- -
- 100%
- +
»Ick hab wat, det dich interessiert, Opa.«
Erst jetzt schließe ich die Wohnungstür. Auf meine Kehle drückt Erregung, die von unten hochsteigt und aus kaltem Grimm, aber auch - kurioserweise - aus Hoffnung besteht. Bringt sie mir die Zehnerkarte? Ich schlucke und bin gleich wieder gefasst. Hier wohne doch ich, mir kann gar nichts passieren. Und wenn die Medusa so generös ist, mir meinen Personalausweis zurückzuerstatten, erspare ich mir eine Menge Lauferei bei den Ämtern.
»Dann mal los«, fordere ich meine Besucherin lachend auf und wundere mich über meine plötzlich umgeschlagene Laune. Sie stakst vor mir her ins Wohnzimmer, dessen Tür ich für sie aufstoße. Ihr Kleid, ein langes Sommerfähnchen, schwarz trotz der Hitze und mit kupferroten sowie grünspanüberzogenen Münzen bedruckt, flattert um ihre Beine. Den Hut hält sie noch in der Hand. Ich biete ihr einen Platz auf meinem Sofa an und frage mit strenger Stimme:
»Wie war doch gleich dein Name?«
»Yvonne Genthien.«
Sie sagt das fast mit Stolz, den Blick auf mich gerichtet. Obwohl sie ja noch nie hier war, mustert sie ihre Umgebung nicht. Sie wirkt, als sei sie hier zu Hause oder doch an allem, was mein Salon so zu bieten hat, vollständig desinteressiert. Als sie aufhört, mich anzuglotzen, nimmt sie sich den Hut vor und beäugt das blaue Band. Danach kommt ihr Handtäschchen dran, das Schloss muss geprüft werden. Ich unterbreche diese selbstvergessene Tätigkeit:
»Hab ich recht, dass du mir meinen Personalausweis, meine Bahn-Card und mein Schwimmbadabo verkaufen willst?«
»Vakoofen?« Sie schlägt die Beine über, so dass ein braunes Knie unter dem geschlitzten Rock hervorsticht. »Har ick wat von Vakoofen jesacht?«
»Na, 400 Mark bin ich doch wohl schon mal los, oder was?«
»Wir ham ooch Unkosten, Opa. Irgendwie müssen die ja abjedeckt wer’n.«
»Irgendwie...«
»Na, wat meenste, wie teuer det Leben uff Trebe is. Du kannst von Glück sagen, det wir dir deine unverkäuflichen Siebensachen wiederbring’n.«‚
»Warum tut ihr das?«
Sie zuckt die Schultern.
»Man is doch Mensch.«
»Das ist die Frage - bei Gören, wie ihr es seid.«
»Na, nu komm runter vonner Palme, Eddi. Jeder wie er kann.«
»Eddi?«
»Ja, steht hier uff dem Zettel vom Meldeamt. Hagen Edgar Schäfer. Hagen is ja wohl ’n Irrtum vom Amt. Saren wir also Eddi.«
Ich strecke die Hand aus.
»Gib schon her, den Papierkram.« Ich vollführe eine ungeduldige Geste mit der offenen Hand und will hinzufügen: Und dann mach, dass du wegkommst, beiße mir aber auf die Lippen. Hab ich doch die Chefin hier im Exklusivinterview, da müssten ein paar Informationen, Karli betreffend, rauszuholen sein. Und so schalte ich auf Zeitgewinn um.
»Wie wär’s mit’m Kaffee?«
Ihre Augen leuchten auf. Das Handtäschchen, das sie eben öffnen wollte, gleitet über ihr Knie und rutscht vor das Sofa. Sie lässt es da liegen. Ein verstohlenes Lächeln zuckt um ihre Mundwinkel, kurz und fast schamhaft. Mir fallen ihre Lippen auf, die trotz der schattenmorellenfarbenen Schminke frisch und blank aussehen. Ihre Stimme klingt wie die eines zwölfjährigen Jungen, dem sie eben bricht. Ihre Augen sind schieferblau, ihre Haut wahrscheinlich im Winter ganz weiß, jetzt von einem matten Rostton überzogen und mit Sommersprossen gesprenkelt. In Kombination mit schwarzen Haaren sind Sommersprossen selten. Genthien? Was ist das für ein Name? Warum lebt dieses Kind auf der Straße? Plötzlich bin ich daran interessiert, es rauszufinden. Sie sagt:
»Haste nich ’ne Cola?«
»Nee, so was trink ich nicht.«
»Und ick mag keen Kaffee.«
»Dann vielleicht Milch?«
Sie lacht auf:
»Humor haste, wa?«
Wir gehen in die Küche. Hier zeigt sich, dass mein Gast auf Melone steht und also für unser beider Erfrischung gesorgt ist. Ich setze die Kaffeemaschine in Gang.
»Moment«, sagt Yvonne. »Ick hol ma eben meene Tasche.«
Sie kommt nicht so schnell zurück, wie es hätte geschehen müssen, wenn sie nur bis zum Sofa gegangen wäre, und ich überlege kurz, ob sich Gegenstände, die zum Klauen verlocken, in ihrer Reichweite anfinden. Ich denke mal: nein. Alles Geld trage ich bei mir, im Portemonnaie, das wie stets in meiner Hosentasche steckt. Solange ich noch keine neue Brieftasche habe, kommen auch die Scheine in die Börse. Und dass sie sich an meinem Zinnkrug oder meiner Büfettuhr vergreift, schließe ich aus.
Da höre ich das Mädchen schreien:
»Mannoo —!«
Es ist ein langgezogener Schrei, der Überraschung mit Belustigung mischt. Als sie auf der Küchenschwelle erscheint, lacht sie mit ihrem Kindermund von einem Ohr zum andern.
»Du spielst mit Eisenbahnen!«
Dann, plötzlich ernst werdend:
»Oder haste ‚n Sohn?«
Ich schüttele den Kopf. Sie ist mit dieser Auskunft sehr zufrieden:
»Det is ja ’n Ding!«
»Hast du Lust?«
»Da frachste noch?«
Ich schalte die Kaffeemaschine aus. Wir gehen ins Eisenbahnzimmer.
Als wir wieder rauskommen, schlägt meine Büfettuhr halb sieben. Wir sind ganz schön hungrig und völlig verschwitzt.

Ich muss Lothar anrufen und ihm sagen, dass es später wird. Während ich wähle, höre ich Yvonne in der Küche die Melone schlachten. Ich habe ihr noch Brot und Wurst hingestellt. Gern würde ich Lothar erzählen, dass ich eben die erste Frau kennengelernt habe, die nicht nur ein echtes Interesse für das Eisenbahnwesen, sondern auch noch technisches Verständnis und sogar Vorwissen mitbringt. Wofür das Leben auf freier Wildbahn - und diese Wildbahn ist im Untergrund mit Schienen ausgelegt - doch gut ist! Aber ich sage keinen Ton, denn die Göre würde alles mithören. Lothar ist wie immer tolerant. »Komm, wann du willst, Hagen.« Ich lege auf, mache die paar Schritte auf die Küche zu und bleibe im Türrahmen stehen.
Yvonne hat ihre Ärmel über die Schultern gestreift, es ist ihr wohl zu heiß. Diese Andeutung eines damenhaften Dekolletes wirkt seltsam an ihrem mageren Torso. Sie futtert. Ich räuspere mich:
»Warum lasst ihr Karli Maaßen nicht in Ruhe?«
»Biste sein Papa?«
»Er hat ’n Zuhause. Er muss nicht auf der Straße schlafen.«
»Meü Deus«, ruft sie aus und bleckt die Zähne.
»Was kann ich tun, damit du... damit du ihn zu seiner Tante zurückschickst?«
Sie bittet um etwas zusätzliche Wurst. Während sie die Stulle schmiert, sagt sie, das Messer an der Rinde abstreichend:
»Ick halt’ keenen fest.«
»Es genügt nicht, dass du ihn nicht festhältst. Du musst ihn zurückschicken.«
»Det hat doch jar keen Zweck. Nächsten Tach isser wieder da.«
»Wieso? Wie kommt das? Was will er von euch?«
Sie blickt auf.
»Na, er jehört dazu.«
»Wozu?«
»Zu uns.«
»Ich glaube, du irrst dich. Er gehört zu seiner Familie.«
Da lacht sie fauchend. Legt abrupt das Brot ab und ihre Hand auf die Magengegend. Ich sehe sie unter Sonnenbräune und Sommersprossen blass werden. Sie beäugt die Stulle und sagt vorwurfsvoll:
»Irgendwat stimmt mitter Wurst nich.«
»Die Wurst ist in Ordnung.«
»Auch ejal. Haste ’ne Cola?«
»Ich hab dir doch schon gesagt...«
»Meü Deus!«
Sie schließt die Augen und lässt ihren Rücken gegen die Stuhllehne sinken. Allmählich kehrt die Farbe in ihr Gesicht zurück. Die Hitze setzt uns eben allen zu. Wurst passt nicht zu dieser Temperatur. Ich suche Quark, Tomaten, Milch und Salz zusammen und setze mich zu meinem Gast an den Tisch. Bemühe mich, sie aufzumuntem.
»Hier, iss was Frisches.«
Doch sie hat keinen Hunger mehr. Sie rutscht auf ihrem Stuhl herum, greift plötzlich zur Milch, trinkt ein paar tiefe Züge aus der aufgeschnittenen Tüte, wobei ihr ein gutes Quantum das Kinn entlang über den Hals in den Ausschnitt rinnt und stößt, als sie, jetzt wieder ganz rotwangig, die Tüte abstellt, lächelnd hervor:
»Schenkste mir die Ferkel-Taxe?«
Warum wischt sie sich die vergossene Milch nicht ab? Ich bin eigen mit meinen Modellen, ich schenke nicht gern eins weg. Besonders von dem grünen Schienenbus, der es ihr so angetan hat, einem Einzelstück, das selten ist, möchte ich mich nicht trennen. Ich öffne die Tischschublade, hole eine schwere weiße Serviette heraus und reiche sie Yvonne wortlos hin. Sie nimmt sie und wischt sich mit ihr den Schweiß von der Stirn.
»Du hast Milch am Hals.«
»Echt?« Sie lächelt mich abschätzig an. Wirft dann die Serviette zurück, aber zu hoch, so dass sie hinter mir auf den Boden fällt, und reibt sich mit beiden Händen die weißen Tropfen in die Haut. Greift auch in ihren Ausschnitt und zieht dazu die Nase kraus.
»Kuhmilch is jut für die Haut. He Eddi, schenkste mir die Ferkel-Taxe?«
»Ich glaube, du wolltest mir ’n paar Sachen geben.«
»Kommt hin.« Sie stürmt ins Wohnzimmer und erscheint gleich darauf mit ihrer Tasche; sie öffnet den Beutel und entnimmt ihm einen mit rotem Gummiband zusammengehaltenen Stoß kleiner Papiere und Sächelchen. Den reicht sie mir. Ich zögere, bevor ich zugreife. Denn es kommt mir nicht so vor, als ob das da der Inhalt meiner Brieftasche sei.
»Nu nimm schon.«
Schaden kann’s ja nicht, wenn ich das Zeug mal mustere. Tatsächlich, da ist sie, meine Meldebestätigung. Und die Quittung von der Reinigung, der Videothekausweis, die Bahn-Card. Nach ein paar Fahrscheinen, Visitenkarten, Einkaufszetteln, originalverpackten Kondomen, Streichholzbriefchen und Supermarktbons, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, stoße ich erfreut auf meine grüne Zehnerkarte. Aber das war’s dann. Das wichtigste Dokument, mein Personalausweis, fehlt. Und natürlich die Kreditkarten. Aber die sind längst gesperrt.
»Was ist das?«
»’n Präser, Eddi.«
»Ich meine: Wo ist mein Ausweis?«
»Wat denn für’n Ausweis?«
»Das weißt du genau. Dies kleine Plastikding...«
»War nicht dabei.«
»O doch, bestimmt.«
»Dann wär’s jetzt hier bei dem Jelumpe.«
Wie sie das sagt - als sei sie felsenfest davon überzeugt, dass ein Mensch wie ich nie und nimmer würdig sei, einen Personalausweis bei sich zu fuhren. Ich werde auf einmal stinkwütend. Was erlaubt sich dieses Balg?
»Ich will auch die Brieftasche wiederhaben!«
»Jeschenk von deiner Tussi, wa?«
»Also her damit!«
»Wozu haste die Präser dabei? Machste’s mit Nutten?«
»Die Dinger sind nicht aus meiner Brieftasche.«
»Wat schämste dir, Eddi? Is doch menschlich. Und besser mit Jummi als blank. Is besser für’t Wohlbefinden.«
»Halt die Klappe! Sag mir lieber, wo ich Karli Maaßen finden kann und zwar sofort, oder ich mach weiter.« Ja, ich habe mir ihr Handgelenk gegriffen, über den Tisch weg, bin danach aufgesprungen, zu ihr hin und drehe ihr jetzt den Arm auf dem Rücken um. Sie japst vor Überraschung und fängt an zu keuchen. Sie setzt ihre Beine ein und hackt mit ihrem Knie nach meinem Schritt, den sie nur knapp verfehlt. Gleich tritt sie mit dem Ballen hinterher, doch ich bin schon ausgewichen, und die Wucht, mit der sie mich treffen wollte, bringt ihren Stuhl ins Wackeln, er kippt krachend hintenüber. Ich geh mit zu Boden, denn ich habe ihren Arm nicht losgelassen. Ihr Kopf landet auf meiner freien Hand. Sie kann sich nichts getan haben.
»Det is Körperverletzung!« kreischt sie.
»Nu gib ma Ruhe.«
»Det is Jewaltanwendung, weeßte, wat dich det kosten kann?«
Ich habe ihren Arm immer noch nicht freigegeben, deshalb kommt sie nicht vom Boden hoch und rollt empört die Augen. Ihr wüstes Haar ist als schwärzliche Gloriole um ihren Kopf gebreitet. Sie riecht eigentümlich nach Wacholder.
»Jetzt sag was ... Wo ist Karli? Ich will ‚ne Adresse. Und ’ne Zeit, wann ich ihn sicher treffe.« Ein bisschen noch drehe ich an ihrem dürren Arm, ich muss nicht viel tun, denn da sie selbst auf ihm draufliegt, genügen ein paar Millimeter, und es zieht, so hoffe ich, ganz schön. Sie wirft sich aus den Hüften hin und her, als unterzöge ich sie einer Folter. Mit der Linken bändige ich ihren freien Arm. Meine Knie sind gut in Position, um etwaige Ausfälle ihrer Stelzen zu parieren - die beide nackt zu sehen sind in ihrer langen Magerkeit, denn der geschlitzte Rock hat sich im Fall gehoben und ist auf ihren Bauch herabgesunken.
»Also?«
Sie bleckt die Zähne und stöhnt, als hätte ich gedroht, auf ihrem Hals eine Zigarette auszudrücken. Ihre Augen flackern in wilder Anklage, ihr Arm in meiner Hand fängt an zu zittern. Warum bloß muss das Kind so übertreiben? Ich will eine Auskunft von ihr und halte sie fest - ist das ein Grund zu erbeben und mich anzustarren wie einen Schänder?
»Yvonne, ich höre.«
»Lass mich los, du versauter Scheißtyp, du ekliger!« Sie stößt das heiser hervor, unter Tränen. Wo die plötzlich hergekommen sind, weiß ich auch nicht, denn eben noch haben ihre Augen kalt gedroht. Mir wird das jetzt alles zuviel. Ich mache, schwant mir, keine gute Figur. Lasse einfach ihre Handgelenke los und stehe auf, mit Kopfschütteln und hörbarem Ausatmen ihr die Schuld an der verfahrenen Situation zuweisend. Ich ordne Hemd und Hose. Es ist später Abend geworden, doch taghell und sehr warm. Es ist Mittsommernacht.
Yvonne rollt sich erst auf die Seite und steht dann so vorsichtig, ihre Gliedmaßen einzeln prüfend und massierend, vom Boden auf, dass man meinen müsste, ich hätte sie durchgeprügelt. Sie wischt sich das Gesicht mit den Händen ab. Ihr Blick, als sie sich zu mir wendet, ist nicht zornig, auch nicht vorwurfsvoll, eher resigniert und etwas spöttisch. Als wolle er bedeuten: Ich wusste es doch, du bist ein Schwein, wie alle. Sie zupft ihr Kleid zurecht und reibt ihr Handgelenk. Dann sagt sie, mit einer völlig unbeteiligten Stimme:
»Morgen abend um sechs isser da, der Karli, am Mäuseturm, wie wir alle. Wenn du willst, sar ick ihm, er soll ‚ne Viertelstunde früher komm’.«
Und sie flitzt aus der Küche. Mir ist nicht klar, was dieses plötzliche Einlenken zu bedeuten hat, und wie immer, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas zu glatt geht, wird es mir mulmig im Bauch. Ich hebe den Stuhl vom Boden hoch und schiebe ihn mit der Sitzfläche unter den Tisch. Ich wickle das rote Gummibändchen um die fremden Zettel und Kondome und stopfe das Zeug in Yvonnes Tasche. Höre sie den Flur entlanglaufen, dann geht die Klotür. Ich warte, bewege mich raus auf den Flur, das Täschchen in der Hand. Die Kleine hat jetzt zu verschwinden. Sie kommt aus dem Bad, den Hut auf dem Kopf, das Haar druntergestopft und das Gesicht gewaschen. Es ist ein zartes Kindergesicht, das mir entgegenglänzt, ohne Schminke, braun gebrannt, mit freundlichen Sprossen besät. Ihre schiefergrauen Augen lächeln jetzt, ihre Lippen versuchen es auch, breite, schön modellierte Lippen, deren untere sich gerne vorschiebt. Doch sieht’s dann nicht wie Schmollen aus, sondern wie Nachdenklichkeit.
»Ick kiek ma... ick meene... wegen der Brieftasche.«
»Was wollt ihr auch damit? So’n Ding ist doch gebraucht nicht zu verkaufen.«
»Hast du ‚ne Ahnung. Aber ick kiek ma, ob ick det für dich fingern kann.«
»Und mein Personalausweis?« Ich reiche ihr die Tasche.
»War nich mit drin.«
»Ich muss es doch wissen.«
»Irren is menschlich, Opa. Na denn, bis bald.«
Sie geht zur Tür. Bewegt sich geschmeidig und weich, obwohl sie fast nur aus Knochen besteht. Ich öffne ihr.
»Yvonne...«
»?«
»Warum kämmst du dir nicht mal die Haare?«
Sie lacht mit ihrer Mutanten-Stimme. Und macht, dass sie wegkommt. Ich schleiche zurück in die Küche.
Lasse mich in einen Stuhl fallen und überdenke den Nachmittag. Es war nicht richtig, wie ich mich verhalten habe, es war unkontrolliert. Warum musste ich das Mädchen anfassen? Ja ja, sie hat mich in Wut versetzt, aber ich hätte sie nicht anfassen dürfen. Ich hätte ihr nicht den Arm umdrehen und nicht so tun dürfen, als ginge es mir um Karli Maaßen. Der war mir längst egal gewesen. Ich wollte sie zum Schweigen bringen, wollte sie für ihr obszönes Gerede und den Diebstahl meines Personalausweises bestrafen. Sie hat das alles gemerkt und mir deshalb wie zum Hohn die Sache mit dem Mäuseturm gesteckt. Sie ist eine raffinierte kleine Person, eine wahre Schlange, und es ist Vorsicht geboten. Yvonne... Woher mag sie stammen? Mit Sicherheit ist sie in Berlin aufgewachsen..
Das Telefon schnarrt. Wer? Lothar wird’s sein. Ich möchte jetzt nicht mit ihm sprechen. Ich rufe ihn morgen zurück und entschuldige mich. Immerhin bringt er mich auf eine befreiende Idee. Ich werde ein bisschen basteln. Erstmal das T-Shirt wechseln, dann das Pomponne-Unglück nachstellen oder einfach den S-Bahn-Viertelzug ein paar Runden drehen lassen. Nichts lenkt so ab.
Ich kenne mich gut aus in meinen Beständen. Jedes Stück hat seinen Platz, und deshalb seh ich es sofort: Die Ferkel-Taxe fehlt.

Ich wähle Leos Nummer und will schon wieder auflegen, weil mir, während ich auf das Freizeichen lausche, alle Lust vergeht, von Yvonne zu berichten, aber da ist Magda am Apparat, und ihre liebliche Stimme vertreibt meinen Missmut.
»O Hahn, wann holen Lukas ab? Er soo viel Spaß mit neue S-Bahn.«
Morgen ist mein Bürotag. Da ist nichts zu wollen, Schäfers Wochenplan ist aus Gusseisen. Aber Mittwoch nachmittag gebe ich mir stets frei, und ich könnte den Patensohn vom Kindergarten abholen. Magda ist einverstanden und erzählt mir verliebt von Lauras erstem Lächeln. Ich stelle es mir vor und bin überzeugt: Ein schöneres Lächeln gibt es in ganz Neukölln nicht. Dann kommt Leo.
»Na, Junge, wie isses?«
»Zu heiß.«
»Kann man wohl sagen.«
»Erinnerst du dich an die Bernotat-Zwillinge?«
»Die mit der Versicherungsphobie?«
»Ja, die. In ihrem neuen Mietvertrag gibt’s ’ne Klausel, dass sie eine Hausratsversicherung abschließen müssen, und sie weigern sich. Jetzt drängt der Verwalter, und die zwei verlangen von mir, dass ich mit ihnen einen Scheinvertrag abschließe, damit sie ihre Ruhe haben.«
»Ach du Teufel.«
Die Bernotat-Zwillinge sind Leos verrückteste Kunden. Er hat sie von einem Kollegen übernommen, die beiden Herren, und alle Gespräche und Besuche, die er bis jetzt investiert hat, dienten nur dazu, bereits bestehende Verträge zu kündigen. Und jetzt wollen sie ihn auch noch zu Ungesetzlichkeiten anstiften. Eineiig sind die Bernotats, absolut ununterscheidbar und von Beruf Klavierbauer. Beide. Leo mag sie, obwohl er mit ihnen nicht ins Geschäft kommt.
»Mein lieber Mann«, seufzt er.
»Du hast ihnen doch Bescheid gestoßen?«
»Ich halte sie hin. Wenn ich gut bin, versichern sie ihren Hausrat demnächst doch noch - inklusive unterschriebener Einzugsberechtigung. - Kommst du Donnerstag zur »Runde«?«
»Nur wenn’s kühler wird.«
Die »Runde« ist Erich Kopelkes, unseres Verkaufsleiters, Steckenpferd. Er liebt es, seine Außendienstler um sich zu scharen und sie mit eitel Optimismus vollzupumpen. Ich gehe gar nicht ungern hin, denn hinterher sitzt man oft bis in die Nacht bei einem Tropfen zusammen und erzählt die ausgefallensten Begebenheiten. Es gibt keinen Versicherungsagenten, der nicht mal auf Tour von einem kokainsüchtigen Yuppie vollgeweint, von einer Alzheimer-Oma zum Erben bestimmt oder von einer honetten Hausfrau auf die Couch gezerrt worden wäre. Manchmal nimmt uns Kopelke mit zu sich nach Hause. Mia, sein Weib, so breit wie hoch und Herz für zwei, macht erstklassiges Käsegebäck.
»Wir brauchen dich, Hahn. Du bist beim Rollenspiel der beste Kunde von der skeptischen Abteilung.«
Ich muss lachen, fahre mir mit dem Zeigefinger in den Kragen, denn ich schwitze immer noch und merke dabei, dass mir die ganze linke Hand wehtut. Da ist Yvonne mit ihrer Rübe draufgeknallt. Ihr Haar hat wie Glaswolle gestochen.
Leo möchte, dass ich bei meiner Versandfirma ein paar Kisten Frankenwein für seine Party ordere. Er hat vorhin die Gästeliste zusammengestellt. Da ist ein Problem aufgetaucht.
»Weißt du, irgendwie ist es absurd, wenn ich Almut nicht einlade. Aber wenn sie kommt, kommst du nicht. Was soll ich machen?«
»Wirf ’ne Münze.«

Ich liebte Almut noch, als ich sie rauswarf, und bin auch jetzt, anderthalb Jahre nach unserer Trennung, nicht mit ihr fertig. Magda weiß das. Sie sagte neulich: »Schade. Ihr wart schönes Paar.« Manchmal denke ich: Hätte Almut nicht diese Augenbrauen gehabt und diesen Blick, wäre da nicht ihre fahrige, aber reizende Art gewesen, mit den Händen zu reden und mit den Fingern Figuren in die Luft zu zeichnen, ich wäre längst von ihr los. Aber natürlich ist das ein dummer Gedanke, denn dann hätte ich mich ja nicht in sie verliebt und sie nicht geheiratet. Sie wollte es nicht wahrhaben, aber sie war es, die unsre Ehe kaputtgemacht hat. Sie hat Ralph Schaufuß in unsere Zweisamkeit eingeschleppt, und mir war’s nun mal nicht gegeben, die Rolle, die sie mir zugedacht hatte, auszufüllen. Ich war guten Willens, ich wollte ihr beweisen, wieviel mir an ihrem Glück gelegen war. Aber was hilft der gute Wille, wenn es kommt, wie’s mit uns kam.
Merkwürdigerweise habe ich den Abend, an dem Ralph Schaufuß dabeisein und alles dann so kommen sollte, wie Almut es sich wünschte, mit einem Gemisch aus Furcht und Spannung erwartet. Wenn er nur, dachte ich, nicht wieder Champagner spendiert. Ich muss das doch als Herablassung empfinden, als eine Geste, die besagen will: Mein armer Hagen, du bist nun mal leider noch ein bisschen spießig, und um dich zu animieren und deine Verkrampfungen zu lockern, habe ich hier ein Tröpfchen mitgebracht, wie es uns allen dreien guttut und wie ihr zwei es euch nicht so oft leisten könnt... Skäl! Ich sprach Almut auf diesen Punkt an und bat sie, Ralph davon abzuhalten, etwas mitzubringen. Sie guckte, als hätte nicht sie, sondern ich eine ausgefallene Vorstellung vom ehelichen Intimleben. Dabei zog sie ihre Brauen zusammen, die so gekräuselt, in ihrer feuchten Teerschwärze, sehr attraktiv wirkten. »Lass ihn doch mitbringen, was er will, Liebling«, sagte sie in völliger Verständnislosigkeit. »Weißt du, zu dritt dauert es eh länger. Und es macht großen Spaß, wenn man zwischendurch eins zwitschert.« Dabei sah sie in offenkundiger Vorfreude erst mich, dann ihre Hände, Knie und Fußspitzen an und kicherte in sich hinein.
Über die Regie des Abends hatten wir gesprochen. Almut und Ralph fanden es fair, mir als dem Dreier-Neuling die Wahl zu lassen: Wollte ich zuerst aktiv oder Zuschauer sein? Es war mir immer als eine Selbstverständlichkeit erschienen, dass ich als Ehemann den Anfang machen müsste. Aber wenn ich mir die Szene vorstellte, wurde ich nicht froh damit. Es konnte doch sein, dass ich versagte. Oder dass ich, mitten im Akt, Ralph zum Teufel wünschte und das herausschrie. Als Zuschauer würde ich mich, so hoffte ich, leichter in der Gewalt behalten. Zur Not konnte ich die Augen schließen. Das schien mir nicht ganz so schmachvoll wie der Zusammenbruch meiner Männlichkeit in Almuts Armen - mit Ralph als verständnissinnigem Beobachter. Sollte das im zweiten Akt passieren, so hatte ich als toleranter Zuschauer schon ein paar Pluspunkte in petto, und die Niederlage wäre nicht so verheerend.
An einem Wintersamstagabend war es dann soweit. Ralph erschien - mit einem Handy in der Brusttasche und mit Champagner! Wir stießen an. Redeten ein bisschen hin und her, ohne den Dreier anzusprechen, zu dem wir ja nun bereit waren. Schließlich nahm Almut mich beiseite - sie schickte mich ins Schlafzimmer; im Sessel vorm Fenster sollte ich warten. Das tat ich. Die beiden legten im Bad ihre Sachen ab und duschten; Ralph telefonierte, während Almut ein Weihnachtslied sang. Als sie eintraten, schwiegen sie immerhin, nur Almut hustete künstlich. Beide trugen Morgenmäntel. Er führte sie an seiner Hand wie eine Braut herein und lächelte dazu. Almut trug noch Schmuck und ihre Armbanduhr, die legte sie jetzt ab. Es gab kein verführerisches Getue ihrerseits, keine Worte oder Gesten, nichts. Ich weiß noch genau, dass die geschäftsmäßig-stille Geste des Uhr-Abnehmens, die sie genauso vollzog, wenn sie nur ins Bett ging, um zu schlafen, mich wirklich rührte. Oha, dachte ich, jetzt geht es los, gleich wird sie nackt und ich werde nicht mit ihr allein sein. Und mein Magen verzog sich erst Richtung Herz, dann Richtung Gedärm und blieb da schmerzend hängen.