, der entzückt wichste, während über ihm die Matratzenfedem kreischten, war Schluss. Verzweifelt blätterte sie im Telefonbuch. Und sie rief das Sex-Krisentelefon einer alternativen Beratungsstelle an.
Die Frau dort am Telefon habe ihr, so Almut, das Leben gerettet. Leider habe sie ihre Retterin nie persönlich kennengelernt - es gehört zur Philosophie dieses Sex-Krisentelefons, alles im Anonymen zu belassen - aber sie müsse öfter in herzlicher Dankbarkeit an sie zurückdenken. Diese Frau nämlich habe gemeint, Almut sei keine Bohne pervers, sondern nur »anders« als die meisten - wobei man sich wundere, wenn man mal genauer hingucke, wieviele Menschen in dieser oder sonst einer Weise »anders« seien. Kurz gesagt: Almut solle auf die besondere Ausprägung, in der sich das sexuelle Verlangen bei ihr äußere, stolz sein und alles lassen, wie es sei. Und sich per Annonce die richtigen Partner suchen. So geschah es dann.
Ja, über eine Anzeige, die Almut selbst in der Stadtteilzeitung »Wo denn« aufgegeben hatte, war ein junger Mann in ihr Leben getreten, der Ralph Schaufuß hieß. Er kam nicht allein, sondern in Begleitung seines Cousins und Spezis Lennart Miller. Die beiden hatten die Message, welche der verklausulierte Anzeigentext nur solchen Kandidaten offenbarte, die besser wussten als ich, was eine Exhibitionistin ist, genau verstanden. Man traf sich, war einander sympathisch, kam überein, und alles lief wunderbar. Bis Lennart sich mit einem dänischen Fotomodell verheiratete und nach Odense zog. Almut und Ralph suchten Ersatz, machten aber nur deprimierende Erfahrungen. Da verliebte sich Almut. In mich.
»Und jetzt«, sagte sie atemlos, »ist es so schön, dass ich gar keinen Dritten mehr brauche.«
Die Freude, die ich empfand, als sie mir die Hände auf die Schultern legte, war nicht rein. Zu deutlich spürte ich, dass ihr Anderssein noch nicht ausgestanden war. Aber ich zog sie an mich und drückte sie fest; ich fühlte, dass die Blätterteigtüte ihren Händen entglitt und ihren Inhalt über meine Hose entließ. Dafür konnte Almut nichts. Ich hielt sie zu fest. Ich wollte den letzten Exhibitionismus aus ihren Gliedern herauspressen. Gleichwohl war unser Einverständnis, da auf der Bank in Paris, so etwas wie eine Verlobung. Sie hatte mir gesagt, wie es um sie stand, wenn sie auch unaufrichtig gewesen war bezüglich der Zeit, und ich hatte trotz dieser Enthüllung an ihr festgehalten. Mir ging es wie ihr: Ich hatte nach langem Suchen endlich eine gefunden, die zu mir passte, und war jetzt nicht mehr bereit, Einwände zuzulassen. Wir taten so, als seien wir über alles erhaben. Übermütig gossen wir die Limonade auf den Rhododendron, der sich mit uns freuen sollte.

Die Atmosphäre im Untergrund drückt mir auf die Schläfen, ich sollte nach Hause fahren. Was mich hält, ist der Geruch, der eine kräftige Schuhcremenote entwickelt hat. Ich wandere den Bahnsteig entlang und schnuppere. Seinerzeit, als das hier alles neu war, sind die Menschen nur so in die Tiefe geströmt; sie fuhren zur Arbeit, sie fuhren nach Hause, sie machten Besuche, sie kauften ein - alles mit der U-Bahn, und es war eine Freude, Schulter an Schulter in diesem Mutterleib-Verkehrsmittel auszuharren und seine Sorgen zu vergessen. Dann raus auf den Bahnsteig, hinein ins Gedränge, treppauf, treppab, und die Absätze brachen nur so von den Stiefeletten. Ende der zwanziger Jahre hat man U-Bahnzüge eingesetzt, die an die tausend Plätze boten - und sie blieben nicht leer. Heute dagegen... Mir scheint, es werden langsam immer weniger im Bauch der Stadt, sogar hier unterm Alex. In der Epoche des Autos sind U-Bahnhöfe historisch. Dazu passt, dass die Leutchen, die sich drunten versammeln, gar nicht so wirken, als läge ihnen was an Fahrt und Vorwärtskommen. Sie gleichen jenen hingestreuten Figürchen auf Städtebaumodellen, die nur dafür gedacht sind, das Modell zu beleben und der Phantasie des Betrachters dabei zu helfen, sich den Bahnhof oder das Einkaufszentrum in Benutzung durch allerlei Volk vorzustellen. Da haben wir zum Beispiel zwei Knaben, die unauffällig am Kaugummiautomaten rumfummeln: schweigend, mit kleinen Bewegungen - genauso unbeteiligt, still und beiläufig wie die hölzernen Miniaturmenschen auf Städtebaumodellen. Die beiden lassen von dem Automaten ab und hocken sich auf den Boden. Der Kleinere zieht ein Taschenmesser raus und geht dessen Funktionen durch. Der Größere guckt sich um und pfeift - einen kurzen, juchzenden Pfiff, der, wie mir scheint, zum Zwischengeschoss hochsteigt und da verklingt. Jemand antwortet von oben mit einem ähnlichen Pfiff. Und gleich darauf turnt eine ganze Bande über die Treppe runter und gesellt sich zu ihren Kumpels. Die Neuankömmlinge sind nicht so ruhig wie die beiden Automatenknacker. Sie springen herum und schreien, einer singt, einer flucht. Nein, das sind keine Statisten auf einem Städtebaumodell, die hier in die Wirklichkeit fallen. Gerade will ich mich darüber wundern, wie dicht doch das Gelände der Berliner Verkehrsgesellschaft mit Jugendbanden besiedelt ist, als mir ein langes, dürres Reff ins Auge fällt, das eine Colabüchse schwenkt: die Medusa. Na klar, das sind sie, meine Pappenheimer. Warum merke ich das erst jetzt, ich Dummbeutel. Das kommt davon, wenn man zu lange im Untergrund rumlungert. Das Hirn funktioniert nicht mehr richtig - infolge Sauerstoffmangels.
Na schön. Ziehn wir’s durch. Ich atme einmal schnaubend aus und drücke dabei Zwerchfell und Rippen nach innen - so kommt Kraft, kommt vor allem deren Anschein über mich. Ich trete vor die Gören hin, als gehörte ich zu ihrer Gang, mache dabei aber eine fast polizeiliche »Keine Faxen«-Geste mit der Hand. In Situationen wie dieser kann ich mich stets auf meine Stimme verlassen. Sie ist so tief und kräftig, dass sie überall durchdringt.
»Wer von euch ist Karli Maaßen?«
In der Tat - ein Sekundenbruchteil lang regiert der Schreck. Danach bricht Tumult los. Die lachen, grölen und biegen sich, als sei »Karli Maaßen« das Witzwort der Saison und ich ein Fernsehmoderator, der den Saal zum Kochen bringt. Grenanders türkise Kacheln werfen das Getöse hohl zurück. Ich verziehe keine Miene. Da springt die Medusa in die Höhe. Als sie vom Boden hochschnellt, überragt sie mich. Ihre Haarschlangen steigen kurz auf wie anklagende Finger. Sie kräht:
»Ick bin - der Karli Maaßen!«
Gebrüll von allen Seiten. Dieser Name, so schlicht er ist, scheint einen enorm komischen Effekt zu machen. Mir wird mulmig. Aber die Gereiztheit ist stärker. Und so ist der Griff, mit dem ich den echten Karl Maaßen, als ich ihn urplötzlich zu erkennen glaube, am Arm packe, ziemlich fest.
»Anfassen is nich!« ruft der Schwarze mit gedämpftem Alarm in der Stimme, aber ich bin in Fahrt und kümmere mich nicht drum.
»Du kommst sofort mit nach Hause«, donnere ich los, »Sonst passiert’s.«
»Wat denn... wat denn?« schnattert der Kleine, dessen Kinn aus der Halterung rutscht. Da passiert’s wirklich, zwar nicht dem Karli, sondern mir und so überraschend, dass ich, der ich sonst gut reagiere, hilflos japse. Die Burschen müssen das trainiert haben, professionell. Zwei von ihnen schnellen mir ihre Absätze in die Kniekehlen, so dass ich einknicke und plump zu Boden rutsche; ein dritter, mir scheint der Schwarze, haut mir auf das Nervenknäuel oberhalb des Ellenbogens, so dass Karli freikommt, sich aber, als wolle er von mir nicht lassen, in mein Revers verkrallt. Einen Moment lang bin ich von den Füßen, Knien und Fäusten meiner Feinde regelrecht eingekeilt und unfähig, mich zu rühren. In diesem fiesen Moment beugt sich die Medusa über mich und spitzt die Lippen. Sie spuckt mich an. Eine Haarschlange berührt meine Stirn, ihre Finger streifen meine Brust. Jesus, was ist das hier für eine Show!
Von der Treppe ertönt eine Stimme:
»Was ist los?! He -!«, und es scheppert und rauscht. Der Zug fährt ein. Die Kids lassen von mir ab und türmen. Ich wende den Kopf nach meinem Retter. Er ist ein Fahrgast wie ich, ein vierschrötiger Herr. Er fragt:
»Alles in Ordnung?«
Ich nicke folgsam und sammle mein Köfferchen auf, das heil und vorhanden ist, immerhin. In der Tat tut nichts weh, nur der Musikknochen dröhnt, und in den Kniekehlen zieht’s, doch was Ernstes ist es nicht. Karli, wo steckt Karli? Die Gang ist in die U-Bahn abgetaucht, der Schwarze hängt noch in der Tür, mit dem Rücken nach draußen, er winkt mir zu. Die Abfertigerin plärrt ihr »Zurückbleiben!«, der Zug braust raus. Ich schüttle entgeistert den Kopf. Über die Bande? Über Karli? Nein, über mich. Ich wische mir den Speichel der Medusa vom Kinn.

Jetzt täte mir Leos Gesellschaft gut, also beeile ich mich, ans Tageslicht zu kommen und in die Reichweite einer Telefonzelle. Leo ist mein Freund. Er ist sogar mein Schicksal. Er war es, der mir meinen ersten Vertreterjob vermittelt, mich mit dem Spaß am Geldverdienen angesteckt und mich alles gelehrt hat, was ich fürs Berufsleben brauche. Auch dass ich das Studium aufgegeben habe, ohne es länger als ein paar Wochen zu bereuen, verdanke ich ihm, meinem Vorbild. Er ist zweifellos intelligenter als ich und als Vertreter zufrieden. »Du kannst dein Studium jederzeit wieder aufnehmen«, sagte er. »Als Luxus ist es in Ordnung. Aber als Berufsvorbereitung? Der Mensch, der heute im Arbeitsleben vorankommen will, muss vor allem eins können: verkaufen. Und genau da liegt dein Talent.« Ich war stolz, dass er an mich glaubte. Er tut es immer noch. Und ich, ich glaube an ihn.
Viel haben wir nicht gemein. Mit Modelleisenbahnen hat Leo, auch wenn er mich mit Spott verschont, nichts im Sinn. Schwimmen und Radfahren bedeuten ihm nichts. Und dass meine Ehe mit Almut schon nach kurzer Dauer in die Krise geriet, kreidet er mir als Schwäche an. Na schön, auch als Ehemann ist er der Begabtere, aber das ist keine Kunst bei Magdalena. Sie, Leos Frau, ist eine blonde Polin mit Stupsnase und Wespentaille, und ihre Freundlichkeit ist unerreicht. Das Paar hat zwei Kinder. Der fünfjährige Lukas ist mein Patensohn und gibt überall mit mir an. Wer hat schon einen »Onkel« mit Eisenbahn? Laura ist erst ein paar Wochen alt und Leos ganzes Glück.
Leo und ich sind Kollegen, wir arbeiten beide für die KWP-Versicherung und müssten Konkurrenten sein, aber bis jetzt hat sich da nichts verschärft. Manchmal schlucke ich, wenn er einen dicken Fisch an der Angel hat, während sich bei mir gar nichts tut, und manchmal schielt er, wenn Kopelke, unser Verkaufsleiter, mir ein Extralob spendet und mich zur Schulung der Neulinge einteilt, weil mein pädagogisches Können mehr gilt. Aber das sind Kleinigkeiten. Im großen und ganzen halten wir zueinander.
Erleichtert wird uns das, weil er älter ist und schon im Geschäft war, als wir uns kennenlernten. Das ist sieben Jahre her, aber unser Meister-Schüler-Verhältnis, von Sympathie und Ironie durchwirkt, ist geblieben, wie es war. Bestimmt hat’s auch damit zu tun, dass ich nicht allzu neidisch bin. Prämienmäßig habe ich Leo längst nicht eingeholt - ich akquiriere immer noch Kleinkram, während er mit Betrieben verhandelt. Aber ich hab’s nicht eilig mit dem ganz großen Geld. Almut war mit meinem Einkommen zufrieden; und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, leg ich ganz schön was zurück. Eine Modelleisenbahn verschlingt eben nicht so viel wie eine Familie. Obwohl sie, die Bahn, schon ein ordentlicher Kostenfaktor ist. Nichtkenner reißen die Augen auf, wenn ich verrate, was ich jährlich verpulvere. Seit Juni dieses Jahres gibt es den ICE im fertigen Modell. Die Preise?
Astronomisch. Ich werde warten, bis die ersten Exemplare gebraucht zu haben sind. Sofern Lukas mich lässt. Er drängt schon.

Leo hat vorgeschlagen, dass ich zu ihm nach Neukölln komme und wir zwei uns bei einem Gläschen erholen. An sich bin ich kein Kneipenhocker. Aber wenn ich mit Leo allein sein will, lässt es sich anders nicht machen. Bei Dittrichs zu Hause ist es ziemlich eng, und ich mag Lukas nicht abweisen, wenn er kommt und mich bestürmt, ich solle ihm eine Dampflok zeichnen. Also klingle ich Leo runter.
Er kommt im offenen Hemd, den Schlüssel in der Hand, sich mit der freien Hand den Nacken kratzend. Sonst tritt er - das ist berufsbedingt - stets formvollendet auf. Diese Hitze kocht uns alle weich. Statt des üblichen »Na, Junge!« sagt er nur schnaufend: »Na-«. Ich klopfe seinen Ellenbogen.
Ein paar Minuten später sitzen wir im Shangri-La, einer Pinte, die drei verschiedene Versionen chinesischen Huhneintopf anbietet, aber auch Gäste willkommen heißt, die nur trinken wie wir. Ich halte es mit Frankenwein. Leo trinkt Bier. Er sieht geschafft aus. Seine Sorgen gelten zur Zeit seinem Geburtstag. Er wird demnächst vierzig und hat das Gefühl, er müsse groß feiern. Ich hätte ihn gern auf eine intimere Runde eingestimmt, aber er ist schon entschlossen.
»Warte, bis du so weit bist, mein Junge«, sagt er. »Schlimm genug, dass die Jugend vergeht. Da will man doch wenigstens zeigen, dass man noch Freunde hat. Prost, Hahn.«
Seit Baby Lukas versucht hat, meinen Namen auszusprechen und dabei irgendwo im Mittelteil steckengeblieben ist, nennen mich die Dittrichs »Hahn«. Und ich kann froh sein, wenn sie nicht, wie es Magda schon rausgerutscht ist, »Gockel« zu mir sagen.
»Hör zu, du Manta-Fahrer«, sage ich, »wenn du doch mal die U-Bahn nimmst und am Alex umsteigst, solltest du dich vorsehen.« Und ich erzähle. Leo reibt sich die Nase. Seiner Ansicht nach habe ich alles richtig gemacht, und da es gut möglich ist, dass Karli einen Schreck gekriegt hat und heute abend schon bei seiner Tante auf der Matte steht, könnte sich die Angelegenheit rentieren. Denn Dankbarkeit und Verpflichtungsgefühl einer ganzen Sippe werden sich über mich ergießen.
»Mein lieber Mann«, sagt Leo bewundernd, »du lässt nichts aus, was? Ruf die Alte gleich morgen an. Damit sie sieht: Du fühlst mit.«
»Ich kann sie nicht anrufen, sie hat kein Telefon. Ich weiß nicht mal, ob sie eins haben will. Diese Ossis verstehen nichts von Konsum und nichts von Kommunikation. Sie sehen nicht ein, warum sie einen Apparat bezahlen sollen, wenn sie sich unterhalten wollen.«
Wir bestellen noch mal dasselbe, und dann muss Leo was loswerden. Seit meiner Trennung von Almut hat er den besseren Kontakt zu ihr. Er versuchte damals, zwischen uns zu vermitteln, aber jetzt hütet er sich, mir von ihr und ihr von mir was zuzutragen. Er ist so diskret, wie man es als Versicherungskaufmann nur sein kann und im übrigen auch sein muss. Ich schätze das äußerst an ihm. Aber manches Mal hat er einen Auftrag. So auch heute.
»Sie lässt dir ausrichten... und sie hofft, du verstehst... dass sie an eine neue Bindung denkt.«
» --- «
»Das bedeutet: Ihr zwei müsst über die Scheidung reden.«
Pause. Seit langem schon ahne ich, dass meine Frau und ich nicht mehr zusammenfinden. Aber ein anderer?
»Wer isses? Kenn ich den Knaben?«
»Bestimmt nicht, ’n Kollege von der Sparkasse. Einer, der erst kürzlich dazugekommen ist. Aus der Chefabteilung. Sie ist mächtig stolz, fällt die soziale Leiter nach oben.«
Ich schiebe das Weinglas beiseite. Der Schweiß, der mir auf die Oberlippe tritt, kommt nicht von der Hitze. Leo guckt diskret in seinen Humpen. Ich schlucke.
»Na schön, ich ruf sie an.«
»Ich sollte dich ein bisschen vorbereiten, damit du nicht... Sie hatte Schiss, es dir selbst zu sagen.«
Ich grinse in mich hinein.
»Dieser Leitende von der Sparkasse - weiß der, was auf ihn zukommt?«
»Das lass mal dem seine Sorge sein.«
»Warum muss sie ihn gleich heiraten? Sie kennt ihn doch kaum, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»O Hahn, lass deine Eifersucht im Stall. Du weißt doch, wie Almut ist. Sie will den Ring. So wie die meisten.«
»Sie hat doch noch unsern.«
»Hahn!«
»Er wird sie vor die Tür setzen, wenn sie mit ihrer Masche rausrückt.«
»Hahn -«, er legt mir die Hand auf den Arm, »vergiss es. Sturkopp! Es ist manchmal wirklich nicht einfach mit dir. Mensch, Junge, die Geschichte ist vorbei.«
Aus seinen runden schwarzen Augen zuckt ein verächtlicher Blitz. Er erwartet von mir Konsequenz. Um ihn zu versöhnen, übernehme ich die Rechnung. Wir winken dem Wirt. Ich greife in mein Jackett und taste nach meiner Brieftasche. Ich rutsche mit meinen Fingern die leere Innentasche längs. Da war, ja ja, den ganzen Abend ein Gefühl von ungewohnter, unangenehmer, bedrohlicher Leichtigkeit über der Herzgegend, ich hatte es mir nur nicht ganz zu Bewusstsein kommen lassen. Leo starrt mich an, er hat verstanden. Ich sehe die Medusa über mir. Was da mein Hemd gestreift hat, ist nicht ihr Finger gewesen, sondern eine Kante von schwarzem Rindsleder. Ein Geschenk von Almut, diese wunderschöne, seidengefütterte Brieftasche. Schätzungsweise vierhundert Mark waren drin. Und von der Umweltkarte über Bahn- und EC-Cards bis zum Personalausweis alles, was den Menschen in den Augen der Banken und Behörden zum Menschen macht.
Mittsommernacht
Am 5. Januar des Jahres 1957 fuhr wie jeden Tag am frühen Morgen der Personenzug 341 von Sondrio (Veltlin) nach Milano Centrale. Auf dem Führerstand der E 626 haben der 59jährige Lokomotivführer V. und der 51jährige Hilfsmaschinist G. Platz genommen. Beide versuchen mit scharfem Blick den milchigen Vorhang vor ihnen zu durchdringen, der die Sicht auf wenige Meter beschränkt: Einmal mehr verhüllt dichter Nebel die Mailänder Bannmeile. Eben hat es drei Knallsignale gegeben; danach pflegt das Personal den Zug scharf abzubremsen, da der provisorische Viadukt bei Monza in Sichtweite kommt. Aber an diesem Morgen bremst Zug 341 nicht ab.