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Da werfen auch schon erste Stöße die Fahrgäste quer durchs Abteil. Funken blitzen von überallher auf, als der Wagen nicht mehr auf den Schienen, sondern auf dem Schotter rollt. Mit einem gewaltigen Krachen legt sich das Gefährt auf die Seite, und im Abteil fliegt ein Fahrgast auf den anderen. Das Wagenfenster ist jetzt dort zu finden, wo vorher das Wagendach war. Mit Mühe können es die Reisenden öffnen, um den Wagen zu verlassen. Dieser liegt im Areal einer Wollfabrik. Im Abteil fehlen zwei Frauen. Sie sind verschwunden. Von einer der beiden sind nur die Schuhe gefunden worden, makabrer Überrest!
Die Lokomotive war auf der Böschung geblieben, zwar nicht mehr auf dem Gleis stehend, aber doch aufrecht, mit eingedrücktem Führerstand. Der Lokomotivführer war tot, sein Gefährte schwer verletzt. Der nachfolgende Wagen erster Klasse hatte sich, nachdem die Kupplung zerrissen war, freigemacht und die Trennmauer zur Lastwagengarage der Wollfabrik eingedrückt. Drei Wagen wurden nach vorne katapultiert und kamen kreuz und quer über die Gleise zu liegen. Der fünfte, der Gepäckwagen, und der sechste stürzten in die im Bau befindliche Unterführung.

Da glauben die Leute, dass erwachsene Menschen, die sich mit Modelleisenbahnen beschäftigen, vergessen hätten, ihre Kinderschuhe abzulegen, und vom Ernst des Lebens nichts verstünden. Ich habe es aufgegeben, mich gegen solche Verdächtigungen zur Wehr zu setzen, man macht sich damit nur klein. Leos Bedenken gegen mein Hobby konnte ich zerstreuen, indem ich ihm anvertraute, dass ich nicht nur Loks und Wagen verkoppele und Schienen auf Regalbretter klopfe, sondern auch Eisenbahnunglücke sammele. Ich besitze mehrere große Ordner mit Berichten von Zugkatastrophen - nach Möglichkeit mit Bildern. Manchmal hocke ich lange da und starre auf das Foto der zerstörten Dampflok »Dl« von Pomponne, die 1933 in den Express Nancy-Paris hineingedonnert ist. Man sieht nur noch an dem mächtigen Frontzylinder, dass es sich um eine Lokomotive handelt. Der ganze Rest, Räder, Puffer, Pleuelstangen, ist zerstoßen wie von einem kosmischen Steinschlag. Immer wenn Lukas bei mir ist, arrangieren wir im Zugzimmer Eisenbahnunglücke. Mein Patenkind ist von derselben Leidenschaft beseelt wie ich. Oder habe ich ihn angesteckt? Egal. Dass es in so jungen Jahren schon losgeht, war mir neu. Mit fünf, dachte ich, will man, dass die Eisenbahn fährt, nicht, dass sie verunglückt. Bis Lukas mir bewies, dass auch ein kleines Kind den Sinn fürs Verhängnis schon mitbringt.
Die meisten Menschen sind zu träge, um ein Ereignis wie das Unglück von Monza in Gedanken nachzuerleben - angefangen von dem Moment, wo die gleitende Bewegung der korrekten Fahrt erste Stockungen erleidet, die aber, da sie als Fehler der Strecke oder der Radlage gedeutet werden können, nur mäßige Unruhe auslösen, - bis zu dem fatalen Augenblick, da der Wagen aus dem Gleis springt, schlingert und kippt. Erst wenn er umstürzt, vertiefen die akustischen Schocks des Krachens und Quietschens die Angst zur Gewissheit: »Jetzt ist es aus.« Die Menschen erstarren erst und schreien dann im Griff der Panik. Wie V., der 59jährige Lokomotivführer, empfunden hat, mochte ich mir nie zu Ende ausmalen. Vielleicht, weil ich nicht anders kann, als mir vorzustellen, dass sein jäher Tod infolge des Schlages gegen den Führerstand ihn vorm Bewusstsein der Katastrophe bewahrt hat. Sollte es doch anders gekommen sein, und sollte er gewusst haben: »Vorbei-!«, ist dann in der Sekunde des Todes zum Horror vor dem Ende die Qual der Schuld hinzugetreten? Hat er sich zugeschrien: »Ich hätte bremsen müssen?« Ich denke: Ja. Almut meint: Nein.
Wie gern habe ich ihr aus meinem Lieblingsbuch, dem in einem Züricher Verlag herausgekommenen Werk mit Titel »Katastrophen auf Schienen« von Ascanio Schneider und Armin Mase vorgelesen, besonders das Unglück von Monza. Denn damit hat es was auf sich. Ich selbst, Hagen Schäfer, wurde an eben dem Tag geboren, an dem es geschah, sogar fast um dieselbe Stunde. Almut legte die Hand vor den Mund, als ich es ihr erzählte. Aber dann grinste sie. »Meinst du, dass das was bedeutet?« Ich zuckte die Achseln. Und gestand ihr nicht, dass ich manchmal glaube, der wiedergeborene Lokführer V. von Monza in Person zu sein. Sie hätte mich, zu Recht, ausgelacht und ein Gedankenspiel zerstört, das nur V. und mich etwas angeht.

Ich hatte Lehrer werden wollen. So einer wie Herr Engelbrecht, der Deutsch gab und unter meine Aufsätze die besten Noten schrieb, die ich bekam, und mit dem ich immer noch in Kontakt stehe. Ich war sonst in Sport nicht übel, und so lag es nahe und alle fanden es richtig, dass ich Deutsch und Sport studieren sollte, um später mal beides zu unterrichten. Dann aber hieß es: Lehrer werden auf absehbare Zeit nicht mehr gebraucht, und ich sollte mir überlegen, was sich mit meinen Talenten und Semestern sonst noch anfangen ließe. Leute, die gut reimen, von Zehnmeter-Brettern springen und die schrecklichsten Eisenbahnunglücke auswendig hersagen können, erwerben mit ihrem Qualifikationsprofil nicht schon den Anspruch auf die Beamtenlaufbahn. Meine Mutter sorgte sich sehr. Mein Vater hatte sowieso vom Studium abgeraten. Seine Vorstellung von einem ordentlichen Beruf verband sich mit Handwerk und machte vor jeder Art Reflexion entsetzt Halt. Aber ich gab nicht so schnell auf - schon um es dem Alten zu zeigen. Ich fuhr nach Nürnberg zu einem Kongress, der sich mit der Zukunft des Lehrerstandes beschäftigte. Dort lernte ich Leo kennen.
Nicht dass er etwas mit der Pädagogenzunft zu tun gehabt hätte - er begleitete nur seine damalige Freundin, die schon am Gymnasium unterrichtete und eine Arbeitsgruppe leiten sollte: »Ist Teilzeit die Lösung?« Leo durfte nicht zuhören, das hätte sie nervös gemacht. So ging er raus in den Park neben der Schule, wo die Tagung stattfand, und da begegneten wir uns. »Na?« sagte er zu mir. Wir kamen ins Gespräch - über Berlin, aus dem wir ja beide herbeigereist waren. Ich fragte Leo, welches Fach er unterrichtete, und er sagte: »Sicherheit.« Und erzählte von seinem Beruf.
Ich hatte später, als ich längst erfolgreich als Vertreter arbeitete und bei meinem Stammhaus hochangesehen war, öfter ein schlechtes Gewissen, da ich es ja nun in einem Job zu etwas brachte, für den ich gar nicht ausgebildet war. Schon damals in Nürnberg aber hat Leo mir verraten, dass von hundert Versicherungsvertretern achtundneunzig als Seiteneinsteiger anfangen, die einfach mal ihr Glück probieren. Vierzig Prozent etwa bleiben dabei, die Branche ist Fluktuation gewohnt und dennoch wachstumsorientiert, also flexibel.
»Ich war Hotelmanager«, gab Leo zu, »und Kopelke, unser Verkaufsleiter, Kapitän zur See.« Sie hatten sogar einen ehemaligen Eintänzer dabei und eine Meeresbiologin. »Vielleicht wär’s ja auch was für Sie.« Ich lachte geschmeichelt und schüttelte den Kopf. Leo deutete auf das Transparent über dem Eingang der Schule, auf dem der Slogan des Kongresses - irgendwas mit »Keine Zukunft...« - geschrieben stand und machte ein paar Bemerkungen über die alles in allem ziemlich miese Stimmung unter den jungen Lehramtskandidaten. Ich sagte: »Ich bin der geborene Pauker. Ich weiß immer alles besser.« Darauf Leo: »Wenn das wirklich stimmt, sollten Sie mich in den nächsten Tagen mal aufsuchen.«
Er gab mir seine Karte. So fing es an.

Es war der Anfang unserer Freundschaft - und eines neuen Lebens für den nicht besonders rührigen Germanistikstudenten Hagen Schäfer. Zwar fühlte ich mich nach wie vor motiviert und imstande, vor eine Klasse zu treten und ihr zu erläutern, warum es schade ist, wenn der Genitiv ausstirbt, aber die großen Umwege, die man auf der Universität betreffs dieses Ziels einzuschlagen hat, schienen mir immer sinnloser. Leo betraute mich mit ersten Akquisitionen als sein Stellvertreter, und ich machte meine Sache gut. »Wo bleiben die Anfängerfehler, die sonst dazugehören?« scherzte mein Mentor. »Warum beschweren sich keine übertölpelten Kunden, und warum kapierst du gleich alles?« Meine Studienfreunde reagierten neiderfüllt, wenn ich von meinem Nebenjob erzählte. Als ich dann aber den Schritt tat und die Germanistik aufgab, um mich ganz der KWP-Versicherung zu widmen, schüttelten sie die Köpfe und prophezeiten mir ein geistig armes Leben. »Geld ist nicht alles«, sagten sie. Nicht mal meine Jugendfreundin Elfie hielt zu mir. Nur Leo.
Es stimmt nicht, dass ich des Geldes wegen Versicherungsagent geworden bin. In meiner freiberuflichen Position bin ich selbst nicht besonders gut abgesichert, leicht kündbar und auf private Vorsorge angewiesen. Außerdem schwankt mein Einkommen. Wäre es mir auf eine perfekte Versorgung angekommen, hätte ich das Examen machen und um das Lehramt kämpfen müssen. Ich folgte Leos Rat und ging zur KWP, weil ich unabhängig sein wollte, musste. Das Liebkind-Spielen hing mir zum Halse heraus. Wer wie ich einen Vater hat, dessen Leib- und Magenthema der Monatswechsel für einen spinnerten Sohn ist, wird mich verstehen. Als ich auf eigenen Füßen stand, war ich so erleichtert, dass mir die akademischen Würden, Zeigestock und Klassenzimmer sehr bald egal waren. Ich ordnete meine Verhältnisse neu, gab Elfie den Laufpass, mietete meine Wohnung in Wilmersdorf mit viel Platz für die Eisenbahn und kaufte mir einen PC. Mein Telefon klingelte oft und öfter. Ich war im Geschäft.

Als dann noch Almut in mein Leben trat, schien sich mir alles zu fügen. Sie schätzte meinen Beruf, meinen Status und meinen Freundeskreis. Und ärgerte mich gern, wenn sie feixend erklärte, wie glücklich sie sei, dass sie keinen Schulmeister heiraten müsse. Ihr war die Schule verhasst gewesen, so konnte ich Verständnis aufbringen für ihre Abneigung gegen mein Vorleben. Immerhin hatte ich jetzt einen weiteren Grund, mich zu meiner beruflichen Entscheidung zu beglückwünschen.
Unsere Hochzeit war ein enormes Gelage. Zum ersten Mal erlebte ich Leo betrunken. Er benahm sich korrekt, außer dass er Magda Silberpapierkügelchen in den Ausschnitt warf. Ich musste die ganze Nacht Flaschen öffnen. Es war die erste Hochzeit, an der ich teilnahm, ohne dass ich das Festgedicht geschrieben hatte.
Am Morgen danach sagte Almut, den Eisbeutel auf dem Kopf, dass sie noch glücklicher gewesen wäre, wenn ein alter Freund von ihr, Ralph Schaufuß, mitgefeiert hätte. Ralph Schaufuß? Ich tat so, als hätte ich den Namen nicht mehr in Erinnerung, dabei wusste ich genau, dass dieser Mensch, zusammen mit einem gewissen Lennart Miller, ihr Liebhaber gewesen war. Sie sagte, sie habe ihn meinetwegen nicht eingeladen, das sei ihr unpassend erschienen; aber ob sie uns zwei nicht bald mal bekannt machen sollte? Ein kleines Abendessen hier bei uns?
»Was denn«, sagte ich, »du siehst diesen Herrn immer noch?« Sie gab mir den Treppenblick. »Ach komm, Hagen, warum soll ich mit ihm brechen, wo ich gar nichts gegen ihn habe? Das war doch wirklich nicht fair. Nu lass mal deine Vorurteile beiseite und sei ’n bisschen aufgeschlossen. Ralph ist okay. Du wirst ihn mögen.« - Herr Schaufuß war Drogist. Er sprach Dänisch, seine Mutter stammte aus Bornholm. Als er auf Almuts Einladung bei uns erschien, trug er einen weinroten Anzug, dazu ein offenes Hemd, er brachte Champagner mit. Ganz gegen meine Erwartung fand ich ihn sympathisch. Sein Jungengesicht war sommersprossig und frisch, sein Haar rotbraun und sehr dicht; er trug einen Ring mit einem Glasbrillanten am kleinen Finger.
»Herr Schäfer! Na endlich... Almut hat...« Und so weiter. Die Konversation mit ihm war leicht und etwas hastig. Almut holte einen Kühler und machte den Champagner auf. Wir redeten ungefähr zwei Stunden über die Wiedervereinigung, die damals noch nicht lange her war, und über die Auspizien für Drogerien und Versicherungen im neuen deutschen Osten. Zum Abschied nahm Herr Schaufuß meine Hand und lächelte ein paar Sekunden länger, als die Höflichkeit es verlangt hätte.
Er kam bald wieder. Verwundert registrierte ich, dass er und Almut Pläne machten: rauszufahren an die Ostsee, in den Spreewald, in die Pilze. Ich trank Brüderschaft mit ihm. Ganz wie damals in der Zeit zwischen dem »Crystal« und Paris versuchte ich, obwohl die Hinweise deutlich waren, zu vergessen, dass etwas nicht stimmte. Ich produzierte eine fröhliche Laune. Ich ließ die beiden gehen und war offen für Unternehmungen zu dritt. Ich fragte nichts; wenn Almut spät nach Hause kam. Ich beobachtete sie, wenn wir miteinander schliefen. War sie wie sonst? Es schien mir so, aber man weiß ja nie. Schließlich vertraute ich mich Leo an. Der rieb sich die Nase. »Du musst sie drauf ansprechen«, sagte er. »Sie erwartet das. Los, Hahn.«
Ich fasste mir ein Herz, eines Abends, kurz vorm Zubettgehn.
»Hast du noch was mit Ralph?«
»Nein, aber Hagen, was denkst du.«
»Sag nicht, dass es abwegig wäre.«
»Du weißt, was wir gemacht haben. Ralph und ich waren nie... nie allein im Schlafzimmer.«
»Ach.«
»Wirklich - nie.«
Sie schnitt sich die Fußnägel. Ich guckte weg. Wie war das gemeint? Was hatte die Rückkehr dieses Burschen zu bedeuten? Es musste was zu tun haben, dämmerte mir, mit »weiblichem Exhibitionismus«.
Da erhob sie sich und ging ein paarmal zwischen Frisiertisch und Fenster hin und her. Ihre schmale Gestalt war in einen Morgenrock aus gelber Seide gehüllt, der gut zu ihren braunen Haaren passte. Am Fenster blieb sie schließlich stehen, äugte kurz fast furchtsam zu mir rüber und sagte dann mit Festigkeit:
»Hagen, es ist alles zurückgekommen.«
Gleich darauf verlor sie die Fassung und sank, die Hände vorm Gesicht, aufs Bett, auf den mauvefarbenen Satinüberwurf, den sie selbst hatte anfertigen lassen. Ich fragte dumm, aber zart:
»Was ist zurückgekommen?«
Es war die richtige Frage gewesen. Sie hob ihr Gesicht. Und beichtete, stockend und leise, dass ihr Anderssein leider nur vorübergehend, in Paris und noch einige Zeit danach, von ihr gewichen sei. Inzwischen aber sei das alte Verlangen wieder da, und wenn sie und ich miteinander ins Bett gingen, wünschte sie sich leidenschaftlich, dass ein Zuschauer unsere Freuden teile.
Schweigen kehrte ein. Es dauerte minutenlang. Schließlich seufzte ich:
»Wie ich diesen Schuh reparieren soll, weiß ich wirklich nicht.«
Almut war mir dankbar für den kleinen Scherz. Sie fasste Mut weiterzusprechen. In ihrem Unglück, sagte sie, habe sie noch einmal beim Sex-Krisentelefon angerufen. Diesmal sei eine andere Beraterin dran gewesen, aber auch von dieser Dame habe sie sich gleich verstanden gefühlt. Als erstes, sagte die Krisenfrau, reden Sie mit Ihrem Mann. Schenken Sie ihm reinen Wein ein. Und bitten Sie ihn, darüber nachzudenken, ob es denn gar so unvorstellbar sei, dass er auf Ihre Wünsche einginge... Zumal ein passender Dritter, erprobt und diskret, schon zur Verfügung stehe...
»Ich frage dich also jetzt, Hagen«, sagte sie mit zitternder Stimme und griff nach der Flasche mit Himbeergeist, die sie immer auf ihrem Frisiertisch stehen hatte, »ob es für dich völlig unvorstellbar ist...«
Plötzlich erschien mir die Ehe als eine komplizierte Verantwortung, die mich restlos überforderte. Ich hatte eine Frau geheiratet, die »anders« war, und war wohl jetzt, als ihr Ehemann, dazu verpflichtet, die Konsequenzen zu tragen. Bedrückt akzeptierte ich einen Himbeergeist. Mit dem kleinen Feuer in der Kehle fühlte ich mich stärker. Fühlte mich gleichwohl wie in der Klinik nach der Diagnose: Ist eine Operation unumgänglich, Herr Doktor, oder kann man mit Medikamenten was ausrichten?
Meine Frau war für die »Operation«, sie erläuterte mir in ziemlicher Verlegenheit, dass sie darauf aus sei, mit mir im Beisein ihres Freundes Ralph zu schlafen und betonte - sie hatte eine mir bis dahin unbekannte schnurrend-tonlose Weichheit in der Stimme - dass auch auf mich bei einem solchen Beisammensein überraschende Wonnen warteten.
Der Vorgeschmack, oje, war äußerst bitter.

Ich war zu guter Letzt gegen Lennart Miller ausgetauscht worden, war der arme Dussel, der diesen Freak ersetzen sollte, und ich warf ihr das wörtlich so hin. Sie antwortete: »Aber nein. Überhaupt nicht.« Mir habe sie ihr Herz geschenkt. Dann genehmigte sie sich noch einen Himbeergeist und sagte, von einem Hustenanfall unterbrochen, denn sie war zu erregt, um ordentlich schlucken zu können:
»Da gibt’s noch was... ähm ... Was ich mir am meisten wünsche, ist - dass du... - «
»?«
»... dass du zuguckst...«
Ich guckte lange regungslos in ihr Gesicht. Es war schön. Die pechschwarzen Brauen spannten sich wie Vogelschwingen durch diese Landschaft aus heckenrosenfarbenen Pastelltönen. Ihre Augen blickten friedfertig und wie stets ein wenig bittend. Nur ihr Mund verriet, dass sie eben etwas Unerhörtes gesagt hatte, denn sie hielt ihn jetzt fest geschlossen, und das Verzeihung heischende Lächeln, das sie darüberzubreiten versuchte, passte nicht zu dieser festen Geschlossenheit. Schließlich produzierte sie einen regelrechten Hustenanfall, mit Tränen, und wollte mir weismachen, sie habe sich erneut am Himbeergeist verschluckt. Es war aber nur die Bodenlosigkeit ihres Mutwillens, die ihr zusetzte.
»Du möchtest, dass ich...«
»Ja, dass du zuguckst -«
»Während du...«
»Ja, während ich es mit Ralph tue.«
Ich bin ein Spießer! - das war das einzige, was ich denken konnte, ein elender Spießer mit lächerlichen Durchschnittsneigungen, der froh sein kann, überhaupt ein Mädchen abgekriegt zu haben; und nun noch eine Exhibitionistin, das ist natürlich etwas ganz Phantastisches, danach lecken sich die Kerls die Finger. Ich habe das große Los gezogen und kann mich nicht dran freuen. Erbarmen! Diese Krisentelefon-Tanten sind ja wohl nicht ganz dicht. Und ich muss jetzt dafür zahlen. Kurz und verzweifelt dachte ich an Scheidung, dann an das »Crystal« und den Jardin de Luxembourg. Almut setzte sich auf die Sessellehne, ließ gelbe Seide auf mein Knie fallen und sprach leise, von kleinen Obstbrandschlucken unterbrochene Worte zu mir. Ich sei ihr von Anfang an so unkonventionell, irgendwie meinerseits »anders« und frei im Geiste vorgekommen, und so sei sie sicher gewesen, ich hätte für alles Verständnis. Irrtümer gibt’s, dachte ich, die sind so kurios, dass es schon nicht mehr drauf ankommt.

Ich blättere noch ein bisschen in Ascanio Schneiders und Armin Mases Meisterwerk und beschließe, den Schutzumschlag zu erneuern. Vorn im Innendeckel steht der Name des Vorbesitzers: Lothar Schick. Diesen Mann und mich verbindet das Eisenbahnhobby - und sonst nicht viel. Ich lernte ihn bei Flebbe kennen, dem bestsortierten Modellbahn-Fachgeschäft von ganz Berlin, im Wedding gelegen. Er hat mir die »Katastrophen auf Schienen« geliehen und später geschenkt. Ich fahre Spur N, die ja schon zierlich genug ist, es ist die zweitkleinste Größe. Lothar aber ist der totale Pinzettentyp, verfitzelt und pedantisch. Er macht’s mit Spur Z, die so winzig ist, dass man, wie Flebbe sagt, beim Einatmen aufpassen muss. Der mikroskopische Zuschnitt seiner Anlage mag der Grund dafür sein, dass Lothar nach seinen Bastelstunden regelmäßig völlig erschöpft ist - und deshalb auf die Idee kam, sein Hobby als »Sport« zu bezeichnen. Sport! Ich sage einfach: Passion. Das altmodische Wort Steckenpferd fände ich gar nicht so falsch, obwohl es etwas ungut Verniedlichendes hat. Aber es weist auf die Fortbewegung hin, um die es ja geht. Und was seit Menschengedenken dazugehört, ist der Unfall. Zur Zeit der Pferdekutschen war’s noch nicht ganz so dramatisch. Aber seit die Gewalt des Dampfes fürs Vorankommen genutzt wurde, seit ferner die Geschwindigkeit, mit der die motorisierten Menschen sich ins Gelände hineinwerfen, nicht mehr mit natürlicher Kraft zu zügeln ist, folgt das Verhängnis des Unfalls dem Fortschritt des Verkehrs wie ein blutiger Schatten.

Nun kann man mit der Modellbahn nicht verunglücken, es sei denn, man ist ein Modell-Lokführer. Die Katastrophe hat für uns Modellbahner eine eher spirituelle Bedeutung - und mit Sport hat das Ganze nichts zu tun, weder die funktionierende, noch die aus den Gleisen hüpfende Bahn. Ich streite nicht mit Lothar über diesen Punkt. Ich lache ihn nur aus. Und gucke ihn von der Seite an. Denn er ist ziemlich rund, obwohl doch angeblich so sportlich ...
Jenseits der Vierzig essen die Leute mehr, als sie brauchen, so kommt das allgemeine Übergewicht zustande. Ich will tun, was ich kann, dass mir das nicht passiert. Früher habe ich mit Radfahren und Gesellschaftstanz ein übriges für die Gesundheit getan, aber nach meiner Trennung von Almut war mir das alles verleidet. Radfahren hatte ich mit ihr begonnen, es war ihr Lieblingssport, und auch zum Tanzen hat sie mich veranlasst. Kaum war sie gegangen, habe ich das Mountain Bike verkauft. Für den Erlös konnte ich mir eine historische englische Dampflok, ein Paar Doppelkreuzungsweichen und zwei neue Trafos leisten. Ich hatte das Rad nicht mal mehr ansehen mögen, so sehr erinnerte es mich an Almut. Zuerst fürchtete ich, die Lok und die Trafos könnten etwas von dieser unerbetenen Erinnerung abstrahlen, weil sie ja das geldliche Äquivalent »unseres« Fahrrades darstellten - aber das war glücklicherweise nicht der Fall. Manches ist mir doch geblieben, manches gehört nur mir. Vor allem meine Eisenbahn, für die sich Almut nie wirklich interessiert hat, außer dass sie fand, sie nehme zu viel Platz weg. Und das Schwimmbad.
In diesen Tagen, wo der Sommer loslegt und eine höllische Hitze über der Stadt entfacht, bersten die Freibäder.
Wer geht schon ins Hallenbad bei 30°? Und dann noch nachmittags um vier? Ich. Anschließend werde ich in den Heidelberger Platz hinabsteigen und zu Lothar fahren: Er hat die Stadtbahnstrecke Friedrichstraße-Jannowitzbrücke ausgelegt, und ich darf bei der Einweihung dabei sein.
Meine Zehnerkarte ist ja nun weggekommen. Erstaunlich, was alles in eine einzige Brieftasche hineinpasst. Drei Tage ist es her, dass mir das kostbare Teil geklaut wurde, und noch immer bin ich mir nicht ganz im klaren, was eigentlich alles drin war. Hoffentlich gehen Karli oder der Schwarze wenigstens mal schwimmen - um den Staub des Mäuseturms von den Gliedern zu waschen und die kaum angebrochene Abo-Karte aufzubrauchen. Ich hasse Verschwendung. Und sehe blutenden Herzens vor mir, wie die unreifen Räuber meinen Personalausweis, meine Umweltkarte, einen ganzen Satz Visitenkarten, den Videothek-Mitgliedsausweis, den Abschnitt von der Reinigung, meine Bahn-Card und das Zehner-Abo des Wilmersdorfer Stadtbads in einen Straßenmüllcontainer kippen. Und dazu lachen und johlen wie die unerlösten Seelen.
Ich habe meine Tasche gepackt und noch ein paar Münzen eingesteckt, um eine neue Zehnerkarte zu ziehen, als es klingelt. Das kann nur ein Briefträger sein. Seit allerlei private Dienste mit der Post konkurrieren, ist die Zeit, zu der ausgetragen wird, offen geworden. Rund um die Uhr ist Zustellung möglich. Paketboten erscheinen am Mittag, Eilbriefträger im Morgengrauen, und der Versand, bei dem ich meine Frankenweine ordere, liefert grundsätzlich kurz vor Feierabend. Ich drücke auf den Summer und linse durch den Spion. Es dauert die üblichen zwei Minuten, und auf der Treppe zum dritten Stock erscheint ein großer runder Strohhut. Die Trägerin hält ihren Kopf gesenkt, so dass ich nur den Hut mit seinem blauen Band erkenne. Er krönt eine Gestalt von beträchtlich schlanker Länge. Ich öffne verdutzt. Da betritt die hochgewachsene Person meine Fußmatte und hebt ihr Kinn. Ein Gesicht leuchtet mich an, das ich gesehen hab, ich weiß nicht, wo.
»Ick komm vom Jugendamt«, sagt das Mädchen mit dem Hut. Sie lächelt unpassenderweise ein wenig hämisch. Ihre Lider und ihr Mund sind so geschminkt, wie das bei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes kaum üblich sein dürfte. Sie reißt die Augen auf, als wollte sie sagen: Wat is, soll ich hier Wurzeln schlagen? und schiebt sich mit einem Schwung des Beckens an mir vorbei in den Flur. Sie nimmt den Strohhut ab. Der hat sie verborgen gehalten, die schwarzen Haarschlangen, die jetzt herausspringen und alles klären. Sie legt den Kopf zur Seite, nickt, um mitzuteilen: Ich weiß, dass du jetzt weißt: Is nix mit Jugendamt. Und sagt: