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Die Reduzierung dieses symphonischen Meisterwerkes auf seine reine Melodie in Miguel Rios’ Song of Joy 1970, war nichts, weder Klassik noch Rock’n’Roll, es war purer Kitsch und damit das Böse schlechthin. Mit einem erbärmlichen Gesang in der englischen Fassung bleibt das einzig Geniale an diesem Streich das freche Verkaufstalent von Rios Onkel Waldo, einem argentinischen Produzenten. Sieben Millionen verkaufte Schallplatten! In vielen Ländern ein Top-Hit. Eine hübsche Ironie liegt in der Tatsache, dass die langen Wochen vom 18. September 1970 bis zum 29. Januar 1971, in denen diese Scheibe an der Spitze der deutschen Verkaufshitparaden lag, einmal unterbrochen wurden: Für 14 Tage im Dezember hieß die Nummer 1 Paranoid, das war die Antizipation des Punkrock durch einen gewissen Ozzy Osbourne. Beethoven hätte seine böse Freude über diese wütende Kraft gehabt.
Als ein Beispiel für die schier unzählbar vielfältige wie kontroverse Rezeption Beethovens Neunter der letzten 200 Jahre steht das Buch A Clockwork Orange (A. Burgess 1962) wie auch der gleichnamige Film von Stanley Kubrick (1971); der Lieblingskomponist der tragenden Figur, ein Bösewicht, ist Beethoven, doch wendet sich das gegen ihn, die Freude an dem Chor wird ihm zur Falle, wie ihn später gar, durch eine kleine therapeutische Panne, Beethoven zum Erbrechen bringt. Unschwer war darin eine Allegorie auf die Vorliebe Adolf Hitlers zu Beethovens Neunter – übrigens das einzige Stück Musik, das in Bayreuth aufgeführt werden darf, ohne von Wagner zu sein – zu lesen.
So Vieles spricht – trotz aller Widersprüche oder gerade ihrer wegen – für die Wahl des Schlusschores der Neunten als Europa-Hymne, doch dass die Vertonung einem Karajan angetragen wurde, kommt einer Kastration des Genialen gleich, nun ja, Staatsräson. Man möchte mit Beethoven traurig in die geordneten Vorgärten der Anderen schauen, doch hoffen, dass einen die braven Bürger nicht verhaften. Das Leben ist doch nicht gemähter Rasen, Freunde, sondern Jubel! Jubel, Freunde, Rausch und Ekstase! Geboren aus der urknallartigen Dissonanz, um eine hübsche Melodie arrangierte Sonnenläufe! Als entspräche jede Note einem Himmelskörper, der seinen ganz bestimmten Platz einnimmt. So hatte Beethoven den vierten Satz geschaffen: das durchschaute kosmische Chaos! Es ist Jubel, Freunde, vollkommene Euphorie, eine Sternstunde der Menschheit!
Titel – Autoren – Interpreten
Ode » An die Freude«
Original-Musik: Ludwig van Beethoven – 1824
Deutscher Original-Text: Friedrich Schiller – 1785
Bearbeitung des Textes: Ludwig van Beethoven – 1824
Spanischer Text: (als »Himno a la alegria«) Amado Regueiro Rodriguez – 1969
Englischer Text: (als »A Song Of Joy«) Clarke Ross Parker – 1969
Frühe Tonträgeraufnahme auf Schellackplatten: Orchester der Berliner Staatsoper, dirigiert von Oscar Fried, mit dem Bruno-Kittel-Chor – 1929; Label: Polydor/Brunswick
Hit-Version als »A Song of Joy«: Miguel Rios – 1969/70; Label: Polydor
Legendäre Einspielung aus Ost-Berlin als »Ode an die Freiheit«: Chor und Orchester mit internationalen Musikern, dirigiert von Leonard Bernstein – Weihnachten 1989; Label: Deutsche Grammophon
Neue, moderne Live-Fassung: Xavier Naidoo – 2005; Label: Naidoo Rec (SPV)
Annehmbare Chor-Version als »Freude schöner Götterfunken«: Gotthilf Fischer mit Chor – 2007; Label: Zyx

Amazing Grace
England/USA 1835
Der Protestantische Choral
Als Martin Luther im Jahre 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg heftete, ahnte wohl kaum jemand, welch große Unruhen und Umwälzungen diese Protestzeilen im Laufe der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte nach sich ziehen sollten. Statt zu einer spirituellen Erneuerung der dogmatischen Kirchenlehre (wie von Luther wohl gewollt), kam es zu einer Spaltung. Auf der einen Seite gab es die papsttreuen Katholiken, auf der anderen die Anhänger der Protestanten, die neben Luther mit Johannes Calvin und anderen weitere einflussreiche Reformatoren in ihren Reihen hatten. Ihr Protest richtete sich hauptsächlich gegen die Autorität des Papstes in Rom. Nicht seine Dogmen sollten im Zentrum des Glaubens stehen, sondern die für jedermann lesbare Bibel. Die protestantische Reformation entwickelte sich zu einer politisch-religiösen Bewegung auf dem westeuropäischen Festland, die außer Glaubensangelegenheiten auch andere Bereiche des Lebens infrage stellte.
Dieser Erneuerungsprozess ging auch an den Menschen auf der englischen Insel nicht spurlos vorbei. Deutlich wurde sein Einfluss, als der dortige König, Heinrich VIII., sich 1534 vom römischen Papst lossagte, um sich selbst zum Oberhaupt der Anglikanischen Kirche zu machen. Der Geist der Reformation hatte die britischen Inseln erfasst und sollte in den nächsten Jahrhunderten zu weiteren Offenbarungen führen, wie z. B. durch William Wilberforce (1759–1833), einem jungen Parlamentarier des britischen Unterhauses, mit seinem Kampf gegen den Sklavenhandel.
Gut 200 Jahre nach Luthers folgenreicher Auflehnung wurde 1725 in London ein Junge namens John Newton geboren. Als Sohn eines Kapitäns, der oft lange unterwegs war, wuchs der kleine John in der Obhut seiner Mutter auf, die ihn nach christlichen Werten erzog. Schon früh zeigte sich Newtons Begabung für Sprache und Literatur. Obwohl zartbesaitet und für die Seefahrt wenig geeignet, fuhr Newton nach Beendigung seiner Schulzeit mit seinem Vater zur See, später ohne ihn. Durch die dort herrschenden rauen Sitten fiel er bald, im wahrsten Sinne des Wortes, »vom Glauben ab«. Während einer Fahrt nach Sierra Leone erkrankte John 1745 an Malaria und landete für mehrere Wochen auf Plantain Island, wo er nicht als Patient, sondern »wie ein Sklave« behandelt wurde. Drei Jahre später, als sein Handels-Schiff, die »Greyhound«, durch einen heftigen Sturm in Seenot geriet und er im Angesicht des Todes ein Gefühl des Grauens erlebte, erinnerte er sich an Texte der Bibel, und dass Hilfe »von oben« eventuell möglich sei. »Es war Gnade, die mein Herz die Furcht lehrte«, sagte er später. In dieser Situation manifestierte sich bei Newton die Grundhaltung, die nötig ist, um einen Text wie Amazing Grace schreiben zu können. Das Erweckungserlebnis hielt ihn anfangs jedoch nicht davon ab, sich Monate später auch am Sklavenhandel zu beteiligen. »Wie konnte er dies mit seinem Glauben zusammenbringen?«, fragt Steve Turner in seinem Buch »Amazing Grace«, in dem er der Entstehungsgeschichte des gleichnamigen Liedes nachgeht, und lässt Newton selbst rückblickend (1790) die Antwort geben: »Ich fand die Sache nicht in Ordnung, hatte aber keine Bedenken, dass sie nicht rechtmäßig sei.« Es herrschte damals einfach noch der Glaube an eine gottgewollte Ungleichheit. Nachdem Newton 1753 seine knapp 20-jährige Seefahrt krankheitsbedingt aufgab, erfüllte sich elf Jahre später sein größter Wunsch: Er wurde zum Pfarrer ordiniert und arbeitete fortan als Prediger einer Gemeinde. In dieser Eigenschaft begann Newton, der kein Musiker war, regelmäßig religiöse Liedtexte zu schreiben, die von Emotionen und Aufrichtigkeit durchdrungen waren.
Inspiriert von der Bibel verfasste Newton den Text Amazing Grace in der zweiten Dezemberhälfte 1772 in Olney, einem Ort zwischen Birmingham und London, und veröffentlichte ihn sieben Jahre später in den »Olney-Hymnen«. »Amazing grace! – how sweet the sound, that saved a wretch like me! I once was lost, but now I am found, was blind, but now I see.« – »Erstaunenswerte Gnade – welch süßer Klang, die einen Elenden wie mich errettete! Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden, war blind, aber nun sehe ich.« So etwas konnte nur jemand schreiben, der wie Newton, vom Glauben abgekommen, leidvolle Erfahrungen macht und schließlich wieder reumütig zu Gott heimkehrt.
John Newton, der William Wilberforce bei seinen Bemühungen, die Sklaverei abzuschaffen, über viele Jahre unterstützt und beraten hatte, starb im Dezember 1807 in London. So konnte er noch miterleben, wie das Gesetz zur Abschaffung des Sklavenhandels im März des gleichen Jahres rechtsgültig wurde.
Was die Melodie betrifft, so schreibt Turner: »Mit Sicherheit gab es keine musikalische Begleitung, als Amazing Grace zum ersten Mal in der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Wenn das Lied gesungen wurde, dann vermutlich zu einer Melodie, die bereits bei den metrischen Psalmen in Gebrauch war.« Der oder die Urheber der heute bekannten Melodie von Amazing Grace sind unbekannt. Manche vermuten, dass es ein schottisches Volkslied war, das Auswanderer mit nach Nord-Amerika brachten. Andere glauben, so Turner, »es könne sich auch um eine amerikanische Melodie mit starken schottischen Anlehnungen handeln«.
Die früheste bekannte Quelle kommt aus Kentucky (USA) und geht auf zwei Melodien ohne Text zurück: »Gallaher« und »St. Mary’s« wurden im Winter 1829/30 von Dr. Charles Spilman zusammen mit seinem Partner Benjamin Shaw in einer Songbuchsammlung unter dem Titel »Columbian Harmony« veröffentlicht.
Die nächste Publikation, die Shape-Note-Sammlung »Virginia Harmony«, von dem methodistischen Laienprediger James Carrel und dem presbyterianischen Ältesten David Clayton zusammengestellt, erschien 1831 in Virginia (USA). Aus den zwei Melodien »Gallaher« und »St. Mary’s«, war nun ein Lied mit Text geworden: »Harmony Grove«, allerdings nicht mit den Worten von Amazing Grace, sondern mit anderer Dichtung.
Zur Vereinigung von der Melodie wie wir sie heute kennen und der Lyrik Newtons kam es erst durch den Gesangslehrer William Walker aus South Carolina (USA). Zusammen mit seinem Partner Benjamin White bearbeitete Walker die »Harmony Grove«-Melodie so, dass sie optimal zum Newton-Text passte, nannte sie »New Britain« und veröffentlichte den Titel 1835 in dem Liederbuch »The Southern Harmony«.
Die Popularität von Amazing Grace beschränkte sich zunächst auf die USA. Verfechtern von Freiheit und Menschenrechten diente der Choral ebenso als Hymne, wie den Cherokee-Indianern bei ihrer Vertreibung aus ihrer Heimat und den Soldaten im Sezessionskrieg auf beiden Seiten. Die Schwarzen waren es, die aus dem weißen Kirchenlied einen ergreifenden Gospel-Song machten. Eine erste Plattenproduktion, noch unter dem Titel »New Britain«, stammt aus dem Jahre 1922, The Original Sacred Harp Choir nahmen die Hymne in New York City auf. Drei Jahre später folgte das Duo The Wisdom Sisters mit einer unbegleiteten Einspielung aus New Orleans, nun erstmalig als Amazing Grace. Erste Gospel-Aufnahmen erschienen 1926 von Reverend H. R. Tomlin und Reverend J. M. Gates sowie von Mahalia Jackson 1947 und 1954. Durch Maceo Woods’ instrumentale Orgelversion von 1955 (Label: Volt) wurde es üblich, das Stück bei Trauerfeiern und Bestattungen zu spielen.
In den 1960er-Jahren erhöhte sich der Bekanntheitsgrad der Komposition. Auch außerhalb der USA erschlossen sich für Amazing Grace neue Hörerkreise. Dafür sorgten Interpreten wie die Folk-Gruppe The Weavers, der Folk-Sänger Clarence Ashley auf dem Newport Folk Festival 1964 und der schwarze R’n’B Sänger Sam Cooke. Ebenso Live-Präsentationen von Blues-Ikone Janis Joplin in San Francisco und Folk-Sänger Arlo Guthrie auf dem legendären Woodstock Festival erhöhten die Popularität. Ein Chor im Film »Alice’s Restaurant« von Arthur Penn sowie instrumentale Dudelsack-Interpretationen taten ihr Übriges. Als auf dem Isle of Wight Festival von 1969 der DJ Jeff Dexter eine Instrumental-Aufnahme der Hymne vor 200.000 Menschen abspielte, hatte Amazing Grace den Weg zurück in seine britische Heimat gefunden.
Die US-amerikanische Folk-Sängerin Judy Collins war es schließlich, die aus einem Kirchenlied einen Welthit machte. Ihre A-capella-Version, die sie 1970 in der St. Paul’s Chapel, auf dem Gelände der Columbia University in New York für ihre LP »Whales And Nightingales« aufnahm und zu Beginn des nächsten Jahres als Single veröffentlichte, eroberte die vorderen Plätze der Hitparaden in vielen Ländern. Auch die Royal Scots Dragoon Guards schafften 1972 mit ihrer instrumentalen Dudelsack-Version den Einstieg in die Charts.
Nach der Collins-Aufzeichnung wurde die Künstlerliste derer, die den Song auf Tonträger aufnahmen oder bei Konzerten präsentierten, immer länger. Sie reicht von Rod Stewart und Aretha Franklin über Joan Baez, Ray Charles und Johnny Cash bis hin zu Natalie Cole und den Wiener Sängerknaben. Neben anderen Sprachen gab es auch deutsche Fassungen, z. B. von Lena Valaitis, Siegfried Fietz, Vicky Leandros und Karel Gott.
Die lange Entstehungsgeschichte von Amazing Grace war immer auch mit dem Thema der Sklaverei verbunden. So verwundert es nicht, dass der Regisseur Michael Apted 2006 einen Film mit dem Titel »Amazing Grace« drehte, der William Wilberforce’ Kampf gegen die Sklaverei erzählt. Dazu noch einmal Steve Turner: »Die ersten Sklaven, die Amazing Grace sangen, kannten Newtons Geschichte nicht und waren sich daher auch nicht der Ironie bewusst, dass sie ihren Gefühlen mit den Worten eines Mannes Ausdruck verliehen, der mitgeholfen hatte, ihre Vorfahren in Afrika gefangen zu nehmen und über den Atlantik zu verschiffen. Doch Newton hatte auch die andere Seite der Sklaverei erlebt, und aufgrund dieser Erfahrung konnte er solche Worte schreiben.«
Titel – Autoren – Interpreten
Amazing Grace
Musik: Traditional – 18. Jahrhundert
Englischer Original-Text: John Newton – 1772
Melodiebearbeitung zur Endfassung und Zusammenführung mit Newton-Text: William Walker (& Benjamin White) – 1835
Frühe Schallaufnahmen: The Original Sacred Harp Choir – 1922; Label: Brunswick
The Wisdom Sisters – 1925; Label: Columbia
Hit-Version: Judy Collins – 1970/71; Label: Metronome (NL)/Elektra (DE)
Instrumental-Hit-Fassung: Royal Scots Dragoon Guards – 1972; Label: RCA

La Paloma
Spanien 1850er
Das Lieblingslied der Welt
von Marie Sichtermann
Wenn eine Weltraumsonde, die das All jenseits unserer Milchstraße erkunden soll, neben anderen schönen und wichtigen Dingen einen Tonträger mit dem beliebtesten Lied des Planeten Erde zu fernen Sternen brächte, es wäre höchstwahrscheinlich La Paloma. Und ganz sicher würden die fremden Wesen im All schon bald mitsingen und prächtige Raumschiffe zur Quelle dieser Klänge lenken. Hier angekommen, würden sie vielleicht auf die Frage stoßen: Was haben der Österreicher Maximilian, Kaiser in Mexiko, und der sächsische Seemann Joachim Ringelnatz gemeinsam? La Paloma war, so heißt es, ihr Lieblingslied, und die Legende sagt, sie hätten sich beide gewünscht, dass es an ihrem Grabe gespielt würde. Maximilian, der 1864 in Mexiko ankam und dessen Kaisertum schon drei Jahre später mit standrechtlicher Erschießung endete, soll das Lied zum ersten Mal im Teatro Nacional in Mexiko Stadt gehört haben; dargeboten von der jungen Sängerin Concha Mendez, die dort mit einer kubanischen Musikgruppe gastierte und das Publikum von den Plätzen riss. So wurde La Paloma gleich zu Beginn ein Hit in Mexiko, gelangte von dort mit den Cowboys nach Hawaii und Nordamerika und – möglicherweise – mit dem zurückkehrenden Gefolge und dem Leichnam des unglücklichen Maximilian nach Europa.
Wer heute im Testament verfügt, dass am Grabe La Paloma erklingen soll, hat die Auswahl zwischen knapp 150 La Paloma-Fassungen, die allein im Trikont-Verlag auf sechs CDs unter dem Titel »One Song For All Worlds« erschienen sind, und natürlich unzähligen anderen Versionen in Sprachen und Mundarten der meisten Länder der Erde in den verschiedensten Stilrichtungen wie Walzer, Tango, Reggae, Schnulze oder Habanera; mehr als 5000 verschiedene Interpretationen soll es geben. Die Wahl mag schwer fallen zwischen dem schwerelosen Gesang großer Sopranistinnen wie Rosita Serrano (deren Aufnahme von 1940 in dem Film »Das Boot« zu hören ist) und dem schwergewichtigen Tenor Placido Domingos. Flott gepfiffen von Ilse Werner, in düsterem, schrägen, in Moll gesetztem Jazz von Carla Bley (aus dem Kultstreifen »Das Auge«), als süßlich-wehmütiges Instrumental vom Orchester Billy Vaughn, leicht und unangestrengt in Englisch von Dean Martin als »The Look« (1956), oder Elvis Presleys populäres »No More« (aus dem Film »Blue Hawaii«, dessen gleichnamiger Soundtrack 1961 Presleys erfolgreichstes Album war). Dann gibt es noch die deutsche Hit-Version des österreichischen Baritons Freddy Quinn von 1961. Und wem das nicht reicht, der kann versuchen, die vermeintlich älteste Tonträgeraufnahme als Schellackplatte von 1896 zu ergattern – die des italienischen Tenors Ferruccio Giannini.
Ob der Komponist der Latino-Tango-Melodie, der Kirchenmusiker Sebastian Iradier (später Yradier, das Y war in Mode) y Salavieri, noch Kunde von dem frühen Erfolg seines Liedes erhielt, wissen wir nicht. Im Dezember 1865 starb er im nordspanischen Baskenland, wo er 1809 das Licht der Welt erblickt hatte. Sebastian kommt als Musiker in der Welt herum, mit 18 Jahren wird er Organist in Salvatierra, nahe seinem Geburtsort, mit 30 bildet er bereits am Konservatorium in Madrid SängerInnen aus und verkehrt in Kreisen des Adels. Später lebt er etliche Jahre in Paris. Doch ihn scheint das Abenteuer gelockt zu haben. 1857 schifft er sich nach Kuba ein – so heißt es, Belege für seine karibische Episode gibt es nicht. Die reiche, fruchtbare Insel war von den Spaniern erobert worden, die sie nun nach Kräften ausbeuteten. Einen Musiker bewegt überall zuerst die Musik, und so begegnet Yradier auf Kuba unweigerlich der kubanischen, in der Einflüsse aus Lateinamerika, der Karibik, Westafrika und Europa zusammenkommen. Ein Beispiel dafür ist die Habanera, ein langsamer Tanz im synkopierten 2/4 Takt mit einem weihevollen Flair. Die Habanera weist Elemente des englischen Countrydance auf, der nun wiederum von Spaniern nach Kuba eingeführt wurde. Yradier mag seine Habaneras auf Kuba geschrieben haben oder später, als er als Dirigent und Gitarrist mit dem Pianisten und Komponisten Gottschalk durch die Karibik getingelt sein soll, oder er schrieb sie in Paris oder Madrid. Zwei Daten leuchten aus dem Dunkel der Geschichte: Eine Urheberrechtseintragung für das Lied La Paloma 1859 in Madrid und die (erste) öffentliche Darbietung durch die Sopranistin Concha Mendez 1863 in Mexiko.
Yradier veröffentlicht, als er zurück in Frankreich ist, eine Sammlung mit karibisch inspirierten Liedern, unter denen auch zwei Habaneras sind, die beide Weltruhm erlangten: La Paloma und »El Arreglito«; letztere fand in Georges Bizets Oper »Carmen« Verwendung.
Die Taube flog um die Welt und eroberte die Herzen der Menschen in allen Erdteilen. Was macht den Charme des Liedes aus, das so oft wie kaum ein anderes Musikstück gespielt, gesungen, arrangiert und auf Tonträgern festgehalten wurde? Diese Frage bewegt alle und zieht sich sowohl durch den Film »La Paloma. Das Lied. Sehnsucht. Weltweit« von Sigrid Faltin, der 2008 in die Kinos kam, als auch durch das Buch »La Paloma – Das Jahrhundert-Lied« von Rüdiger Bloemeke (2005).
Ist es die Melodie, der Rhythmus? Sicher, das Lied ist schwungvoll, abwechslungsreich und durch den 2/4 Takt eingängig, ohne allzu simpel zu wirken. Das Phänomenale ist, dass es sich so wunderbar allen Ländern, Anlässen, Klimazonen, Instrumenten und Musikstilen anpassen lässt und immer in jeder Form wiedererkannt wird. Dass fast jedes Publikum schon nach ein paar Takten von La Paloma in Jubel und stürmischen Beifall ausbricht, hat die Melodie zu einer beliebten, weil sicheren, Zugabenummer für Sängerinnen und Sänger gemacht. Faltins Film zeigt uns, wie sie in Rumänien bei Beerdigungen gespielt wird und in Tansania zum Ausklang einer Hochzeit. In Mexiko, dem Land der gescheiterten Revolutionen, ruft La Paloma die Menschen noch immer zum Widerstand gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit auf, wie die mexikanische Sängerin Eugenia León jüngst eindrucksvoll unter Beweis stellte.
Oder sind es die Worte? Wir wissen nicht einmal genau, ob Yradier auch den Text verfasste. In der spanischen Urfassung geht es um einen jungen Mann, der – wie der Schriftsteller Paulo Coelho es nennt – den »guten Kampf des Lebens« kämpft: Er verlässt Havanna (von einem Schiff ist nicht die Rede) und das Mädchen, das er liebt, läuft ihm hinterher, dann heiraten sie und haben viele Kinder. Zur Verzierung dienen ein paar Scherze und Ausrufe wie »Si senor« und »Valgame Dios« (dt., Gott steh mir bei). Wenn wir eine Botschaft suchen, die die Menschen berührt hat und immer noch erreicht, sind es wohl besonders die ersten vier kurzen Zeilen des Refrains: »Si a tu ventana llega – Una Paloma – Tratala con cariño – Que es mi persona.« Wörtlich frei ins Deutsche übertragen bedeutet das: »Wenn an deinem Fenster eine Taube ankommt, behandle sie mit Zärtlichkeit, denn ich bin es selbst.« Das Bild der Taube am Fenster ist schön, sie geht ans Herz und wird in den meisten Textnachdichtungen übernommen.
Der Text hat seine eigene verschlungene Geschichte. Die Taube erhält ihr mythisches Weiß in Tagliafico’s Text »La Colombe«. Der französische Schauspieler und Sänger Joseph Tagliafico (1821–1900) war ein Zeitgenosse Yradiers. Ihm mag die Melodie gefallen haben, der Text aber nicht, und so schuf er um 1865/67 einen ganz eigenen vom Seemann und seiner Liebsten Nina, die im Grabe liegt, als er endlich von See nach Hause kommt, und die Taube am Fenster ist auch hier die zentrale Botschaft: »Une blanche colombe vienne te voir, ouvre-lui la fenêtre ...« So wurde aus La Paloma in Frankreich ein Seemannslied. Diese französische Fassung fand der Mainzer Musiker Heinrich Rupp (1838–1917) und übersetzte sie 1880 – zum Glück recht frei – ins Deutsche, so gelangen ihm die düsteren und kraftvollen Zeilen: »Falle ich einst zum Raube empörten Meer, fliegt eine weiße Taube zu dir hierher …« und »Schwarze Gedanken, sie wanken und fliehn geschwind uns wie Sturm und Wind …« Rupps Dichtung liegt den meisten in Deutsch gesungenen Fassungen zugrunde.
Den typisch deutschen, männlichen Touch bekommt La Paloma im Zweiten Weltkrieg von Helmut Käutner verpasst, der 1943/44 mit Hans Albers (1891–1960) in der Hauptrolle den Film »Große Freiheit Nr. 7« drehte und auch die Songtexte schrieb. Käutner greift tief in die Seemanns-Klischee-Kiste »Wein’ nicht, mein Kind, die Tränen, die sind vergebens, Seemanns Braut ist die See ...« Dabei läuft in der Filmstory der blonde Hans als alternder Seebär einer jungen Frau nach, die ihn nicht will, und wenn einer weint, dann ist er es. Aber alles hat auch sein Gutes: Die Zeile »Schroff ist das Riff und schnell geht ein Schiff zugrunde …« bereichert die La Paloma-Dichtung um ein gelungenes Bild, und ganz ohne die Taube kommt es auch nicht aus. Hans Albers’ unvergleichliche Interpretation schafft trotz rauer Männlichkeit eine sehnsuchtsvoll-melancholische Stimmung, ein am Ende leise gehauchtes »La Paloma adé« pocht ans Gemüt und bei allen Eingeweihten lässt die Erinnerung an das bekannte Bild einen Schauer über die Haut laufen und das Herz erzittern. Diese erste Schellackplattenaufnahme von 1944 ist mit Abstand Alberts beste.
Ja, es ist wohl doch die Taube am Fenster, und so mag es auch den Erfolg von Freddy Quinn mitbestimmt haben, dass er in seiner schönsten Version direkt damit beginnt: »Si a tu ventana llega una paloma ...« und dann erst in die deutsche 61er-Fassung übergeht, ein Liebeslied ohne Taube am Fenster, aber schlichter als Käutners und wirklich sehr schön: »Seh ich auch andre Menschen und fremde Sterne, denk ich an dich und grüße dich aus der Ferne ... La Paloma ohé, einmal müssen wir gehen, einmal schlägt uns die Stunde der Trennung. Einmal komm ich zurück.« Im Jahr 2004 schaffte der globale Gassenhauer den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, als sich in Hamburg unter Freddy Quinns Dirigat über 80.000 Menschen versammelten, um gemeinsam einen Weltrekord im Chorsingen aufzustellen.
»Seit über 100 Jahren spiegelt sich in La Paloma das Wechselspiel aus Glück und Unglück, Krieg und Frieden, Elend und Reichtum, Kunst und Kitsch«, fast Rüdiger Bloemeke die Widersprüche in seinem Buch treffend zusammen. Dieses beliebte Lied verbindet, es gehört einfach zum musikalischen Weltkulturerbe!
Ergänzung
Die Behauptung, dass La Paloma zum ersten Mal im Jahr 1863 von Concha Mendez in Mexiko öffentlich gesungen wurde, ist nicht unumstritten. Manche glauben, die italienische Gesangsdiva Marietta Alboni hätte das Lied bereits 1855 dargeboten und der spanische Bariton Francisco Salas zwei Jahre später.






