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Die Kirchenhistorikerin Elizabeth A. ClarkClark, Elizabeth aus den USA stellt ähnliche Fragen wie die Subaltern Studies Group, um ein Forum einzuleiten, das sich postkolonialen Anfragen an die kirchengeschichtliche Wissenschaft stellen soll:
„Wer ist berechtigt, sich an dieser Theoriebildung zu beteiligen? Wessen Stimmen bleiben erhalten? Können Menschen aus dem Westen ‚authentisch‘ die Perspektive derer vertreten, die von westlichen Kulturen unterdrückt wurden? Hängt die Ausbildung einer christlichen Identität nicht wie jede Identitätskonstruktion davon ab, ein ‚anderes‘ als Negativfolie einzurichten, in diesem Fall die NichtchristInnen, die KetzerInnen, die Apostaten? Sind politische und wirtschaftliche ‚materielle‘ Interessen in die akademische Diskussion über ‚Repräsentation‘, Literatur und Textualität eingewoben? Ist dabei die Geschichte der Kolonisierten verloren gegangen?“4
Die indigene Wissenschaftlerin Linda Tuhiwai SmithSmith, Linda Tuhiwai aus Neuseeland hinterfragt darüber hinaus aus feministischer Perspektive den europäischen Begriff der Geschichte selbst: „Geschichte (history) ist die Erzählung (story) einer spezifischen Herrschaftsform, nämlich des Patriarchats, wörtlich ‚his-story‘“5. Für den indigenen Kampf um die Entkolonisierung ist es daher nicht selbstverständlich, sich dafür einzusetzen, dass indigene AutorInnen sich an der Produktion westlicher Geschichtsschreibung beteiligen wollen. Vielmehr stellt SmithSmith, Linda Tuhiwai wesentliche Grundlagen des westlichen Geschichtsverständnis in Frage. Um die eigene Geschichte erzählen zu können, müssten vielmehr auch Indigene Praktiken der Erinnerung und der Erzählungindigene Praktiken der Erinnerung und der Erzählung, insbesondere Narrativität, Pluralität und alternative Rationalitäten zugelassen und wertgeschätzt werden. Geschichtsschreibung wird so auch zu einer Arena der Auseinandersetzung um die Vergangenheit und die Ungerechtigkeiten, die aus ihre ererbt wurden. Unter dieser Voraussetzung „bleibt die Notwendigkeit, unsere Geschichten (stories) zu erzählen, ein machtvoller Imperativ einer machtvollen Widerstandsform“6.
Auch lateinamerikanische TheologInnen und HistorikerInnen beklagen, dass die Geschichte der Missionen und der Kolonien in der Regel von EuropäerInnen und mit europäischer Methodologie geschrieben wurde und wird. Die Geschichte der Unterworfenen wird auf diese Weise unsichtbar gemacht.
Enrique DusselDussel, Enrique kritisiert bereits 1978 die europäische Historiografie der Eroberung Amerikas als „aristokratische Geschichte“:
„Man schrieb ein bestimmtes Christentum und ließ ein anderes auf der Seite liegen. […] Außerdem wurde die Geschichte fast immer aus der Perspektive einer Elitenkultur geschrieben, die selbst kulturell abhängig ist. Wir wurden in Universitäten, in Seminaren, in Europa oder unter europäischem Einfluss ausgebildet, und das gab uns eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit. Auch wenn wir nun eine ‚wissenschaftliche‘ Beschreibung liefern (und das wird hier vorausgesetzt), ist dies eine höchst fehlerhafte Interpretation.“7
Der mexikanische Theologe Alejandro Castillo MorgaCastillo Morga, Alejandro verweist in diesem Zusammenhang darauf, wie seit der Eroberung Lateinamerikas indigenes Wissen, Selbstverständnis und Geschichtsbewusstsein immer wieder delegitimiert, umgedeutet und zerstört wurde8. Dieses Verständnis der eigenen Geschichte der UreinwohnerInnen Amerikas „kommt in ihrer Art und Weise zu sein, in ihren Lebensweisen, ihrer Weltsicht, Mythen, Bräuchen und Gewohnheiten und selbstverständlich ihrem Wort zum Ausdruck.“9
Angesichts der Eroberung, Kolonisierung und Mission erfuhr dieses Selbstverständnis teilweise eine Zerstörung und teilweise eine Umdeutung gemäß den herrschenden Interessen. CastilloCastillo Morga, Alejandro zeigt nun aber auch, wie die indigene Weisheit Strategien des Widerstands durch WeisheitStrategien des Widerstands entwickelt hat, durch die es möglich war, das eigene historische Bewusstsein wenigstens in transformierter Form zu bewahren und weiterzugeben. Mit einem Begriff aus der Nahuatl-Sprache, der im mexikanischen dekolonialen Diskurs viel verwendet wird, nennt Castillo diese Strategie nepantla, das als „sich dazwischen stellen“ übersetzt werden kann und einen Zwischenraum eröffnet, in dem ↗ Hybridität und Mestizität möglich werden10.
In diesem Zwischenraum ist es möglich, innerhalb des kolonialen Rahmens mit den Mitteln der Kolonie und der eigenen Tradition gemeinsam Widerstand zu leisten. Die geschichtliche Erinnerung, die hier geformt wird, schöpft aus beiden Traditionen, nutzt aber die Sprache und Begrifflichkeiten des Eroberers in erster Linie dazu, die indigenen Überlieferungen in unverdächtiger Form aufzubewahren und weiterzugeben.
Das Ziel dieser Analyse ist es aber nicht, auf diese Weise eine Art reiner indigener geschichtlicher Erinnerung gewissermaßen zu destillieren, sondern die Widerstandsformen zu beschreiben, durch die sie transformiert und weitergegeben wird. Auf diese Weise ist es möglich, nicht nur von der ursprünglichen indigenen Weisheit, sondern auch von den Erfahrungen des Widerstandes für die Gegenwart zu lernen.
Die Geschichte der Unterworfenen und ihres Widerstands ist daher nicht dazu verdammt, verloren zu gehen. Vielmehr ist es möglich, mit geeigneten Methoden, mit Rücksicht auf die Stimmen der Subalternen selbst und durch eine Korrektur der nach westlichen Vorstellungen geprägten Geschichtswissenschaften und der Vorstellung von Geschichte selbst Alternativen zu konstruieren, in denen diese subalterne Geschichte erinnert und tradiert werden kann. So bilanziert auch Randall StyersStyers, Randall (in einem Vorwort zu postkolonial-kirchenhistorischen Beiträgen):
„Die Kolonisierung hat es selten geschafft, die Kolonisierten aus der Geschichte zu streichen. So wie postkoloniales Schreiben das Potenzial zeigt, sich einen Weg in die Revision des historischen Narrativs zu erkämpfen, so bieten auch die folgenden Beiträge neue Einblicke, wie die Historikerin/der Historiker zu den Bemühungen beitragen kann, dieses Narrativ anzufechten und zu erweitern.“11
2.8 Überschneidungen verschiedener Achsen der Kolonialität
Der feministische Theoriebegriff der ↗ Intersektionalität wird auch in den postkolonialen Studien sehr häufig eingesetzt. Gabriele WinkerWinker, Gabriele und Nina DegeleDegele, Nina verorten den Ursprung dieses Konzepts in den „Erfahrungen Schwarzer Frauen, die sich im Feminismus westlicher Weißer Mittelschichtsfrauen nicht wieder fanden“1, vor allem in den USA der 1970er Jahre. Unterdrückungserfahrungen aufgrund von Rassismus und Sexismus können demnach nicht einfach addiert werden, sondern überlappen und beeinflussen sich wechselseitig. Diese Überlappungen oder Überschneidungen wurden seit den 1990er Jahren ‚Intersektionen‘ genannt und das theoretische Konzept der systematischen Analyse ihrer wechselseitigen Einflussnahme ‚IntersektionalitätIntersektionalität‘.
Weitere Achsen der Ungleichbehandlung, Exklusion oder Ausbeutung kamen im Lauf der Zeit zu dieser immer komplexer werdenden Analysemethode hinzu. Die Theologin → Namsoon KangKang, Namsoon nennt „Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Schicht, Sexualität, Unfähigkeit und Befähigung, Nationalität, Staatsangehörigkeit, Religion usw.“2 – insbesondere das abschließende „usw.“ verweist auf die prinzipielle Unabgeschlossenheit, die dem Konzept innewohnt. Alter, Bildung und Beruf erscheinen darüber hinaus als weitere wichtige Kategorien, die in die Analyse aufgenommen werden können.
WinkerWinker, Gabriele und DegeleDegele, Nina verdeutlichen nun, dass diese verschiedenen Achsen der gesellschaftlichen Ordnung nicht unabhängig voneinander sind und deswegen auch in ihrer Beziehung zueinander analysiert werden müssen, da diese „Kategorien in verwobener Weise auftreten und sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können“3. Das „Ziel ist dabei die umfassende theoretische und vor allem empirische Analyse, welche Bedeutung verschiedene Differenzkategorien bei Phänomenen und Prozessen unterschiedlichster Art haben.“4
Auch Namsoon KangKang, Namsoon spricht hinsichtlich postkolonial-theologischer Szenarien von einer „Verstrickung von Kolonialismus, Geschlecht und Religion“5. Über die unmittelbaren historischen Auswirkungen des Kolonialismus hinaus ist es daher notwendig, seine Verwobenheit auch in andere Machtstrukturen und Ausschlussmechanismen aufzudecken. Postkoloniale Theoriebildung impliziert daher auch die
„Analyse mehrfacher komplexer Zusammenhänge von Herrschaft und Unterdrückung und von Macht und Wissen, die voneinander untrennbar sind, sich jedoch nicht aufeinander zurückführen lassen.“6
KangKang, Namsoon verdeutlicht, dass jede einzelne dieser Achsen – sie beschränkt sich in ihrer Analyse weitgehend auf Kolonialismus, Geschlecht und Religion – dazu neigt, binäre Strukturen von „Zentrum und Rand, […] Einschluss und Ausschluss“7 zu produzieren. Durch die Überschneidungen werde es jedoch zunehmend „schwierig, haargenau zu definieren, wer ‚wir‘ und wer ‚sie‘ sind. Das Wir als singulär-monolithische Identität wird unmöglich, problematisch und sogar gefährlich“8. Gerade in kolonial-missionarischen Konstellation erscheine darüber hinaus „Religion als eine heilige Sanktion solcher Macht-Asymmetrie“9.
Erschwert wird die Analyse dieser komplexen und verwobenen Intersektionen darüber hinaus noch durch die Tatsache, dass Machtverhältnisse verzerrt, verschleiert und maskiert werden. Insbesondere diejenigen, die in (post-)kolonialen Kontexten Macht ausüben, bleiben oft unerkannt, da ihre Position „häufig unsichtbar und getarnt ist“10. Nicht zuletzt die Religion spielt dabei aus historischen Gründen oft eine entscheidende Rolle.
KangKang, Namsoon folgert aus ihrer Untersuchung Fünf Konsequenzen für die Produktion von Theologiefünf Konsequenzen für die Produktion von Theologie in postkolonialen Räumen mit dem Instrumentarium der Intersektionalitätsanalyse: Zunächst ist es wichtig, die „westliche Konstruktion einer binären Festgelegtheit [zu] dekonstruieren“11. Dies bedeutet, die Prozesse des ↗ Othering und der ↗ Essentialisierung, die auch in diesem Kapitel beschrieben wurden, aufzudecken und ihre Funktionsweise und Zielrichtung bloßzulegen. Eine zweite Konsequenz besteht in der Auflösung der Hegemonien, die in den verschiedenen sich überschneidenden Achsen konstruiert wurden, also beispielsweise des ↗ Eurozentrismus und des Sexismus. Dabei warnt sie vor „postkolonialer Rache“12, also dem Wunsch, die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, Zentrum und Peripherien, Kolonisierten und KolonistInnen einfach umzukehren. Diese Dekonstruktion der Hegemonien dient vielmehr der „Hinterfragung von theologischen Normen und Maßstäben“13.
Als dritte Konsequenz für die Theologie fordert KangKang, Namsoon, die „Hypersensibilität für die Marginalisierten [zu] fördern“14. Denn innerhalb intersektionaler Settings sind diese Marginalisierten in mehrfacher Hinsicht bedrängt, nämlich auf den verschiedenen sich überschneidenden Achsen. Jede Parteinahme für sie – die sie aufgrund der Weltgerichtsrede in Mt 25,31-46Mt 25,31-46 für christlich geboten hält – gerät selbst unter den Verdacht der Machthabenden. Deswegen zieht Kang auch die weitere Konsequenz, die Legitimität der Standpunkte, Perspektiven und Erfahrungen der Marginalisierten „radikal“ anzuerkennen15. Der theologische Grund dafür liegt schließlich für Kang in der Gottebenbildlichkeit der Marginalisierten, die aufzuzeigen und zu rehabilitieren eine entscheidende theologische Konsequenz aus der intersektionalen Analyse ist.
Diese kritische theologische Analyse und Neuorientierung geschieht für Namsoon KangKang, Namsoon im Raum der Kirche und der theologischen Tradition und übersteigt beide zugleich. Diese Weiterentwicklungen sind notwendig, um dem Christentum seinen befreienden Charakter zurückzugeben, den es durch imperialen und kolonialen Einfluss eingebüßt hat.
2.9 Hegemonie. Zusammenfassung
Die verschiedenen in diesem Kapitel vorgestellten Diskurspraktiken bewirken in kolonialen Kontexten, dass die militärische, politische und wirtschaftliche Herrschaft des Kolonialismus auch kulturell abgesichert wird, ja als Selbstverständlichkeit gelten kann. Denn die behauptete Überlegenheit der europäischen, ‚weißen‘, christlichen und männlichen Eroberer wird aufgrund dieser tief wurzelnden und kulturell verankerten Überzeugungen nur schwer anfechtbar.
Diese selbstverständliche Überzeugung lässt sich als ↗ ‚Hegemonie‘ bezeichnen, ein Begriff des marxistischen Philosophen Antonio GramsciGramsci, Antonio, der in den postkolonialen Studien breit rezipiert wurde. Darunter versteht Gramsci „grundlegend […] die Macht der herrschenden Klasse, andere Klassen davon zu überzeugen, dass ihre Interessen die Interessen aller sind“1. Diese Hegemonie ist zuvörderst ein kultureller Effekt. Gramsci kontrastiert ihn mit offenen und direkten Formen der Machtausübung, die sichtbar und spürbar sind. Vielmehr setzt die Hegemonie auf die Kraft der inneren Überzeugung:
„Herrschaft wird so weder durch Zwang noch notwendigerweise durch aktive Überredung ausgeübt, sondern durch eine subtilere und inklusive Macht über die Wirtschaft und über staatliche Institutionen wie Bildung und Medien, von denen die Interessen der herrschenden Klasse als Allgemeininteresse dargestellt und auf diese Weise als selbstverständlich akzeptiert wird.“2
Die in den letzten Abschnitten beschriebenen Konzepte und Praktiken wie ↗ Othering/Veranderung, ↗ Essentialisierung, eurozentristische Überlegenheit, Patriarchat usw. führen im Kontext des Kolonialismus zu einer kulturell erfahrbaren Hegemonie im Sinn Gramscis, deren Selbstverständlichkeit man sich kaum entziehen kann. Auch nach Ende der politischen Kolonialherrschaft bleibt diese Hegemonie im kulturellen Sinn bestehen – sie wird zur ↗ ‚Kolonialität‘ Antonio QuijanosQuijano, Aníbal3.
Der Hegemoniebegriff kann auch erklären, warum koloniale Werte und Abwertungen auch nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit bestehen bleiben anstatt bekämpft zu werden. Die Koloniale Überzeugungen sind tief kulturell verankerttiefe kulturelle Verankerung der kolonialen Überzeugungen führt dazu, dass sie auch in postkolonialer Zeit hegemonial bleiben. Denn
„die Zustimmung wird durch die Beeinflussung des kolonisierten Subjekts durch den imperialen Diskurs erreicht, so dass eurozentrische Werte, Annahmen, Überzeugungen und Haltungen wie selbstverständlich als die natürlichsten oder wertvollsten akzeptiert werden. Die unvermeidliche Folge einer solchen Beeinflussung ist, dass das kolonisierte Subjekt sich selbst als peripher zu diesen eurozentrischen Werten versteht, während es gleichzeitig deren Zentralität akzeptiert.“4
Genau dieselbe Problematik findet sich nach NehringNehring, Andreas und WiesgicklWiesgickl, Simon auch in kirchlichen und theologischen Kontexten:
„Für die Theologie ergeben sich hier wichtige Ansatzpunkte für die Frage, wie Menschen anderer Religionen und Kulturen ein missionarisches Christentum der Europäer für sich annehmen konnten, was sie davon übernommen haben und wo sie Formen entwickelt haben, in denen Widerstand gegenüber den westlichen Missionaren möglich gewesen ist.“5
In den allermeisten Kolonialsystemen europäischer Provenienz waren Kirche und Mission zentrale Akteurinnen, die sich die koloniale Herrschaft zunutze machten und sie zugleich häufig legitimierten. Die zeitgenössische Theologie untermauerte dabei in der Regel die jeweilige Argumentation, wenngleich es natürlich auch theologischen Widerstand zu bestimmten Auswüchsen des Kolonialismus oder sogar zum kolonialen Projekt gab. So kritisiert → Musa DubeDube, Musa
„die koloniale Ideologie der Unterdrückung, die ihre Opfer als Menschen charakterisiert, die aus ihrer eigenen schrecklichen Unzulänglichkeit errettet werden müssen. Dieses koloniale Konstrukt stellt den Westen weiterhin als Zentrum aller kulturellen Errungenschaften dar, ein Zentrum mit einem angeblich erlösenden Impuls, während es alle anderen Kulturen zu einem Projekt der Zivilisation, der Christianisierung, der Assimilation und der Entwicklung degradiert.“6
Darüber hinaus lässt sich in der Theologie ein eigenes Interesse an einer eurozentrischen Hegemonie erkennen7. Gerade der katholische Zentralismus, der gleichzeitig zur Expansion des europäischen Kolonialismus aus verschiedenen Gründen strukturell vertieft und organisatorisch abgesichert wurde, schuf sich eigene Überzeugungssysteme von der Überlegenheit europäischer Wissenschaft allgemein und Theologie im Speziellen. Dieser ↗ Eurozentrismus überstand auch geisteswissenschaftliche Krisenzeiten wie den Humanismus, die Reformation, die Aufklärung und die Postmoderne weitgehend unbeschadet.
So wird beispielsweise kritisch analysiert, dass Theologinnen und Theologen aus postkolonialen Kontexten, die einen eigenständigen Entwurf kontextueller Theologie vorlegen möchten, sich wie selbstverständlich mit den entsprechenden Diskursen in der europäischen Theologie befassen müssen, während es für die Theologie in Europa – auch in einer globalisierten Weltkirche – offenbar möglich zu sein scheint, theologische Diskurse, die als universal zu gelten beanspruchen ohne jede Bezugnahme zu den Theologien des Südens oder einen Dialog mit ihnen zu führen.
Diese Selbstverständlichkeiten, die auf der eurozentrischen kolonialen Hegemonie beruhen, werden in der postkolonialen Kritik aufgelöst und dekonstruiert. Zur Entzauberung dieser Hegemonie tragen auch der Dialog mit anderen Wissenssystemen und Traditionen und das Aufgreifen kritischer und widerständiger ↗ Epistemologien bei. Während diese Formen des Widerstands und der Konstruktion alternativer Wissensformen Gegenstand des vierten und fünften Kapitels sein werden, steht im nächsten Kapitel die postkoloniale Kritik an den direkteren Formen der Unterdrückung und Ausbeutung im Vordergrund. Um die bekannte Formel von Antonio GramsciGramsci, Antonio aufzugreifen: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“8. Ging es in diesem Kapitel vor allem um die Fragen der Hegemonie, so widmet sich das nächste eher dem Zwang.
3 Machtbeziehungen
Wenn GramsciGramsci, Antonio den Staat als eine mit Zwang abgesicherte hegemoniale Herrschaft betrachtet, so können auch der Kolonialismus und die ihm folgenden postkolonialen Herrschaftsverhältnisse als diskursiv oder hegemonial gerechtfertigte und durch äußeren Zwang aufrechterhaltene Machtbeziehungen analysiert werden. Die kolonialen Machtbeziehungen, die meist militärisch und polizeilich gesichert wurden, transformierten sich dabei im Lauf der Zeit, insbesondere nach der jeweiligen formellen staatlichen Unabhängigkeit der Kolonialgebiete, in vielfältige andere Machtverhältnisse, die politischer und wirtschaftlicher Art, rassistisch oder geschlechtsbezogen waren. Auch kirchliche und missionarische Machtasymmetrien setzen bis in die Gegenwart die kolonialen Herrschaftsstrukturen fort.
Diese Machtbeziehungen werden nicht selten diskursiv verschleiert. In dieser Hinsicht bestehen selbstverständlich enge Beziehungen zwischen den Themen und Analysen dieses Kapitels und denen des vorangegangenen. Überschneidungen lassen sich daher nicht immer vermeiden. In diesem Kapitel stehen aber die äußeren, strukturellen, institutionellen und rechtlichen Aspekte der Kritik an postkolonialen Herrschaftsbeziehungen im Vordergrund. Postkoloniales Denken setzt sich eben – entgegen einem verbreiteten Vorwurf – nicht nur mit kulturellen und diskursiven Aspekten von Herrschaft auseinander, sondern zielt auch auf gesellschaftliche Verhältnisse, die sich eher auf einer strukturellen Ebene befinden. Das Zusammenwirken von Analysen auf struktureller und auf diskursiver Ebene verschafft den postkolonialen Studien hingegen einen Vorteil beim Aufdecken der komplexen und vielgestaltigen Herrschaftsformen, die der Kolonialismus herausgebildet, hinterlassen und weiterentwickelt hat.
Nach dem Ende des Kolonialismus haben diese Strukturen nicht einfach überlebt, sondern sich transformiert – gerade auch unter dem Einfluss des Widerstands und der Unabhängigkeitsbewegungen – und in vielfältiger Weise verformt. Die rein historische Erinnerung an die kolonialen Machtverhältnisse kann daher nur als ein Element ihrer Analyse dienen. Darüber hinaus nehmen die postkolonialen Studien auch weitere Methoden der Herrschaftsanalyse in Anspruch, um den komplexen und vielfach verschleierten Charakter der postkolonialen Machtstrukturen dekonstruieren zu können.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden in diesem Kapitel verschiedene Aspekte und Perspektiven struktureller Machtausübung in postkolonialen KontextenAspekte und Perspektiven struktureller Machtausübung in postkolonialen Kontexten vorgestellt. Sie werden dabei wieder – wie schon im letzten Kapitel – mit Beispielen aus postkolonial-theologischen Arbeiten illustriert, um die Auswirkungen dieser Analysen auf theologische Methoden und Inhalte zu dokumentieren. Zugleich wird auch der Beitrag sichtbar, den kritische, postkoloniale Theologien für die Analyse von Herrschaftsbeziehungen und zugleich für den Widerstand gegen sie leisten.
Neben offenen Herrschaftsbeziehungen, z. B. im politischen Bereich (3.1), finden sich strukturelle Abhängigkeiten auch in der Wirtschaft (3.2), in der Religion (3.3) und im Landbesitz (3.4). Fragen der Zugehörigkeit und der Exklusion weisen neben diskursiven auch strukturelle Aspekte auf (3.5). Weitere Perspektiven postkolonial-theologischer Analysen, die hier aufgezeigt werden, sind Gewalt gegen Frauen (3.6) und die Unsichtbarkeit in Unterdrückungsverhältnissen als Machtstrategie (3.7) Mit dem Begriff der Kolonialität der Macht (3.8) wird schließlich ein Zwischenfazit über die beiden eher analytisch und dekonstruktiv orientierten Kapitel 2 und 3 gezogen.
Auch den Machtbeziehungen, die in diesem Kapitel nun im Mittelpunkt stehen, ist – ähnlich den im vorausgegangenen Kapitel untersuchten kulturellen und diskursiven Formen der hegemonialen Herrschaft – eine gewisse Selbstverständlichkeit oder sogar ‚Gottgegebenheit‘ eigen. Da die christliche Missionierung in der Regel ein wichtiges Element postkolonialer Kulturen darstellt, werden die bestehenden Machtverhältnisse nicht selten als religiös legitimiert oder sogar determiniert aufgefasst. Wie andere kulturell sanktionierte Strukturen anerkennt man sie jedoch wenigstens als natürlich oder historisch notwendig. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit – sei sie religiös oder säkular begründet – stellt eine wichtige Herausforderung für die postkoloniale Analyse dar.
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