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Wenn so viele angesehene und umsichtige Akademiker dieser Ansicht sind und sie mit fester Überzeugung vorbringen, wäre es nur natürlich, zu denken, dass diese Idee vielleicht die einfache und ganze Wahrheit sei. Wenn das in der Tat der Fall wäre, dann wäre Ihre innere, subjektive mentale Erfahrung meines „Hallos“ an Sie einfach das Feuern der Gehirnneuronen. Wie das geschehen kann – vom Feuern der Neuronen zur subjektiven Erfahrung innerhalb des Wissens zu gelangen –, versteht keiner auf dem Planeten. Aber die Vermutung innerhalb der akademischen Diskussionen ist, dass wir eines Tages herausfinden werden, wie die Sache zum Geist wird. Wir wissen es jetzt nur noch nicht.
So vieles deutet in der Wissenschaft und Medizin – wie ich auf der medizinischen Hochschule und in meiner Forschungsausbildung gelernt habe – auf die zentrale Rolle des Gehirnes bei der Formung unserer Erfahrung von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen hin, was man sonst häufig als die Inhalte – oder Aktivitäten – des Geistes bezeichnet. Der Zustand des Gewahrseins, die Erfahrung des Bewusstseins selbst, wird von vielen Wissenschaftlern als ein Nebenprodukt neuronaler Verarbeitung betrachtet. Wenn sich daher herausstellt, dass „Geist = Gehirnaktivität“ die einfache und ganze Gleichung für den Ursprung des Geistes ist, dann könnten die wissenschaftliche Forschung nach der neuronalen Grundlage des Geistes, nach der Art und Weise, wie das Gehirn unsere Gefühle und Gedanken entstehen lässt, und das, was man die „neuronalen Korrelate des Bewusstseins“ nennt, lange und mühsame Bestrebungen sein, die sich aber auf der richtigen Spur befinden.
William James, ein Mediziner, den viele als Vater der modernen Psychologie ansehen, stellte in seinem 1890 veröffentlichten Lehrbuch The Principles of Psychology [dt. „Die Prinzipien der Psychologie“, A.d.Ü.] Folgendes fest: „Die Tatsache, dass das Gehirn die unmittelbare körperliche Voraussetzung für mentale Operationen ist, ist in der Tat heute derart allgemein anerkannt, dass ich keine weitere Zeit damit zubringen muss, sie zu erläutern, ich werde es einfach behaupten und fortfahren. Der ganze Rest des Buches wird mehr oder weniger ein Beleg dafür sein, dass das Postulat richtig ist“ (S. 2). Natürlich betrachtete James das Gehirn als zentral für das Verständnis des Geistes.
James stellte auch fest, dass die Introspektion eine „schwierige und fehlbare“ Informationsquelle über den Geist ist (S. 131). Diese Sicht, nebst der Schwierigkeit, vor der sich Wissenschaftler beim Quantifizieren subjektiver mentaler Erfahrungen gestellt sahen – (ein wichtiges Messverfahren, dessen sich viele Wissenschaftler bedienen, um wesentliche statistische Analysen vorzunehmen) –, machten das Studium neuronaler Prozesse und von außen sichtbarer Verhaltensweisen viel ansprechender und nützlicher, als sich die akademischen Disziplinen Psychologie und Psychiatrie entwickelten.
Doch ist das „Zeug in Ihrem Kopf“, das Gehirn, wirklich die einzige Quelle des Geistes? Was ist mit dem Körper als Ganzem? James erklärte daher, dass „körperliche Erfahrungen, und insbesondere Erfahrungen des Gehirnes, unter jenen Bedingungen des mentalen Lebens stattfinden müssen, welche die Psychologie in Betracht ziehen muss“ (S. 9). James wusste, wie auch die Physiologen seiner Zeit, dass das Gehirn in einem Körper lebt. Um dies zu betonen, verwende ich manchmal den Begriff „verkörpertes Gehirn“, was meine jugendliche Tochter mir mit Nachdruck als lächerliche Aussage vorhält. Warum? Ihre Antwort darauf lautete: „Papa, hast du jemals ein Gehirn gesehen, das nicht in einem Körper lebt?“ Meine Tochter hat eine wunderbare Art und Weise, mich über alle möglichen Dinge zum Nachdenken zu bringen, die ich ansonsten nicht berücksichtigen würde. Obgleich sie natürlich Recht hat, vergessen wir in der heutigen Zeit oftmals, dass das Gehirn im Kopf nicht nur ein Teil des Nervensystems, sondern des ganzen Körpersystems ist. James sagte: „Der mentale Zustand verändert sich auch aufgrund der Durchlässigkeit (sic) der Blutgefäße oder der Veränderung des Herzschlags oder noch subtilerer Vorgänge, in den Drüsen und inneren Organen. Wenn man diese in Betracht zieht, und zwar genauso als Ereignisse, die viel später erfolgen, da der mentale Zustand dem vorausging, kann mit Sicherheit die allgemeine Regel aufgestellt werden, dass niemals eine mentale Veränderung stattfindet, die nicht von einer körperlichen Veränderung begleitet wird oder der eine solche nachfolgt“ (S. 3).
Hier können wir sehen, dass James wusste, dass der Geist nicht bloß im Schädel saß, sondern im ganzen Körper. Nichtsdestoweniger akzentuierte er die körperlichen, mit dem Geist verbundenen Zustände oder jene, die dem Geist folgen, die aber keine mentalen Aktivitäten verursachen oder erschaffen. Das Gehirn wurde von alters her als Quelle des mentalen Lebens betrachtet. Geist ist in akademischen Kreisen ein Synonym für Gehirnaktivität – Ereignisse im Kopf und nicht im ganzen Körper. Um ein erläuterndes, aber verbreitetes Beispiel anzuführen – ein moderner psychologischer Text bietet folgende Sichtweise als komplette Begriffserklärung von Geist an: „Das Gehirn und seine Aktivitäten, einschließlich der Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen“ (Cacioppo & Freberg, 2013).
Diese Sichtweisen des Geistes als vom Gehirn herrührend sind mindestens 2500 Jahre alt. Wie der Neurowissenschaftler Michael Graziano darlegt: „Der erste wissenschaftliche bekannte Beitrag, der das Bewusstsein mit dem Gehirn in Verbindung setzt, geht auf Hippokrates im fünften Jahrhundert v. Chr. zurück… Er erkannte, dass Geist etwas vom Gehirn Geschaffenes ist und dass es Stück für Stück mit dem Gehirn stirbt.“ Er zitiert sodann Hippokrates Über die heilige Krankheit [Gemeint war damit die Epilepsie, A.d.Ü.]: „‚Menschen sollten wissen, dass vom Gehirn, und nur vom Gehirn, unsere Vergnügungen, Freuden, Lachen und Scherzen, aber auch unsere Traurigkeit, Schmerzen, Leid und Tränen ausgehen‘… Die Bedeutung von Hippokrates‘ Einsicht, dass das Gehirn die Quelle des Geistes ist, kann nicht überbewertet werden.“ (Graziano, 2014, S. 4).
Sich auf das Gehirn im Kopf als Quelle des Geistes zu fokussieren, ist in unserem Leben sehr wichtig gewesen, um die Herausforderungen mentaler Gesundheit zu verstehen. Die Beobachtung beispielsweise von Menschen mit Schizophrenie oder bipolarer Störung, genauso bei jenen mit anderen ernsthaften psychiatrischen Leiden wie Autismus, angeborenen Funktionsstörungen, die von einem anders strukturierten Gehirn ausgehen, und eben nicht aufgrund von etwas, das Eltern verursacht haben, oder irgendwelcher Charakterschwächen einer Person, bedeutete eine entscheidende Veränderung der Sichtweise im Bereich mentaler Gesundheit, um nach effektiveren Hilfsmitteln für bedürftige Menschen und Familien zu suchen.
Sich dem Gehirn zuzuwenden, hat uns befähigt, die Scham und die Schuldzuweisung von Personen und ihren Familien zu verringern, ein trauriger- und unglücklicherweise allzu verbreiteter und dabei nicht sehr lange zurückliegender Aspekt in den Begegnungen mit Ärzten. Auch konnte vielen Individuen mit psychiatrischer Medikation geholfen werden, da Moleküle als verantwortliche Akteure der Gehirnaktivität angesehen wurden. Ich sage „angesehen“ aufgrund der Entdeckung, dass der mentale Glaube einer Person ein gleichermaßen mächtiger Faktor in einigen als Placebo-Effekt bekannten Fällen sein kann. Bei einem Prozentsatz von Individuen mit bestimmten Leiden, haben ihre Glaubensinhalte zu messbaren Verbesserungen im äußeren Verhalten und auch in der Gehirnfunktion geführt. Und wenn wir uns daran erinnern, dass auch der Geist das Gehirn verändern kann, sollte sich damit ein Verständnis verbinden, dass den Geist zu trainieren für einige Individuen hilfreich sein könnte, (sogar angesichts von Abweichungen im Gehirn).
Weitere Unterstützung erfährt diese gehirnzentrierte Sichtweise des Geistes aufgrund von Studien an Individuen mit Läsionen bestimmter Hirnareale. Seit Jahrhunderten hat die Neurologie Kenntnis davon, dass spezifische Verletzungen in spezifischen Bereichen zu vorhersagbaren Veränderungen in den mentalen Prozessen wie Denken, Emotionen, Gedächtnis, Sprache und Verhalten führen. Den Geist als verbunden mit dem Gehirn zu sehen war äußerst hilfreich, sogar lebensrettend für viele Menschen im Laufe des letzten Jahrhunderts. Den Fokus auf das Gehirn und seinen Einfluss auf den Geist zu legen war ein wichtiger Beitrag, unser Verständnis und unsere Eingriffe zu fördern.
Doch diese Entdeckungen bedeuten weder im logischen noch im wissenschaftlichen Sinne, dass allein das Gehirn den Geist erschafft, wie oftmals behauptet wird. Gehirn und Geist könnten in der Tat das Gleiche sein. Beide könnten sich wechselseitig beeinflussen, wie die Wissenschaft quantitativ zu enthüllen beginnt, z. B. in Studien über den Einfluss mentalen Trainings auf die Gehirnfunktion und -struktur (Davidson & Begley, 2012). Mit anderen Worten, nur weil das Gehirn den Geist formt, bedeutet dies nicht, dass der Geist nicht das Gehirn formen kann. Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, einen Schritt von der vorherrschenden Sichtweise, dass „Geist Gehirnaktivität ist“, zurückzutreten und unseren Geist für ein größeres Bild zu öffnen.
Obwohl das Verständnis des Gehirnes wichtig für das Verständnis des Geistes ist, warum sollte der Geist – oder was immer auch erschafft oder verursacht oder konstituiert – auf das beschränkt sein, was oberhalb unserer Schultern vor sich geht? Diese vorherrschende Perspektive „Gehirnaktivität = Geist“, die der Philosoph Andy Clark ein „gehirngebundenes“ Modell nennt (2011, Seite XXV), kann auch als eine „einzig der Schädel“ oder als eine „eingeschädelte“ Sicht des Geistes bezeichnet werden, eine Sichtweise, die, wenngleich verbreitet, bestimmte Elemente unseres mentalen Lebens nicht in Betracht zieht. Eine davon ist die Tatsache, dass unsere mentalen Aktivitäten wie Emotionen, Gedanken und Erinnerungen unmittelbar vom Gesamtzustand unseres Körpers geformt, wenn nicht sogar gänzlich geschaffen werden. Dergestalt kann der Geist als verkörpert angesehen werden, und zwar nicht nur innerhalb des Schädels. Ein anderes grundlegendes Problem besteht darin, dass unsere Beziehungen zu anderen, zum sozialen Umfeld, in dem wir leben, unser mentales Leben direkt beeinflussen. Und auch hier bilden unsere Beziehungen unser mentales Leben, beeinflussen es nicht nur, sondern sind eine der Quellen seiner Ursprünge, nicht nur als etwas, das es formt, sondern das es entstehen lässt. Und auf diese Art und Weise kann der Geist sowohl als etwas Relationales wie Verkörpertes betrachtet werden.
Die Linguistikprofessorin Christina Erneling (Erneling & Johnson, 2005) bietet folgende Perspektive an:
Etwas Bedeutsames äußern zu lernen – das heißt, sich semantische Kommunikationsfertigkeiten anzueignen – besteht nicht nur darin, sich die spezifische Konfiguration spezifischer Gehirnprozesse anzueignen. Es umfasst desgleichen andere Menschen, die beachten, was man als ein Teil linguistischer Kommunikation sagt. Wenn ich Ihnen etwas verbal verspreche, spielt der Zustand meines Gehirnes keine Rolle. Wichtig ist vielmehr, dass mein Versprechen als solches von anderen Menschen aufgenommen wird. Dies hängt nicht nur von meinem oder Ihrem Verhalten und den Gehirnprozessen ab, sondern auch von einem sozialen Netzwerk aus Bedeutungen und Regeln. Typisch menschliche mentale Phänomene lediglich mit Begriffen des Gehirnes zu erklären gleicht dem Versuch, Tennis als Wettkampfspiel zu erklären, indem man sich auf die Ballistik bezieht… Über die Analyse mentaler Kapazitäten mit Begriffen individueller Ausführungen, Gehirnstrukturen oder der Rechenarchitektur hinaus, muss man das soziale Netzwerk, das sie ermöglicht, mit berücksichtigen. (S. 250)
So können wir zumindest sehen, dass jenseits des Kopfes, des Körpers und unserer relationalen Welt mehr existieren könnte als kontextuale Faktoren, die den Geist beeinflussen – sie könnten vielleicht fundamental für das sein, was der Geist ist. Mit anderen Worten, was immer Geist auch ist, das könnte seinen Ursprung in unserem ganzen Körper und unseren Beziehungen haben, und nicht darauf beschränkt sein, was sich zwischen unseren Ohren abspielt. Wäre es dann im wissenschaftlichen Sinne nicht vernünftig, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass das Gehirn mehr als bloße Gehirnaktivität ist? Könnten wir das Gehirn nicht als Teil eines anderen betrachten, als Teil eines breiteren Prozesses, der den Körper als Ganzes mit einbezieht, genauso wie unsere Beziehungen, aus denen der Geist entsteht? Könnte dies nicht eine komplettere, „vollständigere“ Sichtweise sein, als einfach zu behaupten, der Geist sei auf die Aktivität im Kopf beschränkt?
Obgleich der Geist mit Sicherheit in grundlegender Art und Weise mit dem Gehirn verbunden ist, könnte unser mentales Leben nicht auf das beschränkt sein oder bloß davon herrühren, was in unseren Schädeln allein vor sich geht. Könnte der Geist etwas mehr sein als einfach ein Ergebnis des Feuerns der Neuronen im Gehirn? Und wenn dieses breiter angelegte Bild sich als wahr herausstellt, was könnte dieses Etwas Mehr tatsächlich sein?
Unsere Identität und der interne und relationale Ursprung des Geistes
Wenn das, was wir sind – sowohl in unserer persönlichen Identität als auch in der wahrgenommenen Erfahrung des Lebens –, einem mentalen Prozess entspringt, ein mentales Produkt, eine Funktion des Geistes ist, dann sind wir das, was unser Geist ist. Auf unserer bevorstehenden Reise werden wir alles über den Geist erforschen – nicht nur das Wer, sondern auch das Was, Wo, Wann, Warum und Wie Ihres Geistes, des Geistes.
Wir beginnen mit folgender geteilter Sichtweise als Ausgangsposition: Der Geist wird von der Funktion des Gehirnes und seiner Struktur im Kopf geformt und ist vielleicht sogar völlig davon abhängig. Im Sinne eines Ausgangspunktes gibt es unsererseits nichts dagegen einzuwenden. Und so stimmen wir dem, was die Mehrheit der Geist-/Gehirnforscher behauptet, ganz und gar zu – und schlagen dann vor, den Begriff des Geistes über den Schädel hinaus auszudehnen. Das Gehirn im Sinne eines Kopf-Konzeptes ist bloß der Ausgangs- und nicht der Endpunkt unserer Forschungsreise. Wir könnten uns letztendlich dazu entscheiden, diesen Versuch angesichts einer breiteren Sichtweise, zu der wir gelangen, aufzugeben, und vielleicht werden wir schließlich zu der häufig vorgebrachten Schlussfolgerung kommen, dass „der Geist nur das ist, was das Gehirn macht“, doch für den Augenblick lassen Sie uns die Bedeutung des Gehirnes im mentalen Leben akzeptieren und unseren Geist für die Möglichkeit öffnen, dass der Geist mehr sein könnte, als lediglich das, was im Kopf vor sich geht. Was ich Ihnen vorschlage ist, dass wir das Gehirn als eine wichtige Komponente einer noch reicheren Geschichte, einer breiter angelegten und komplizierteren Geschichte ansehen, die es zum Wohle aller wert ist, erforscht zu werden. Diese umfassendere Geschichte ist das, in das wir uns selbst im Laufe unserer Erforschung vertiefen werden. Eine umfassendere Definition des Geistes zu finden, das ist das eigentliche Ziel unserer Reise.
Einige Akademiker betrachten den Geist als vom Gehirn unabhängig. Philosophen, Pädagogen und Anthropologen haben den Geist schon seit Langem als einen sozial konstruierten Prozess angesehen. Lange vor unserem modernen Verständnis des Gehirnes geschrieben, betrachten diese sozialorientierten Akademiker unsere Identität – von unserer inneren Wahrnehmung des Selbst bis zur Sprache, die wir gebrauchen – als ein Gefüge sozialer in den Familien und unserer Kultur eingebetteter Interaktionen. Sprache, Gedanken, Gefühle und unser Identitätsgefühl sind allesamt aus unseren Interaktionen mit anderen Menschen gewoben. Beispielsweise betrachtete der russische Psychologe Lev Vygotsky das Denken als einen internalisierten Dialog, den wir mit anderen geführt haben (Vygotsky, 1986). Der Anthropologe Gregory Bateson sah den Geist als einen aus der Gesellschaft sich entwickelnden Prozess an (Bateson, 1972). Und mein eigener Lehrer für fiktionales Schreiben, der Kognitionspsychologe Jerry Brunner, betrachtete Geschichten als etwas, das innerhalb von Beziehungen, die Menschen zueinander haben, entsteht (Brunner, 2003). Wer wir sind, ist, von diesen Standpunkten aus betrachtet, das Ergebnis unseres sozialen Lebens.
Und so haben wir zwei Modalitäten, den Geist zu betrachten, die selten eine gemeinsame Grundlage finden: Geist als eine soziale Funktion und Geist als eine neuronale Funktion (Erneling & Johnson, 2005). Jede Perspektive öffnet ein wichtiges Fenster in die Natur des Geistes. Sie dürfen nicht getrennt bleiben, will man das wahre Wesen des Geistes erkennen. Auch wenn die separierende Vorgehensweise für die Durchführung von Forschungsstudien üblich geworden ist oder Ergebnisse dadurch besondere Interessen oder Vorlieben von Wissenschaftlern eher unterstützen, ist das wahre Wesen des Geistes sowohl verkörpert wie auch relational.
Doch wie kann der Geist sowohl verkörpert als auch relational sein? Wie kann eine „Sache“, ein „Ding“ sich an zwei scheinbar verschiedenen Orten befinden?
Wie können wir diese beiden Aussagen über den Geist – als soziales oder neuronales Produkt – miteinander in Einklang bringen, die beide einer sorgfältigen Reflexion und einem Studium entspringen, dem sich Akademiker über viele Jahre gewidmet haben? Diese beiden Sichtweisen sind typisch für die getrennte Betrachtung des mentalen Lebens. Könnten sie nicht Teil ein und des gleichen Wesens sein? Gibt es einen Weg, ein System ausfindig zu machen, aus dem der Geist entstehen könnte, ein System, das verkörpert und relational sein könnte, eine Sichtweise, welche die innere neuronale und die interpersonelle soziale Sichtweise umschließt?
Warum dieses Buch über den Geist?
Zusammengefasst scheint unserem Gefühl nach die Auffassung, dass „der Geist das ist, was das Gehirn macht“, nicht die ganze Wahrheit zu sein. Wir müssen unseren Geist für das offen halten, was den Geist in seiner reichen Komplexität ausmacht. Subjektivität ist kein Synonym für Gehirnaktivität. Bewusstsein ist kein Synonym für Gehirnaktivität. Unser zutiefst relationales mentales Leben ist kein Synonym für Gehirnaktivität. Die Wirklichkeit des Bewusstseins und seine innere subjektive Textur und die interpersonelle soziale Natur des Geistes laden uns zumindest dazu ein, jenseits des Schwirrens neuronaler Aktivität innerhalb des Schädels, als der vermeintlich ganzen Geschichte vom Wesen des Geistes, zu denken.
Ich verstehe, dass dieser Zugang zum Geist sich von den vorherrschenden Sichtweisen der Mehrheit moderner Akademiker in der Psychologie, Psychiatrie und den Neurowissenschaften und von vielen zeitgenössischen Klinikern in den Bereichen der Medizin und der mentalen Gesundheit unterscheiden dürfte. Mein eigener zweifelnder Geist bereitet mir Sorgen im Hinblick auf diese Vorschläge.
Meine wissenschaftliche Ausbildung verpflichtet mich trotzdem dazu, diesen Fragen mit einem offenen Geist zu begegnen, und Optionen nicht vorzeitig auszuschließen. Meine Ausbildung als Arzt und Psychiater und meine Erfahrung als Psychologe seit über 30 Jahren haben mir gezeigt, dass der Geist jener, mit denen ich zusammengearbeitet habe, über den Schädel, ja, über die Haut hinausgeht. Der Geist ist in uns – innerhalb des ganzen Körpers – und er ist zwischen uns. Er ist zwischen unseren Verbindungen untereinander und sogar zwischen den Verbindungen, die wir zu unserer weiteren Umgebung, unserem Planeten haben. Die Frage, was das Wesen unseres mentalen Lebens wirklich sein könnte, ist für die Forschung offen. Das Wesen des Geistes bleibt, von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, immer noch ein nicht gelöstes Problem.
Das Ziel dieses Buches ist es, ein umfassenderes Verständnis dessen, was der Geist ist, in einer unmittelbaren und umfassenden Art und Weise zu eröffnen und anzugehen.
Meine Einladung an Sie besteht darin, sich im Hinblick auf diese Fragen im weiteren Verlauf einen offenen Geist zu bewahren. Diese Reise zum Wesen des Geistes könnte es erforderlich machen, dass wir, wenn wir uns tiefer in diese Ideen versenken, unsere eigenen Glaubensinhalte über den Geist überprüfen. Werden wir zu neuen Sichtweisen gelangen, die für Ihr eigenes Leben von Wert sind? Ich hoffe es, aber Sie werden sehen, was sich ergibt, wenn wir auf unserer bevorstehenden Reise vorankommen. Indem wir uns zusammen auf diese Erkundungsreise machen, könnten wir am Ende mehr Fragen als Antworten erhalten. Doch hoffentlich wird die Erfahrung beim Erforschen des Wesens des Geistes eine erleuchtende sein, selbst wenn wir uns darüber nicht einig werden oder zu letzten Antworten kommen.
Aus diesen und vielen anderen Gründen werden wir Erkundungen anstellen; wir könnten uns im Hinblick auf diese Frage nach dem Wesen des Geistes wünschen, einen offenen Geist zu bewahren – was immer dieser Geist letzten Endes auch offenbart und wo immer er sich zeigt. Dieses Gefühl, dass es mit dem Geist etwas mehr auf sich haben könnte, dass er mehr als eine bloße innerhalb des Schädels stattfindende Gehirnaktivität ist, soll das Gehirn nicht ersetzen, es vielmehr ergänzen. Wir verwerfen die Errungenschaften der modernen Wissenschaft nicht; wir erforschen sie tiefgehend, respektieren sie vollauf und erweitern sie möglicherweise, um eine umfassendere Wahrheit über das Wesen des Geistes aufzuzeigen. Wir eröffnen den Dialog auf eine wissenschaftliche Art und Weise, laden zur Erforschung des Geistes alle ein, einschließlich die Akademiker, Kliniker, Lehrer, Schüler, Eltern und jeden, der sich für den Geist und die mentale Gesundheit interessiert. Der Zweck dieser Reise ist es, hoffentlich Diskussionen auszudehnen, Einsichten zu vertiefen und das Verständnis zu erweitern.
Die Diskussion über Geist und mentale Gesundheit wird uns hoffentlich in die Lage versetzen, die Erforschung effektiver zu betreiben, die klinische Arbeit zu konzeptualisieren und zu leiten, Erziehungsprogramme zu erstellen, das Familienleben zu inspirieren, unser Verständnis unserer individuellen Lebenswege zu vertiefen und sogar die Gesellschaft zu formen. Die Erforschung hat das Potenzial, unser persönliches Leben zu stärken, das Wesen unseres Geistes zu erleuchten und uns aufzuzeigen, wie wir mehr Wohlbefinden in unserem Lebensalltag kultivieren könnten.
Unser modernes Leben überflutet uns häufig mit Informationen, bombardiert uns in digitaler Manier, verbindet uns aber auch rund um den Globus; während wir als eine moderne menschliche Spezies zugleich zusehends isoliert und verzweifelt, überwältigt und allein sind. Wer sind wir? Und was wird aus uns, wenn wir die Konsequenzen der Art und Weise, wie Energie und Informationen unser Leben überfluten, nicht gewissenhaft berücksichtigen? Jetzt ist es bedeutender denn je, dass wir den Kern menschlichen Lebens erkennen, das, was der Geist ist, und lernen, wie wir die Essenz mentaler Gesundheit kultivieren – dass wir wissen, was Wesentlich ist, um einen gesunden Geist zu schaffen.
Eine mögliche Strategie könnte darin bestehen, einfach ein neues Wort anstelle von Geist zu prägen und dann diesen neuen Begriff zu verwenden, um zu klären, woher und wie unsere interpersonellen Verbindungen und unser verkörpertes Leben, unsere subjektive Erfahrung, unser inneres Wesen, unser Gefühl für Zweck und Bedeutung und unser Bewusstsein jeweils zustande kommen und sich bilden. Wie würden Sie die wesentlichen Grundzüge unseres Lebens benennen, wenn Sie nicht den Terminus Geist verwendeten?
Einen anderen Begriff zu finden, der einen Prozess symbolisiert, der sich von „Geist ist gleichbedeutend mit Gehirnaktivität“ unterscheidet, ist ein möglicher Zugang. Und vielleicht ist dies eine angemessene Lösung. Aber diese Erforschung ist mehr als eine bloße semantische Diskussion über Begriffe, Definitionen und Interpretationen. Wenn der Geist ein Begriff für die Bedeutung unseres Wesens ist, für das Herz dessen, was beziehungsweise wer wir sind, lassen Sie uns sehen, ob wir jene Bedeutungen des Terminus „Geist“ bewahren und zugleich erkennen können, was es mit diesem Geist, dem Herz unseres Menschseins, wirklich auf sich hat. Wie wär’s mit diesem Vorschlag?
Wir gebrauchen den Begriff „Gehirnaktivität“, um uns auf das neuronale Feuern zu beziehen. So stellen wir fest, was es ist. Neuronale Aktivitäten finden innerhalb des Schädels statt, innerhalb des Gehirnes im Kopf. Dann können wir die Wirklichkeit des Geistes in seiner ganzen Fülle frei erkunden, ohne die häufigen Argumente, die ich gehört habe, heraufzubeschwören, wie z. B., dass dieser Versuch, eine breitere Sichtweise zu erforschen, die „Wissenschaft verdreht“, weil behauptet wird, dass der Geist mehr als Gehirnaktivität sei. Selbst wenn der Geist völlig von der Gehirnaktivität abhängt, heißt das noch lange nicht, dass Geist das Gleiche wie Gehirnaktivität ist.