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Dieses kleine Wunder gelang dem 1941 in Pacoima, Kalifornien, geborenen Sänger und Gitarristen Ritchie Valens. Produzent Bob Keane hatte das junge Talent im Mai 1958 entdeckt. Im September wurde La Bamba in den Gold Star Studios in Hollywood von Ritchie Valens (Gesang und Gitarre), Irving Ashby, Carole Kaye (Gitarre), Buddy Clark, Rene Hall (Bass), Ernie Freeman (Klavier) und Earl Palmer (Schlagzeug) aufgenommen und einen Monat später als B-Seite seines selbstkomponierten Liebesliedes »Donna« (für seine Freundin Donna Ludwig) als Single veröffentlicht. Ende Dezember erreichte die Scheibe die US-Billboard-Charts, um Anfang des folgenden Jahres ein Bestseller und Riesen-Radiohit zu werden, und zwar beide Seiten. Das war erst Ritchie Valens’ zweite Single. Dass es zugleich seine letzte zu Lebzeiten veröffentlichte wurde, ist die große Tragik seines kurzen Lebens: Ritchie Valens war erst 17, als er in einer kalten, verschneiten Februar-Nacht nach einem gemeinsamen Konzert zusammen mit dem einflussreichen Rock’n’Roll-Musiker Buddy Holly und dem damals sehr populären Disc-Jockey The Big Bopper sowie dem Piloten in einer viersitzigen Beechcraft Bonanza im US-Bundesstaat Iowa abstürzte. Dieser Tag, der 3. Februar 1959, ging als »The Day the Music Died« in die Annalen der amerikanischen Pop-Geschichte ein und wurde zwölf Jahre später von Don McLean in seinem Song »American Pie« verarbeitet.
Die Aufnahme von La Bamba machte Ritchie Valens jedoch unsterblich. Unter diesem Titel wurde auch sein Leben verfilmt: 1987, unter der Regie von Luis Valdez und mit dem jungen Lou Diamond Phillipps, der Ritchie Valens ein hübsches Gesicht gab. Durch den Film gelangte die Original-Valens-Version noch einmal weltweit in die Hitparaden, neben der ausgezeichneten Filmfassung der Kalifornischen Band Los Lobos, die zum Sommerhit des Jahres 1987 avancierte und es in den USA und England sogar auf Platz Eins schaffte. La Bamba ist der einzig spanischsprachige Titel, der in die Liste der 500 besten Rocksongs aller Zeiten des Musikmagazins Rolling Stone aufgenommen wurde.
Ritchie Valens’ La Bamba-Interpretation wurde zum Urstein des cross over Ethno-Rocks, der sich im heutigen Mexiko zum eigenen Chicano-Rock-Stil entwickelte; und Valens selbst zum ersten Latin-Rocker der Musikgeschichte. Ebenso beeinflusste diese eine geniale Aufnahme des alten mexikanischen Volksliedes Latin-Rock-Musiker von Carlos Santana bis Los Lobos. Im Programm hat den Song jede gute Band, selbst Metallica haben La Bamba einst live gespielt. Cover-Versionen gibt es unzählige. Tom Miller, ein bekannter US-Reise-Autor, hat im Jahre 2005 über 80 Fassungen von La Bamba als CD-Kompilation »The Best of La Bamba« herausgegeben.
Und noch auf ganz anderem Wege hat sich La Bamba unsterblich gemacht: »Twist and Shout« war 1963 der erste internationale Top-Ten-Hit der Beatles, den sie immer am Schluss ihrer Konzerte spielten, so auch bei ihrem letzten Auftritt im Candlestick Park, San Francisco, Ende August 1966. Bert Russell hatte das Stück 1961 zusammen mit Phil Medley für die Isley Brothers geschrieben – so sagte er. Bei genauerem Hinhören ist es musikalisch bis hin zum Gitarrenriff identisch mit der Valens-Version von La Bamba. Nun, der Räuber raubt es dem Räuber, »La Bamba« eben.
Ergänzung
Einige Quellen gehen davon aus, dass der schwedisch-amerikanische Sänger und Gitarrist William Clauson während einer Mexiko-Reise dort die »Ur-Version« von La Bamba hörte: schnelle Folklore mit Harfe und Akustik-Gitarrenbegleitung. Clauson verlangsamte das Tempo ein wenig und machte daraus als erster – also noch vor Richie Valens – einen Latin-Folk-Song. Diese Version von Clauson könnte Valens möglicherweise als Vorlage für seine Rock’n’Roll-Fassung gedient haben. Das würde erklären, warum in der Retrospektive, der »Ritchie Valens Story«, William Clauson als Autor von La Bamba genannt wird. Das als seriös geltende Plattenlabel Rhino Records berief sich dabei auf Aussagen von jemandem, der es wissen müsste: der Valens-Produzent Bob Keane. Wenn diese Theorie stimmt, müsste Valens La Bamba bei einem Clausen-Konzert gehört haben – so wie es auch im Valdez-Film zu sehen ist. Denn auf der LP »Clauson in Mexico!« von 1958 sucht man den La Bamba-Titel vergeblich. Erst 1963 veröffentlichte Clauson den Song zusammen mit dem Latin American Trio Los Tres Guaramex auf einer Langspielplatte.
Titel – Autoren – Interpreten
La Bamba
Original-Musik: Traditional – 17. Jahrhundert
Spanischer Text: Traditional – 17. Jahrhundert
Frühe Tonträgeraufnahme: (als »El Jarabe Veracruzano«/ »Die Hochzeit in Veracruz«): Andres Huesca – um 1908
Großartige Version mit zwei verschiedenen Tempi: Harry Belafonte – 1956 ; Label: RCA Victor
Erste Hit-Version: Ritchie Valens – 1958/59; Label: Del-Fi (US)/London (UK)
Typisch mexikanische Folklore-Interpretation: Mariachi Vargas de Tecalitlán – 1963; Label: Arcano (MX)/RCA Victor (US)
Internationaler Top-Ten-Hit: (als »Twist And Shout«) The Beatles – 1963; Label: Odeon (D), Tollie, Capitol (US), Parlophone (UK)
Hit-Produktion aus dem Film »La Bamba«: Los Lobos – 1987; Label: Warner Brothers (US)/Metronome (DE)

When The Saints Go Marching In
Afrika/USA 18./19. Jahrhundert
Vom Spiritual über Gospel zu Jazz
Zwischen 1619, der Ankunft der ersten Sklavenschiffe in Amerika, und 1865, dem offiziellen Ende der Sklaverei als Ergebnis des amerikanischen Bürgerkrieges, – also 246 Jahre lang – wurden schätzungsweise 10 Millionen Afrikaner in den Süden von Nord-Amerika deportiert. Die Mehrzahl der Sklaven musste unter extrem harten Bedingungen auf riesigen Baumwoll- und Tabakplantagen schuften. Durch die Gottesdienste der Plantagenbesitzer und die Missionierung von Gruppen protestantischer Christen, wie anfangs den Quäkern, und später den Methodisten und Baptisten, kamen die Geknechteten Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Botschaft der Bibel und der Lehre und Leidensgeschichte von Jesus in Berührung. Zwei sehr unterschiedliche Kulturen trafen aufeinander: Weiße christliche Lehren mit getragenen Chorälen, Psalmen, Hymnen und liturgischen Gesängen wurden nun mit schwarzer religiöser Ekstase, afrikanischen Rhythmen (Polyrhythmik) und ungewohnter Harmonik (Pentatonik) und mit inbrünstigem Gesang wiedergegeben. Als Ergebnis dieser Kulturvermischung bildeten sich religiöse Gesänge heraus, deren Inhalte einerseits das eigene Schicksal und das unendlich große Leid mit dem Wunsch nach Freiheit waren, und andererseits verwandte Geschichten der Bibel, die die Unterdrückung des Volkes Israel in Ägypten und die babylonische Gefangenschaft thematisierten. Das Grundmotiv Befreiung, wie der Auszug aus Ägypten und der Einzug ins Gelobte Land unter Moses, wurde sowohl bei der Arbeit auf den Feldern als auch später bei schwarzen Gottesdiensten aus tiefster Überzeugung besungen. Typisches Merkmal vieler Lieder war das Call and Response: Ein Gesangspart wird von einem Sänger vorgesungen, mehrere Nachsänger antworten im Chor.
Die Vokalgesänge, die in der Zeit zwischen dem späten 18. Jahrhundert und Mitte des 19. Jahrhunderts durch die schwarzen Leibeigenen entstanden, werden allgemein als »Spirituals« (dt., geistliche Lieder) oder »Negro Spirituals« bezeichnet. Damit die Spirituals nicht in Vergessenheit gerieten, gab es glücklicherweise verdiente Menschen, die die Songs gesammelt, bearbeitet und publiziert haben; unter anderem waren dies: Isaac Watts (1707), John Newton (1779), Richard Allen (1801), Philipp Bliss (1874), W. E. B. Du Bois (1903), John Wesley (1915?), James Weldon Johnson (1925), Howard W. Odum und Guy B. Johnson (1925) und Edward Boatner (1927). Aus diesem großen Kultur-Schatz gab es einige Lieder, die besonders beliebt waren, öfter gespielt wurden als andere und so im Laufe der Zeit sehr bekannt wurden. Manche von ihnen gelangten sogar zu weltweitem Ruhm.
Eines dieser Lieder ist When The Saints Go Marching In. Ob der Song in seiner heute bekannten Form auch irgendwann mal von Sklaven auf den Plantagen als Spiritual gesungen oder vielleicht später – Ende des 19. Jahrhunderts – als eine Art Trauermarsch gespielt wurde, ist nicht überliefert. Falls es so war, hat The Saints eine Umkehrung erfahren. Wir wissen nämlich, dass er in der Geburtsstadt des Jazz, in New Orleans, der Hafenstadt am Mississippi River in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts (besonders um 1910 bis 1920) bei den traditionellen Beerdigungen auf dem Rückweg vom Friedhof zur Innenstadt als swingendes Jazzstück gespielt wurde. Üblicherweise wurde diese Musik im New Orleans-Stil gespielt, also eine Besetzung mit Trompete, Posaune, Klarinette, Tuba und Banjo. Lutz Eikelmann, deutscher Jazz-Musiker, klärt uns auf: »Jazz war zu Beginn eine lebensbejahende Musik, die unter widrigen Umständen entstand. Von der Sklaverei ›befreite‹, aber dennoch weiterhin unterdrückte Afro-Amerikaner zeigten einem gewissen System den Stinkefinger und lebten eine Lebensfreude und einen freien Geist, diesen widrigen Umständen zum Trotz. Wie man bei einer traditionellen New Orleans Beerdigung auf dem Weg zum Friedhof Hymnen und Trauermärsche spielt, nach der Beisetzung dann tänzelnd mit fröhlicher Musik durch die Straße nach Hause oder in die nächste Kneipe zieht und damit den Sieg des Lebens über den Tod triumphieren lässt, so schreit der Jazzgeist die Botschaft hinaus: ›Wir sind glücklich, nicht weil die Umstände glücklich sind, sondern trotzdem!‹«
Die früheste, heute noch erhaltene Tonträgeraufnahme von When The Saints Go Marching In, datiert aus dem Jahre 1923, stammt von der schwarzen Vokalgruppe Paramount Jubilee Singers. Von den zahlreichen späteren Interpreten, die The Saints gespielt und bekannt gemacht haben, muss einer hervorgehoben werden: Louis Armstrong (1901–1971), schwarzer Trompeter und Sänger, einer der bedeutendsten Jazzmusiker überhaupt und wahrscheinlich weltweit der bekannteste. »Satchmo« (von Satchelmouth), wie er wegen seines großen Mundes von seinen Fans liebevoll genannt wurde, war ein brillanter Musiker, ein atemberaubender Improvisator und ungewöhnlicher Sänger mit Raspelstimme. Alle seine Produktionen sprühten nur so vor Fantasie, Lust und Leidenschaft. Satchmo hat The Saints mehr als 15 Mal aufgenommen und somit dafür gesorgt, dass der Titel heute ein Evergreen und Jazz-Standard ist. Schon die erste Einspielung vom Mai 1938 in New York ist eine Klasse für sich!
Eine andere Weiterentwicklung des Spiritual ist der Gospel, der im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als geistliche Kirchenmusik der Schwarzen bei Gottesdiensten nicht nur gesungen, sondern auch mit Instrumenten in (meist) swingenden Rhythmen präsentiert wurde, und der sich Anfang der 1930er-Jahre mit Jazz- und Blueselementen vermischte und sehr populär wurde. Auch die zu Beginn der 1960er entstandene Soul-Musik weist starke Gospel-Elemente auf. Den Unterschied zwischen Spiritual und Gospel erklärt die schwarze Sopranistin und Gospelsängerin Jo Ann Pickens aus Texas so: »Spirituals sind die ursprüngliche Form und Grundlage aller afroamerikanischen Musik – ihre Wurzel. Gospelmusik hat ihren Ursprung in der Kirche und ist nicht so alt wie die Spirituals. Es gibt zwar stilistische Unterschiede, aber in den letzten Jahren hat sich das etwas vermischt. Man könnte also einen Spiritual nehmen und einen Gospelsong daraus machen, was häufig geschehen ist.« Von den Interpreten, die The Saints als Gospel gesungen haben, ragt die schillernde Persönlichkeit Mahalia Jackson (1912–1972) mit ihrer Aufnahme von 1959 heraus. Die schwarze Sängerin, die sich ausschließlich der Gospelmusik verschrieben hatte, bezeichnete ihre Musik als »spirituell-geistlich«, im Gegensatz zum »hoffnungslosen« Blues, der so etwas wie ein weltliches Gegenstück zum Gospel ist.
Neben den Darbietungen von Armstrong und Jackson, gibt es zahlreiche wichtige Aufnahmen, so z. B. vom Trompeter Ken Colyer, der den Dixieland-Jazz in Europa bekannt gemacht hat. Ken Colyer’s Jazzmen – mit dabei waren so bedeutende Musiker wie Chris Barber, Monty Sunshine und Lonnie Donegan – spielten The Saints bereits 1953. Auch von den frühen Beatles, 1961 als Begleitband von Tony Sheridan, gibt es eine Produktion, ebenso wie vom Soul-Titan James Brown, dem »King Of Zydeco« Clifton Chenier, der R’n’B-Legende Fats Domino, des Weiteren von Judy Garland, Golden Gate Quartet, Louis Prima, Dr. John ... – diese Liste ließe sich nahezu unendlich fortsetzen. Und last but not least, sogar »The Boss« reihte sich in die Aufzählung der Interpreten ein: Bruce Springsteen, einer der erfolgreichsten Rockmusiker der USA, spielte den Klassiker 2006 live in Dublin.
Welche Bedeutung hat die textliche Aussage von The Saints? »O Lord I want to be in that number – When the saints go marching in« heißt soviel wie »Ich möchte dabei sein, wenn die Heiligen einziehen«. »Welche Heiligen ziehen wo ein?«, könnte man fragen. Nicht die »Heilig-Gesprochenen« im katholischen Sinne sind hier gemeint, sondern das Einziehen des Einzelnen als Geheilter ins Paradies – in die Welt der Einheit, die nicht wie die unserige der Polarität unterliegt; so wie Jesus schon sagte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Der apokalyptisch anmutende Text anderer Strophen sollte nicht als Weltuntergangsvision begriffen werden – vom »Ende der Welt« sprechen die Weisen, wenn »das Bewusstsein aus seinem Traum der Identifikation mit den Formen erwacht und sich daraus zurückzieht« (Eckhart Tolle). »And when the sun refuse to shine« – »Wenn die Sonne sich weigert zu scheinen« – »When the moon turns red with blood« – »Wenn der Mond rot wie Blut wird« – »When Gabriel blows in his horn« – die Gerichtsposaune des Erzengel Gabriel – und »When they crown him King of Kings« – »Wenn sie den König der Könige krönen« – den wiederkommenden Christus. Wie schon im Neuen Testament der Bibel angedeutet (z. B.: »Taufe mit Feuer und dem Heiligen Geist« – Mt. 3,11) ist es der Kampf der polaren Gegensätze zwischen Yin und Yang, der die Gestalt eines apokalyptischen Dualismus annehmen kann, wenn der Mensch dazu bereit ist. Ist er dazu bereit, ist er im wahrsten Sinne des Wortes erlöst von dieser unserer Welt. Denn: die widerstandsfreie Verschmelzung der Gegensätze von Objekt und Subjekt führt uns zur Einheit – zu Gott.
Ergänzung
Verwechslungsgefahr: Der Gospel-Song »When The Saints Are Marching In« von 1896, komponiert von James Black, getextet von Katherine Purvis, unterscheidet sich von When The Saints Go Marching In in jeder Beziehung, sowohl den Text als auch die Musik betreffend.
Titel – Autoren – Interpreten
When The Saints Go Marching In
Musik: Traditional – 18./19. Jahrhundert
Englische Texte: Traditional – 18./19. Jahrhundert
Neuer Text: (als »The Five Penny Saints«) Sylvia Fine – 1959
Eine der ältesten Aufnahmen: Paramount Jubilee Singers – 1923; Label: Paramount
Legendäre Jazz-Einspielung auf Schellackplatte: Louis Armstrong – 1938; Label: Decca (US)/Brunswick (DE)
Ergreifende Gospel-Live-Fassung: Mahalia Jackson – 1958; Label: Columbia
Humorvolle Special-Version: (als »The Five Penny Saints«) Louis Armstrong & Danny Kaye – 1959; Label: London
Stimmige New Orleans-Aufnahme mit neuer Melodie und überarbeitetem Text: Dr. John – 2004; Label: Parlophone
Getragene Live-Produktion: Bruce Springsteen & The Sessions Band – 2006/07; Label: Sony (US), Columbia (DE)

Those Were The Days
Russland 18./19. Jahrhundert
Die russische Zigeunerromanze
von Hermann Müller
»Ein Lied geht um die Welt«, so möchte man feststellen, schaut man auf die Vielzahl von Anleihen, Interpretationen und Übersetzungen, die die Reise des Songs Those Were The Days begleiten. Die Vermutungen um das Entstehen dieser Komposition wirken zuweilen recht mysteriös oder widersprüchlich. Seine Ursprünge scheinen aber letztendlich auf ein altes russisches (evtl. ukrainisches) Volkslied mit dem Titel »Дорогой длинною« – »Dorogoj Dlinnoyu« (dt., auf einem langen Weg) zurückzugehen, wobei der Textverfasser unbekannt ist. Russische Zigeuner sehen es als eines ihrer wichtigen Lieder innerhalb ihrer musikalischen Tradition. Andere Quellen behaupten, das Stück sei von zwei russischen Autoren verfasst worden: der Komponist Boris Fomin (1900–1948) soll es Mitte der 1920er-Jahre nach einem Text des »vergessenen« Dichters Konstantin Podrevskii geschrieben haben.
Diese Annahme liegt im Bereich des Möglichen, denn wir wissen, dass Fomin sich zum Entsetzen seines Vaters als Musiker durchschlug, was im revolutionsgeschüttelten Russland in der Zeit vor und nach 1920 gewiss nicht einfach war. Er war ein begabter Pianist und komponierte ca. 150 Lieder.
Verschiedene russische Interpreten befassten sich mit dem Titel. Als erste bekannte Aufnahme gilt allgemein die von Alexander Wertinsky – irgendwann aus den 1920er-Jahren. Wertinsky war Sänger, Schauspieler und Dichter und auch Kultfigur des russischen Kunstkreises der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine andere schöne »Dorogoj Dlinnoyu«-Aufnahme mit russischem Text gibt es von Rada und Nikolai Volshaninov, Mitglieder einer Zigeunerfamilie.
Die Suche nach den genauen Wurzeln des Werkes gestaltet sich schwierig und es wäre wünschenswert, wenn sich einmal ein russischer Musikforscher dieser Sache annehmen würde.
Das Thema des russischen Ursprungstextes ist ein nostalgischer Rückblick auf eine vergangene leidenschaftliche Liebe und gar nicht so verschieden von dem englischen Text, den der Amerikaner Eugene »Gene« Raskin 1962 als Those Were The Days für einen Auftritt mit seiner Frau Francesca zu einem Kabarettprogramm schrieb. Während der Poet im russischen Text seinen wehmütigen Erinnerungen auf einer Pferdeschlittenfahrt in mondbeleuchteter Nacht nachgeht, sinniert Raskin in seiner Fassung ebenso sehnsüchtig über vergangene Träume und verlegt den Ort in eine Taverne, in der feuchtfröhliche Treffen stattfanden: »Those were the days my friend, we’d thought they’d never end, we’d sing and dance forever and a day ...« – »Das waren die Tage mein Freund, wir dachten sie würden niemals enden, wir würden singen und tanzen für immer und einen Tag.« Im April des gleichen Jahres nahm die US-amerikanische Folkgruppe The Limeliters als erste die Raskin-Version für ihr Album »Folk Matinee« als Schallplatte auf.
Für die im Internet verbreitete Behauptung, die Schauspielerin Maria Schell hätte Those Were The Days 1957 in der amerikanischen Film-Produktion “The Brothers Karamazov“ (“Die Brüder Karamasow“) gesungen, konnten wir trotz intensiver Suche (Film, Soundtrack, Biographien) keine Bestätigung finden.
Den enormen Durchbruch erreichte der Song erst, als der Beatle Paul McCartney die walisische Sängerin Mary Hopkin produzierte. Die 1950 geborene Hopkin wurde von dem damals angesagten spindeldürren Fotomodell Twiggy in der TV-Talentshow »Opportunity Knocks« entdeckt. Auf Twiggys Empfehlung gelangte Mary in die Studios der Beatles, die gerade das Plattenlabel Apple Records gegründet hatten und eine Reihe neuer Singles einspielen wollten. Paul erinnerte sich dabei an den Song von Gene und Francesca Raskin, den er bei deren Auftritt im Club Blue Lamp in London gehört hatte. Das schien für McCartneys Entdeckung Mary der geeignete Titel für eine neue Single zu sein. Anscheinend hatte er jedoch vorher das Lied anderen Sängern angeboten, wie beispielsweise Donovan, die jedoch ablehnten.
Those Were The Days erschien als 5-Minuten-Single von Mary Hopkin gesungen auf dem Apple Label Ende August 1968 und wurde ein überwältigender Erfolg. Ob in England, USA, Frankreich, Spanien, Deutschland oder Italien, überall eroberte die Nummer Spitzenplätze in den Charts, sodass am Ende des Jahres die Single bereits fünf Millionen Mal verkauft wurde.
»That’s how I got the job, cause they didn’t know anybody else … they could have found a real arranger …« – »So habe ich den Job gekriegt, weil sie niemanden sonst kannten ... sie hätten einen richtigen Arrangeur finden können ...« Mit diesen Worten beschrieb der damalige Musikstudent für klassische Musik, Richard Hewson, die Situation, nachdem er von Peter Asher, dem A&R-Mann (Artist & Repertoire) bei Apple im Sommer 68 den Auftrag erhielt, Days zu arrangieren. Dabei war – offensichtlich – weniger Hewsons mangelnde Erfahrung in Sachen Arrangement verantwortlich, als vielmehr seine klassische musikalische Ausbildung, da McCartney einige Orchesterpassagen in Days eingebaut sehen wollte. Dennoch, Hewson wollte über die Art der Instrumentierung in seinem Arrangement von Those Were The Days eher eine alte countrymäßige Atmosphäre entwickeln: Akustische Gitarre, Violine/Bratsche, Klarinetten, Standbass, Tuba und ein der ungarischen Zigeunermusik nahestehendes Instrument, ein Cembalon. Hewson dachte dabei an einen seiner Professoren, Gilbert Webster, der dieses Instrument ausreichend beherrschte. Herausgekommen ist ein nostalgisch klingendes Arrangement, das wie ein Salon-Orchesters der 1930er-Jahre klingt und ganz hervorragend zum Song passt. Der Knabenchor am Ende des Stückes erinnert an eine Art filmischen Abspann, wie er in alten Heimatfilmen nicht selten zu finden ist, ein sehnsuchtsvolles »fair-well«.
Those Were The Days wurde von zahlreichen Interpreten mit teilweise unterschiedlichem Text und in verschiedenen Sprachen dargeboten, von dem Sänger Bobby Vinton, den Schauspielern Carroll O’Connor & Jean Stapleton und dem französischen Orchesterleiter Raymond Lefèvre; die Sängerinnen Alexandra, Dalida, Sandie Shaw und Dolly Parton sangen es ebenso, wie die holländische Party-Formation Hermes House Band, um nur einige zu nennen. Für Freunde der russischen Sprache müssen Nikolai Erdenko, Nani Bregvadze, Edita Pieha und Theodore Bikel erwähnt werden. Auch Mary Hopkin begnügte sich nicht mit einer englisch gesungenen Version; als der große Triumph von Those Were The Days abzusehen war, nahm die Waliserin den Song auch in anderen Sprachen auf. Mary Roos, Paola, Sandie Shaw und Karel Gott probierten es auf Deutsch: »An jenem Tag mein Freund, da haben wir gemeint, die Zeit blieb stehn, allein nur für uns zwei ...«
2004 starb Gene Raskin im hohen Alter von 95 Jahren in New York, wo er auch geboren wurde. Gene verstand als Professor für Architektur offensichtlich nicht nur von der Gestaltung von Bauwerken etwas, er war auch als »Architekt« von Those Were The Days maßgeblich dafür verantwortlich, dass aus einer russischen Zigeunerromanze ein Welterfolg wurde.
Titel – Autoren – Interpreten
Those Were The Days
Musik: Traditional – 18./19. Jahrh. (evtl. Boris Fomin – zw. 1917 u. 1920)
Russischer Text: Traditional – 18./19. Jahrh. (evtl. Konstantin Podrevskii)
Englischer Text: Gene Raskin – 1962
Deutscher Text: (als »An jenem Tag«) Heinz Korn – 1968
Angeblich die erste Tonaufzeichnung in Russisch als »Dorogoj Dlinnoyu«: Alexander Wertinsky – 1926
Gypsy-Aufnahme in Russisch: Rada und Nikolai Volshaninov – 19??
Erster Tonträger in Englisch: The Limeliters – 1962; Label: RCA Victor
Mega-Hit-Version: Mary Hopkin – 1968; Label: Apple
Spätere Produktion mit Chart-Notierung: Hermes House Band – 2003; Label: Polydor

Guantanamera
Kuba 19. Jahrhundert
Ein kulturelles Ferment Kubas
Wörtlich übersetzt heißt »Guantanamera«: die aus Guantánamo Stammende. Guantánamo ist eine im Osten von Kuba gelegene Provinz. In den frühen Überlieferungen heißt der Song meist »Guajira Guantanamera«. Guajira hat zwei Bedeutungen: einerseits ist eine ländliche Lied-Tanzform gemeint, andererseits eine Bäuerin (auch Frau oder weibliche Form). »Guajira Guantanamera« heißt also einfach gesagt: die Bäuerin/die Tanzform aus (der Provinz) Guantánamo. Wann genau die Melodie zu Guantanamera entstanden ist, lässt sich nicht mehr einwandfrei ermitteln. Die kubanische Musikforscherin Maria Argelia Vizcaíno vermutet, dass das musikalische Thema bereits aus dem 19. Jahrhundert stammt. (Alejo Carpentier Valmont, ein kubanisch-französischer Schriftsteller, nimmt an, die spanischen Urwurzeln würden sogar bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen.) In Kuba wurde Guantanamera durch den in Havanna geborenen Musiker, Sänger und Entertainer Joseíto Fernández bekannt; mit bürgerlichem Namen hießt er Jose Fernández Díaz und lebte von 1908 bis 1979 auf Kuba. Joseíto Fernández wird sich später auch als Komponist der Melodie ausgeben, aber erst 1985 werden seinen Nachfahren das Urheberrecht und damit die Tantiemen von der SGAE (der spanischen Urheberrechtsgesellschaft) zugesprochen.






