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Angefangen hatte alles, als Fernández Anfang der 1930er-Jahre täglich den Schluss von Radiosendungen gestaltete. Im kubanischen Rundfunksender CMQ in Havanna, in der »Cronica Roja«, improvisierte Fernández, indem er zum bekannten Guantanamera-Thema im Décima-Stil (ein Muster von 10 Zeilen zu je 8 Silben, in der Aufteilung 4 + 4 + 2) Geschichten von kleinen Leuten dichtete. Fernández: »Meine Décimas enthalten nichts Erfundenes, Ausgedachtes. Darum sage ich auch immer, dass die ›Guajira Guantanamera‹ von Anfang an ein Protestlied gewesen ist. Sie war eigentlich immer Ausdruck von etwas Schmerzlichem. Ich habe Missstände, Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung, Armut, Bösartigkeit, den schlechten Charakter bekämpft.« Die Melodie von Guantanamera wurde so zur Improvisationsgrundlage für aktuelle politische Radiomeldungen. In den 1940ern wurde Joseíto Fernández immer bekannter und nahm auch Schallplatten auf. Was unser Lied betrifft, so nimmt Fernández das Stück 1940/41 mit seinem Orchester »Típica« mit eigenem Text auf und nennt es »Guardabarreras« und »Mitte biografia« (dt., meine Biografie).
Im Juni 1963 gibt der Folk-Sänger Pete Seeger in der New Yorker Carnegie-Hall ein Konzert und singt den Song Guantanamera mit spanischem Text. Begeisterung beim Publikum! Als Grundlage für seinen Text diente dem 1919 in New York geborenen Seeger ein Fragment aus den 1895 geschriebenen »Versos Sencillos« des Kubanischen Dichters José Martí: »Ich bin ein ehrlicher Mensch, und komme von dort, wo die Palmen wachsen, und ehe mich der Tod zum Schweigen bringt, möchte ich aus ganzer Seele meine Verse darbieten. Mein Vers ist von hellem Grün und von einem leuchtenden Rot, mein Vers ist ein verwundeter Hirsch, der im Gebirge Schutz sucht. Mit den Armen der Erde will ich mein Los teilen, und der Bach aus den Bergen gefällt mir mehr als das Meer.« Das Konterfei des in Kuba beliebten und hochverehrten Freiheitskämpfers Martí (1853–1895), der in Guantánamo, der ärmsten Provinz Kubas, gegen die spanischen Kolonialherren kämpfte und fiel, kann auf jedem kubanischen Peso-Schein bewundert werden.
Die kubanische Provinz Guantánamo hat durch das Gefangenenlager für Terrorverdächtige der USA seit 2002 leider aktuelle Bedeutung erlangt. Als Kuba 1903 selbständig wurde, mussten die Kubaner das 116 km² große Gebiet an der Bucht von Guantánamo an die USA abtreten, die hier eine Militärbasis errichteten.
Durch das Seeger-Konzert wurde das kubanische Volkslied in dieser Form zu einem Symbol des Widerstands, unter anderem ausgelöst durch die Kubakrise im Oktober 1962, zum politischen Protest-Song der Friedensbewegung während des Vietnamkrieges (1960–1975) und zugleich zum Solidaritäts-Lied mit dem kommunistischen Kuba.
Guantanamera avancierte innerhalb der nächsten Jahre international, hauptsächlich jedoch in der westlichen Welt, zum Hit. Speziell die Version der US-amerikanischen Folk-Gruppe The Sandpipers – James Brady, Michael Piano, Richard Shoft – wird Ende 1966 in vielen Ländern der Welt ein Chart- und Verkaufserfolg; in England und den USA wird sogar eine Top-Ten-Notierung erreicht. Namhafte Interpreten, von Joan Baez und Trini Lopez über Nana Mouskouri (in französischer Sprache – französischer Text von Jean-Michel Rivat) und Julio Iglesias bis hin zu Compay Segundo, dem Grandseigneur des Bueno Vista Social Clubs, hatten die Guantanamera in ihrem Repertoire. Ob in Kneipen und Restaurants oder bei Festen – wer auf Kuba Urlaub macht, der wird Guantanamera in allen nur möglichen Versionen zu hören bekommen, auch heute noch. Der Kampf um die Freiheit endet nie.
Doch wie kamen Melodie und Text in das Ohr von Pete Seeger, der (ungerechterweise?) jahrelang Tantiemen für das Lied kassierte? Beide, die Musikforscherin Argelia und der Interpret Fernández berichten, dass ein gewisser Hector Angúlo, ein Vertrauter von Fidel Castro, das Lied zusammen mit dem Text von José Martí von Kuba nach New York brachte. Argelia zufolge geschah dies 1963 (nach Fernández bereits zehn Jahre früher, was fragwürdig erscheint). Seeger selbst, der sich auch als Komponist der Melodie ausgab, behauptet, er habe 1963 zusammen mit Angúlo den Martí-Text adaptiert. Das erklärt auch, warum als Autorenangabe viele Jahr lang auf Tonträgern beim Titel Guantanamera zu lesen war: Musik: Pete Seeger und Hector Angúlo; Text: José Martí.
Glaubt man Maria Argelia Vizcaíno und Joseíto Fernández, dass es Angúlo war, der von Kuba nach New York kam, so bleibt die Frage, wie Seeger und Angúlo sich trafen? Eine Version berichtet, dass Angúlo nach einem Konzert von Pete Seeger zu diesem kam und ihm im Beisein von Joan Baez das kubanische Lied vorsang. Einer anderen Legende zufolge hörte Seeger, wie Angúlo das Lied Kindern in einem Sommerlager vorspielte. Wie auch immer, es spricht vieles dafür, dass Hector Angúlo es gewesen ist, der das Stück in die Staaten brachte und die »Guajira« aus dem Titel strich.
Doch war Angúlo auch derjenige, der als erster den Martí-Text verwendete? Laut Argelia war Hector Angúlo nur Überbringer einer fertigen Idee: der kubanische Musiker Julián Orbón, ein Lehrer von Angúlo, soll bereits 1958 als Erster den Text von José Martí zur bekannten Guantanamera-Melodie adaptiert haben. Und schon 1961 soll der kubanische Gitarrist Léo Brouwer (der eigentlich kein Sänger ist) die »Guajira Guantanamera« in dieser Version, also mit dem Text von José Martí, gesungen und so bekannt gemacht haben. Könnte das den Umstand erklären, warum einige aus dem Publikum im Juni des Jahres 1963 in der New Yorker Carnegie-Hall mitsangen, als Pete Seeger das zu diesem Zeitpunkt wohl doch nicht ganz unbekannte kubanische Lied vortrug? Wenige Fakten, viel Irritationen!
Egal, ob wir nun Maria Argelia Vizcaíno in ihrer Argumentation folgen, Joseito Fernández oder Pete Seeger. Fakt ist, dass es ein Verdienst von Pete Seeger ist, den Song Guantanamera weit über die Grenzen Kubas hinaus bekanntgemacht zu haben.
Titel – Autoren – Interpreten
Guantanamera
Original-Musik: Traditional – 19. Jahrhundert
Spanischer Text: (ab Ende der 1950er-Jahre obligatorisch) José Martí – 1895
Bearbeitungen von Musik und Text: Jose Fernández Díaz – 1927–41
Zusammenführung von Melodie und Martí-Text: Julián Orbón – 1958
Früheste Tonträger-Aufnahme mit eigenem spanischem Texten: Joseito Fernández – 1940/41; Label: RCA Victor
Legendäre Live-Einspielung mit Text von José Martí: Pete Seeger – 1963; Label: CBS
Erste internationale Hit-Version: The Sandpipers – 1966; Label: London (DE), A&M (US, ES), Pye (UK)
Zweite internationale Hit-Fassung in Europa: Wyclef Jean – 1997; Label: Columbia

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Österreich 1818
Das unvergängliche Weihnachtslied
von Renate Friedrich
Wir schreiben das Jahr 1818. Obwohl die Napoleonischen Kriege endlich vorbei sind und auf dem Wiener Kongress die Ländergrenzen Europas neu geordnet wurden, sehen die Menschen schweren und unsicheren Zeiten entgegen. Es ist eisiger Winter, und in einem kleinen Dorf in der Nähe von Salzburg macht sich der Koadjutor (Hilfspriester) Joseph Mohr Gedanken, wie er seiner kleinen christlichen Gemeinde zum bevorstehenden Heiligen Abend eine musikalische Darbietung präsentieren kann. Die Orgel der neu eingerichteten Pfarrkirche St. Nicola in Oberndorf ist nämlich in einem dermaßen schlechten Zustand, dass sie nicht mehr bespielt werden kann. Da kommt Mohr eine Idee: Er erinnert sich, dass er vor langer Zeit einmal zu einem lateinischen Text ein deutsches Weihnachtsgedicht geschrieben hat. Er sucht und findet es. Später überreicht er es seinem Freund Franz Gruber, der den Organistendienst vertritt, und bittet ihn, eine passende Melodie hierfür zu komponieren. Gruber willigt ein. Im Schulhaus von Arnsdorf, einem Nachbarort von Oberndorf, kreiert der Musiklehrer eine Melodie in D-Dur zu einem 6/8-Takt für zwei Solostimmen und Chor mit Gitarrenbegleitung. Joseph Mohr gefällt die Komposition und er bereitet eine Aufführung vor. Als der Heilige Abend am 24. Dezember gegen Mitternacht in der St. Nikolaus Kirche als Christmette zelebriert wird, lauscht die Oberndorfer Bevölkerung, überwiegend arme Schiffbauer und Schiffer mit ihren Familien, andächtig dem gerade neu geschaffenen Weihnachtslied. Die Vortragenden sind die Urheber samt einem kleinen Chor: Komponist Gruber singt die Bass-Stimme und Textdichter Mohr, der sich auf einer Gitarre begleitet, den Tenor. Die besinnliche Komposition findet »allgemeinen Beifall« (Gruber), doch sicher waren sich damals weder Zuhörer noch Interpreten über die Tragweite dieser Welturaufführung im Klaren: Stille Nacht! Heilige Nacht! würde einmal zum bekanntesten und beliebtesten Weihnachtslied der Welt aufsteigen.
Ob sich die Begebenheiten exakt so abgespielt haben, weiß heute niemand ganz genau. Doch einige Fakten und Indizien, wie der Bericht des Volksliedforschers Franz Magnus Böhme sowie Grubers schriftliche »Authentische Veranlassung« von 1854, lassen auf eine hohe Wahrscheinlichkeit der Ereignisse in der geschilderten Weise schließen.
Den Text für das Werk hatte Joseph Mohr bereits zwei Jahre zuvor geschrieben. Als Sohn eines desertierten Musketiers und einer Stickerin wurde er 1792 als Josephus Franciscus in Salzburg zur Welt gebracht. Joseph hatte das Glück, dass seine vielfältigen Begabungen gefördert wurden. Er besuchte ein akademisches Gymnasium und war gleichzeitig als Sänger und Violinist bei den Chören der Universität und des Benediktinerstifts St. Peter tätig, später studierte er Philosophie. 1811 trat er in ein Priesterseminar ein. Die erste Dienststelle von Mohr als Koadjutor war die Mariapfarrei im Lungau, wo er wahrscheinlich auch 1816 den Text zu Stille Nacht schrieb. Vom Lungau kehrte er aus gesundheitlichen Gründen 1817 nach Salzburg zurück. Noch im gleichen Jahr trat er seinen Dienst in Oberndorf an.
Franz Xaver Gruber, der die Komposition zum Text lieferte, wurde 1787 als fünftes von sechs Kindern in Hochburg-Ach, Oberösterreich, geboren. Seine Eltern waren Weber und Franz wird auch bis zu seinem 18. Lebensjahr als Weber tätig sein. Seine früh entflammte Leidenschaft zur Musik kann dies nicht trüben und seine Begabung wurde durch Musikunterricht gefördert. 1806 besteht er die Prüfungen zum Volksschullehrer. Im Folgejahr nimmt er eine Stelle als Lehrer, Messner und Organist in Arnsdorf an. Zusätzlich ist Gruber ab 1816 als Organist in der Pfarrei Oberndorf tätig, wo er ein Jahr später Joseph Mohr kennenlernt.
Anfangs wurde Stille Nacht! Heilige Nacht! allein im Umfeld der beiden Erschaffer aufgeführt. Doch dieser musikalische Schatz trat seinen Weg an, die Welt zu erobern. Karl Mauracher, der aus dem Zillertal nach Oberndorf kam, um die Orgel zu überholen, war derart begeistert von Stille Nacht, dass er eine Kopie des Liedes mit in seine Heimat nahm. So erreichte Stille Nacht bereits ein Jahr nach seiner Uraufführung das Tiroler Zillertal. Für seine Verbreitung sorgten auch die als Warenhändler durch die Lande reisenden Familien Rainer und Strasser, die das Lied in ihr Repertoire aufnahmen und es 1832 in Leipzig vortrugen. Der Sohn des Volksliedsammlers Ludwig Erk veröffentlichte die Weise 1893 in »Schorers Familienblatt« Nr. 51. »Damit«, so Ingeborg Weber-Kellermann in »Das Buch der Weihnachtslieder«, »erreichte der Titel einen bürgerlichen, gebildeten Leserkreis: kirchlich und überregional zugleich. Nun ging er ein in den Schatz bürgerlich weihnachtlichen Liedgutes und eroberte sich eine unangefochtene Spitzenstellung. In Berlin legten die Leierkastenspieler in den Weihnachtswochen die Walzen von Stille Nacht und ›O Du Fröhliche‹ auf.« Sogar bei einer Audienz, bei der Kaiser Franz I. und Zar Alexander I. zugegen waren, trug Familie Rainer Stille Nacht in diesen Jahren vor. Familie Rainer war es auch, die das Lied nach Amerika brachten, wo sie es, erstmalig in den USA, 1839 in New York vor der Trinity Church sangen. Evangelische und katholische Missionare brachten es zur Jahrhundertwende in alle Kontinente und sorgten damit für den weltweiten Triumphzug.
Die Gruber-Komposition gehört wohl zu den berühmtesten Melodien auf unserem Globus. Die Tatsache, dass das Lied inzwischen in nahezu allen gängigen Sprachen zu Hause ist, dürfte rekordverdächtig sein: Bis heute gibt es über 300 Übersetzungen in – man lese und staune – über 120 verschiedenen Sprachen! Die bekannteste englische Übersetzung schuf der US-amerikanische Reverend John Freeman Young (1820–1885), ein Priester der Trinity Church in New York.
Die früheste Tonträgeraufnahme stammt von dem Bariton-Opernsänger Hans Hoffman aus dem Jahre 1902. Damals gab es noch keine Schallplatten, sondern zylinderförmige Walzen, die auf dem von dem US-amerikanischen Erfinder Thomas Alva Edison entwickelten Phonographen abgespielt wurden. Als Label-Information für Hoffmans Stille Nacht-Aufnahme könnte man angeben: Edison National Phonograph Company, Zylindernummer 12388. Die Aufzeichnung vom Haydn Quartett drei Jahre später sollte die erste Version des Songs auf Englisch sein.
Stille Nacht! Heilige Nacht! besteht im Original aus insgesamt sechs Strophen. Die bekannteste (und auch meist gesungene) Form unterscheidet sich darin, dass nur die erste und zweite sowie die sechste (als dritte) Strophe gesungen werden. Die Textstelle der sechsten Strophe »Tönt es laut bei Ferne und Nah« wurde in eine modernere Form gebracht: »Tönt es laut von Fern und Nah«. Seit 2006 werden bei der alljährlichen Gedenkmesse vor der Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf bei Salzburg wieder alle sechs Strophen des Liedes aufgeführt.
Was ist das Erfolgsgeheimnis von Stille Nacht? Ohne Zweifel verbreitet sich allein schon bei Erklingen der Melodie ein gewisser Zauber, vom dem man leicht gefangen wird. Dadurch wird eine Stimmung erzeugt, in welcher sich die textliche Grundaussage, der Ruf nach paradiesischer Einheit, nach Liebe und Barmherzigkeit, besonders gut entfalten kann. Für viele mag noch eine verklärte Kindheitserinnerung hinzu kommen. Das alles macht den Gruber-Mohr-Titel zu einem echten Kultlied.
Die meisten auf Platten veröffentlichten Cover-Versionen sind in Englisch gesungen – von Silent Night! Holy Night! dürfte es mehrere hundert Aufnahmen geben. Bekannte und hörenswerte Versionen großer Künstler sind ab den 1920er-Jahren aus allen Jahrzehnten bekannt: z. B. vom Woodlawn Quartette aus den 20ern; aus den 30ern die von Bing Crosby; von Frank Sinatra, der viel zur Verbreitung in den USA beigetragen hat, aus den 40ern; in den 50ern waren es Mario Lanza und Elvis Presley; ein Jahrzehnt später können wir Florence Ballard von den Supremes, Nat King Cole, Dean Martin, die unvergleichliche Gospelsängerin Mahalia Jackson oder Countrystar Johnny Cash hören; in den 70ern haben wir die Wahl zwischen den Temptations und den Edwin Hawkins Singers; Emmylou Harris und Stevie Nicks von Fleetwood Mac waren es in den 80ern; in den 90ern sind es neben den Drei Tenören (Plácido Domingo, Luciano Pavarotti und José Carreras), Sinead O’Connor, Enya mit einer Irischen Version sowie Carlene David mit einer Reggae-Fassung und im neuen Jahrtausend beeindrucken Allison Crowe, Aly & AJ sowie Nils Landgren.
Joseph Mohr wurde nur 56 Jahre alt, im Jahre 1848 erlag er einer Lungenlähmung in Wagrain, wo er von 1837 an als Vikar tätig war; Franz Gruber, der neben Stille Nacht noch knapp zweihundert andere Werke komponierte, starb 76-jährig an Altersschwäche. Ob die beiden wohl geahnt hatten, welch bedeutungsvolles Vermächtnis sie uns hinterlassen haben? Auch heute, 180 Jahre nach Uraufführung der weihnachtlichen Weise, ist seine Beliebtheit ungebrochen. Bernhard Vogel, von der Frank Sinatra-Internet-Website »The-Main-Event« bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: »Kein Lied ist weltweit so sehr ›in aller Munde‹ (im wörtlichen Sinne) wie Stille Nacht.«
Titel – Autoren – Interpreten
Stille Nacht! Heilige Nacht!
Original-Musik: Franz Gruber – 1818
Deutscher Original-Text: Joseph Mohr – 1816
Englischer Text: John Freeman Young – 1859
Älteste Tonträgerproduktion in Deutsch: Hans Hoffman – 1902; Label: Edison National Phonograph Company
Feierliche deutsche Chor-Darbietung: Wiener Sängerknaben – 1959; Label: Austroton
Hit-Version in den USA: (als »Silent Night, Holy Night«) Bing Crosby – 1952; Label: Decca (US)/Brunswick (DE)
Unkitschige Fassung in Englisch: Aly & AJ – 2006; Label: Hollywood
Schlichte Neuaufnahme: Die Sternensinger St. Nikolaus – 2007; Label: Suite

Ode »An Die Freude«
Deutschland 1824
Sternstunde der Menschheit
von Misha G. Schoeneberg
Es ist dieses eine Bild für die Götter: Umarmt umarmend stehen die jungen Burschen da, geben sich mit einem heiligen Kuss den Treueid ewiger Freundschaft. Als wären sie schon da, im Elysium, in jenen viel besungenen Gärten Edens, manchmal schlicht das Paradies genannt – dort, wo einst die Helden in den himmlischen Gefilden von cherubimen Engeln verwöhnt werden ...
Kraatsch! Alles Quatsch! Mit einem unerhörten Dissonanzschlag des gesamten Orchesters – nur die Streicher ruhen – bricht Beethoven die Realität, als würde er all dies hehre Pathos Schillers, welches jener euphorisch in seiner Ode An die Freude beschworen hatte, wegfegen wollen – bis er dann peu à peu das Lied wieder aufbaut, es ja letztendlich in einem frenetischen Jubel zum tosenden Finale führt. Was war los?
Als Friedrich Schiller die Ode im Jahr 1785 fertig schrieb, muss ihm sein eigenes Leben wie eine der himmlischen Fügungen, die er zu gern in seinen Gedichten besang, vorgekommen sein: Geboren 1759 in Marbach, die arme Kindheit in Ludwigsburg als Sohn eines Berufssoldaten, sieben lange Jahre auf der militärischen Drill-Lateinschule, das kurze Medizinstudium, die Ernennung im Alter von 20 Jahren zum Regimentsarzt in Stuttgart. Für die meisten Jungs, nicht nur zu seiner Zeit, hätte sich doch da der Traum schon erfüllt. Doch nicht für Schiller. Sein Stürmen und Drängen ging weiter: Die frühe Anerkennung seiner wahren Leidenschaft, des Schreibens (sein während des Studiums angefangenes Theaterstück „Die Räuber“ wurde 1782 in Mannheim uraufgeführt), dann das heimliche Verlassen seines Regiments und der folgende Arrest sowie das Schreibverbot durch seinen Arbeitgeber, den württembergischen Herzog Carl Eugen. Schillers Werdegang war wie der Prototyp späterer Künstlerlebensläufe: Er schmiss die bürgerliche Arzt-Karriere und entschied sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit seinem Freund, Andreas Streicher, zur Flucht nach Mannheim. Dort erhielt er tatsächlich einen Vertrag für ein Jahr am Theater. Ein Rückschlag war das durchgefallene Stück „Fiesko“, doch schnell stellte sich der ersehnte Erfolg ein: „Kabale und Liebe“ wurde 1784 schon nach dem 2. Akt bejubelt. Was für ein Leben! Dabei, die Sorgen waren groß. Und wurden größer. Das Ende des Arbeitsvertrags, kein Geld, Krankheit, Schulden, mal eine Unterstützung durch eine Dichterfreundin, doch immer auf der Flucht vor seinen Gläubigern. So kam Schiller in Leipzig an.
In Christian G. Körner fand Schiller einen Freund und Mäzen, der ihm Zuflucht bot; für Schiller hieß das erst einmal, seiner persönlichen Not entkommen zu sein, bedeutete doch auch die Bestätigung seines Könnens. Eine ungeheure Euphorie, die er auf die ganze Menschheit zu übertragen suchte, erfasste ihn. Sie war eingebettet in die politische Hoffnung, welche die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776, die der Frieden von Paris 1783 völkerrechtlich legitimierte, auslöste. Und in Körners Haus, das lange schon ein Mittelpunkt republikanischer Netzwerke war, schrieb Schiller die weltberühmten Zeilen:
Freude, schöner Gotterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
In einer ersten Fassung hieß es Freiheit bei Schiller. Aus Furcht vor der Zensur, wie aber auch aufgrund der Erkenntnis, dass Freude durchaus eine Erweiterung der Freiheit darstellt, wurde der Text zur Ode An die Freude. Die Ode ist der I-Punkt auf der Sturm-und-Drang-Zeit, die ihrem Wesen nach nicht nur eine Jugend-, sondern auch eine Protestbewegung im Europa der Aufklärung am Vorabend der Französischen Revolution 1789 war. Der Sturm und Drang richtete sich gegen die absolutistischen Obrigkeiten in den deutschen Staaten, gegen die höfische Welt des Adels, gegen das bürgerliche Berufsleben ebenso wie gegen die bürgerlichen Moralvorstellungen sowie gegen die überkommene Tradition in Kunst und Literatur.
Im Gegensatz zur vernunftbetonten Aufklärung verklärte der Sturm und Drang das Genie, in welchem sich die schöpferischen Kräfte der Natur, das Ursprüngliche, das Elementare, ja Göttliche äußerten. Als dieser Genius galt die ungebrochene, kraftvolle Seele, die im Denken und Handeln eine Einheit bildet, die sich selbst treu bleibt und sich nicht scheut, gegen eine ganze Welt anzutreten. Dabei waren Sex und Rausch, hier vornehmlich die Droge Alkohol, nicht erst Elixiere des Jazz und Rock’n’Roll; in den Männerbünden und Burschenschaften, zu denen man sich zusammenschloss, lebte man die Daseins-Freuden exaltisch aus: „Lasst den Schaum zum Himmel spritzen!“
Doch die Vorstellung der Bürger über die Realität der Kunst und ihre Künstler sah sehr viel anders aus. So ist es fast kein Wunder, dass eines schönen Sommertags in Wien, kurz nach der Aufführung vom 7. Mai 1824 der mit phänomenaler Begeisterung angenommenen 9. Sinfonie, ein Mann namens Beethoven verhaftet wurde, nur weil er behauptete, er wäre Beethoven. Er war längst schon taub, die Krankheit hatte ihn misstrauisch gemacht, von misanthropischer Art gegen die Bürger seiner Welt war er ohnehin. Doch dieses Beharren darauf, Beethoven zu sein, das hatte die braven Bürger vollends gegen diesen wuschigen, alten Mann, der so traurig in ihre Vorgärten stierte, aufgebracht, sie ließen nach dem Schutzmann rufen. Beethoven wurde unter lautem Gejohle abgeführt, musste eine Nacht im Arrest verbringen, bis anderntags sein Verleger seine Identität bestätigte.
Beethoven stammt aus einer Musikerfamilie, 1770 in Bonn geboren war er elf Jahre jünger als Schiller; sie sind sich nie persönlich begegnet, ebenso wenig gab es eine direkte Korrespondenz. Jedoch bestand zwischen ihnen beiden eine enge Beziehung, nicht nur geistig. Andreas Streicher, Schillers alter Freund aus Stuttgart, den er in Mannheim zurückließ, wurde Beethovens enger Vertrauter. Schon während seiner Studentenzeit 1789 in Bonn hatte sich Beethoven für die seinerzeit revolutionären Ideen begeistert: „Wohl tun wo man kann“, schrieb er, „Freiheit über alles lieben; Wahrheit nie, auch sogar am Throne nicht verschweigen.“ Wie Schiller war er überzeugt, dass die Kunst eine wichtige Rolle in der Aufklärung und Anleitung sowie Veredelung der Menschheit einnehmen müsse. Doch im Gegensatz zu Schiller war Beethoven früh das wütende Genie, das selten an seiner schöpferischen Kraft zweifelte. Man möchte Schiller nicht widersprechen, dass er rückblickend seine Ode künstlerisch als nicht auf den Punkt gebracht ansah. Ohne Beethovens rigide wie gnädige Bearbeitung wäre wohl Schillers Text nur Germanisten und einer handvoll Gymnasiasten bekannt. Vom Entschluss bis zur Tat dauerte es jedoch bei Beethoven im Fall der Ode 30 Jahre, jedes Detail musste er erst vor seinem inneren Auge sehen.
Beethoven eröffnet den 4. Satz der 9. Sinfonie mit dem erwähnten wütenden Dissonanzschlag, er ist die Fanfare für das erste Erklingen einer menschlichen Stimme in einer Sinfonie. Gleichzeitig markiert die Dissonanz eine exakte Zäsur, nicht nur für die Musikgeschichte, sie ist der Scheitelpunkt der erschütternden Diskrepanz zwischen der Möglichkeit des menschlichen Daseins und der Wirklichkeit seiner, des Menschen, tatsächlichen Lebensbedingungen; „unseren verzweifelungsvollen Zustand“, wie es Beethoven selbst zwischen die Noten kritzelte; das ewige Dilemma der Menschheit: Hier sind die realen Verhältnisse, dort ist das Ziel.
„O Freunde, nicht diese Töne“, mit diesen Worten wird der Weg zum Hauptthema des Satzes, dem Freude-Thema, vorbereitet. Es ist bis heute atemberaubend – kniet nieder Millionen! –, lediglich eine Musik erfassende Beschreibung der Vorgehensweise und Kompositionstechnik Beethovens nachzulesen. Die Offenlegung des Vierten Satzes Takt für Takt zeigt, dass Beethoven jeden Ton, jeden Einsatz eines Instruments, jede gesetzte Note vollkommen durchdacht, musikalisch durchlebt und gestaltet, ja auf gewisse Weise durchschaut hat. Eine anscheinend eingefangene, simple Melodie der Freude im volkstümlichen D-Dur – diese Einfachheit, die sich der Mensch, hier der Bass-Gesang, gegen das eigentliche d-Moll der Sinfonie eingangs immer wieder erobern muss –, wird zum hymnischen Schlusschor, ‚diesen Kuss der ganzen Welt!‘, zur ungeheuer kraftvollen Vision eines großen menschlichen Finales.






