Lockdown: Das Anhalten der Welt

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Ob mit oder ohne Krise wäre eine andere Gesellschaft somit eine, die neben Politik und dem Indexpatient Wirtschaft andere Funktionssysteme nicht nur kennt, sondern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Das Spiel »Andere Gesellschaft« geht demnach nicht ohne Politikblindheit. Nur so wird der Biedermeier zum Brandstifter.
Bis die notwendige Unbeobachtung der Politik gelingt, ist man mit einem multifunktionalen Liberalismus gut beraten. Anders als der aktuell geschmähte Neoliberalismus würde sich diese Spielart des Liberalismus nicht nur auf Wirtschaft, Recht und Politik konzentrieren, sondern sich dem wechselseitigen Interventionsschutz aller Funktionssysteme verschreiben, und somit die reflexive Bescheidenheit, die sowohl dem Liberalismus als auch der Systemtheorie zu eigen ist, konsequent auf die Beobachtung aller Funktionssysteme ausweiten.
Die Stimmung wird kippen
Berliner Zeitung, 24. April 2020
Überfordert der Staat sich selbst – und seine Bürger?
Tagesspiegel, 25. April 2020
Gesellschaft im Hygienestress: Händewaschen nie vergessen!
FAZ, 26. April 2020
Schäuble warnt vor zu hohen Erwartungen an den Staat
Spiegel, 26. April 2020
Reopening Has Begun. No One Is Sure What Happens Next.
New York Times, 26. April 2020
A Few Thousand Protest Stay-at-Home Order at Wisconsin State Capitol
New York Times, 26. April 2020
2Die Welt läuft weiter, vielleicht schneller als je zuvor
von Heiko Kleve
26. April 2020
Die Welt steht nicht still. Auch wenn wir alle derzeit unsere physische Mobilität reduzieren müssen, ist von sozialer Distanzierung nichts zu merken. Die Kommunikation, also die soziale Grundoperation der Gesellschaft, läuft auf Hochtouren. Da sind sich beide Diskutanten einig. Der Dissens besteht in der Frage, welches gesellschaftliche Funktionssystem seine Kommunikationen dominant setzt. Derzeit ist es die Politik mit dem Gesundheitssystem im Rücken, das die Frage nach »gesund oder krank« auf die Fundamentaldifferenz von »Leben oder Tod« zuspitzt und damit den politischen Akteuren auf den Leim geht. Aber wie war es vorher: in der Prä-Corona-Zeit? Fritz Simon diagnostiziert, dass das Wirtschaftssystem seine Unterscheidungen der Gesellschaft übergestülpt hat; er sieht eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Steffen Roth widerspricht: Wir lebten und leben in politischen Zeiten, in denen alle Lebensbereiche mit staatlichen Interventionen rechnen müssen. Beide frage ich nun, wie sich die jeweiligen Behauptungen empirisch unterfüttern lassen. Woran erkennen wir die wirtschaftliche bzw. die politische Dominanz? Ich bitte also um Beispiele.
Selbstkastration des Staates
von Fritz B. Simon
Um herauszufinden, dass Religion als Funktionssystem an Bedeutung verliert, braucht man wahrscheinlich keine Big-Data-Forschung, sondern es reicht der sonntägliche Kirchgang … Offenbar kommt die Gesellschaft ohne Religion ganz gut zurecht (ohne Kunst auch, wie das gegenwärtige Corona-Großexperiment nahelegt). Anders steht es mit den anderen Funktionssystemen. Weder Politik noch Wirtschaft sind verzichtbar – und Ähnliches gilt in der westlichen Gegenwartsgesellschaft für Rechtssystem, Erziehung, Wissenschaft und Gesundheitssystem. Die Frage ist nicht, wessen System-Hybris berechtigt ist, sondern wie die Gesellschaft die Paradoxien bewältigt, die daraus resultieren, widerstreitenden, sich logisch gegenseitig negierenden Zielen und Interessen gleichzeitig gerecht werden zu müssen. Es geht also um das Verhältnis der Funktionssysteme zueinander – und zwar nicht auf einer abstrakten theoretischen Ebene, sondern pragmatisch, d. h. bei der Setzung von Prämissen der Entscheidung bzw. dem konkreten Entscheiden.
Sprechen wir also nicht vom politischen System und der Wirtschaft im Allgemeinen, sondern vom Staat und der Logik seiner Entscheidungen und von der Wirtschaft, insbesondere Märkten, und ihren Entscheidungsprämissen. Mein Vorwurf an den Staat ist, dass er sich selbst kastriert hat, indem er, statt sich der Auseinandersetzung um die Ziele der Politik und die daraus abzuleitenden Entscheidungsprämissen zu stellen, bestimmte Entscheidungen an Märkte delegiert hat und sie damit deren Entscheidungslogik unterworfen hat.
Um die von Heiko Kleve geforderten konkreten Beispiele zu nennen: Städtische Wohnungen sind an Investoren verramscht worden; kommunale Wasser- und Elektrizitätswerke sind an Großkonzerne verkauft worden; die Deutsche Bahn hat ihr Streckennetz reduziert, um den Erwartungen des Kapitalmarkts gerecht zu werden; Krankenhäuser (vor allem private) müssen Profite erwirtschaften (was u. a. in Einzugsgebieten mit einer wohlhabenderen Klientel zu überdurchschnittlich vielen Blinddarm-Operationen führt).
Die Annahme, Märkte brächten rationalere Lösungen als politische Prozesse hervor, ist nur dann richtig, wenn Rationalität allein als ökonomische Rationalität zu verstehen wäre. Aber die anderen Funktionssysteme und ihre Akteure müssen ihren eigenen Rationalitäten folgen (auch wenn sie dazu Geld brauchen).
Selbstorganisation des Staates
von Steffen Roth
Nennen wir das Kind also beim Namen: Der Staat ist nicht »die Politik«, sondern eine Organisation, und die ist beileibe nicht nur politisch. Staaten investieren, forschen, erziehen oder setzten Hygienemaßnahmen um. Und doch bleibt es die bevorzugte »Selbstverstümmelungsstrategie« dieses Organisationstyps, sich erst mit einer politisch gedachten Gesellschaft zu verwechseln und dann wie besessen »Wirtschaft und Gesellschaft« zu spielen.
Wissenschaft hat daran unrühmlich Anteil, wenn sie auf Autorität und Sonntagsevidenz setzt statt auf Theorie und Methode. Wer ohne aufwendige Wahrheitsprogrammarbeit immer schon weiß, welche Funktionssysteme kriegswichtig sind oder nicht, der sieht die Welt dann zumeist wie die durchschnittliche Nationalregierung, die je ein Drittel ihrer Aufmerksamkeit auf Politik und Wirtschaft verwendet – die restlichen Funktionssysteme kommen unter ferner liefen. Weltweite Empirie gibt es hier.4 Man braucht sich aber auch nur das Kabinettportfolio der Deutschen Bundesregierung vor Augen halten, wo mindestens vier Wirtschaftsministerien (Finanzen, Wirtschaft, Landwirtschaft und Wirtschaftliche Zusammenarbeit) einem für Gesundheit und einem für Wissenschaft und Erziehung gegenüberstehen. Diesen polit-ökonomischen Überhang haben demokratische mit diktatorischen Regierungen gemein.
Nun steht es jedem organisierten Beobachter frei, markante Funktionssystempräferenzen auszubilden und so lange aufrechtzuerhalten, bis es nicht mehr geht. Das aktuelle Stichwort lautet Gesundheit.
Wenn die Entscheidungsprämissen von Staat und Regierung dieser Tage wieder auf dem Prüfstand stehen, dann kann die funktionale Konsistenzprüfung auch jenseits des altvertrauten Grabenkrieges von Staat und Markt vollzogen werden. Wenn Wohlfahrt einschließlich Gesundheit auf Wohlstand und dieser wiederum auf Innovation basiert, dann können sich die Wohlfahrtsstaaten des 21. Jahrhunderts die systematische Geringschätzung der Eigenlogiken von Wirtschaft, Wissenschaft und, ja, auch Kunst nicht mehr lange leisten. Insofern ist politische Zurückhaltung auch auf Staatsebene keine marktliberale Luxusflause, sondern eine wohlfahrtspolitische Notwendigkeit.
Allensbach-Chefin: »Das Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung ist bemerkenswert«
Handelsblatt, 27. April 2020
Ein anderes Virus. Zweifel am Kurs der Politik müssen sein – aber der zunehmend giftige Ton der Debatte wird der Lage nicht gerecht
Die Zeit, 29. April 2020
Despite Trump’s Nudging, Schools Are Likely to Stay Shut for Months
New York Times, 29. April 2020
Lufthansa reduziert Arbeitszeit und Kapazität weiter
FAZ, 29. April 2020
Systemrelevante Berufe: Klatschen ist gut, ordentlich bezahlen ist besser
Frankfurter Rundschau, 29. April 2020
Corona-Lockerungen: Geld oder Leben, was wiegt mehr?
Rheinpfalz, 29. April 2020
3Organisation gesellschaftlicher Aufgaben
von Heiko Kleve
29. April 2020
Nun sind Fritz Simon und Steffen Roth von der Ebene der gesellschaftlichen Funktionssysteme Politik und Wirtschaft auf die Ebene der Organisationen gesprungen. Fritz Simon hat Beispiele angeführt, mit denen er deutlich macht, wie er seine Kritik am »Marktfundamentalismus« meint, nämlich als Kritik an der Privatisierung von kommunalen, sozialen oder gesundheitsbezogenen Aufgaben. Entsprechend der kritisierten Privatisierungslogik sollen nicht nur klassische Unternehmen der sogenannten Realwirtschaft dem Marktwettbewerb folgen, sondern z. B. auch Krankenhäuser. Wir könnten in Ländern, die die Krankenversorgung in dieser Weise massiv privatisiert haben, sehen, dass damit besondere Probleme in der Patientenbehandlung einhergehen. Aber stimmt das? Italien, das bekanntlich große Schwierigkeiten hatte, die Corona-Krise zu bewältigen, hat gewissermaßen ein sozialistisches Gesundheitssystem, jedenfalls eine Finanzierung des Systems, wie es sie auch in der realsozialistischen DDR gegeben hat: »Italien verfügt über ein staatliches mit Steuern finanziertes Gesundheitswesen. Die einzelnen Leistungen werden vom nationalen Gesundheitsdienst (SSN, Servizio Sanitario Nazionale) zur Verfügung gestellt. Ziel ist es, allen Bürger*innen unabhängig vom Einkommen und sozialem Stand eine einheitliche medizinische Grundversorgung mit Hilfe der italienischen Krankenversicherung zu ermöglichen.«5 Im Gegensatz dazu hat Singapur, der Stadtstaat, der die Corona-Krise offenbar vorbildlich und mit einer abgewogenen Verhältnismäßigkeit der Mittel bewältigt, ein fast gänzlich privates Gesundheitswesen. Steffen Roth betont, dass auch der Staat eine Organisation sei, in der die unterschiedlichen Logiken der gesellschaftlichen Systeme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Kunst zirkulieren, sich gegenseitig tangieren und als Kontextfaktoren aufeinander Bezug nehmen. Die Frage scheint doch zu sein, wie Organisationen auch jenseits der Realwirtschaft ihre Entscheidungsprämissen verstehen und strukturieren. Wie sollten also beispielsweise Krankenhäuser finanziert werden? Welche Rolle müsste hier die Wirtschaft spielen? Wie ist bestenfalls der Staat eingebunden?
Wozu Staat?
von Fritz B. Simon
Lassen wir die Frage, ob die Charakterisierung des Staats als Organisation passend ist, mal beiseite (es gibt ja die These, »Staat« sei die Selbstbeschreibung des politischen Systems – was mir ziemlich plausibel erscheint), und schauen wir auf die empirischen Daten von Steffen Roth, auf die er verweist, wenn er die vielen Wirtschaftsministerien ins Feld führt.
Ich finde es gut, hier auf die empirischen Daten zu schauen, aber – und das scheint mir der Knackpunkt – ich würde sie genau umgekehrt interpretieren: Die Tatsache, dass wir so viele Wirtschaftsministerien haben, ist Beleg dafür, dass die Wirtschaft inzwischen die Politik übernommen hat. Denn all diese Ministerien verstehen sich – zumindest ist das die Folgerung, wenn man ihre Politik analysiert – als Lobbyisten für Wirtschaftsinteressen. Am deutlichsten ist dies beim Landwirtschaftsministerium, das sich dem Schutz der heimischen Bauern verschrieben hat, aber auch das Außenministerium fungiert oft genug als Handelsvertreter, wenn DAX-Vorstände mit dem Außenminister in die weite Welt fahren. Dass zunehmend Vertreter von Wirtschaftsverbänden als Leiharbeiter in Ministerien Gesetzentwürfe formulieren, ist nur das Tüpfelchen auf dem i. Und dass nach einem höheren Posten in der Politik der nächste Karriereschritt ein Führungsposten in der Wirtschaft ist, folgt derselben Logik.
Dass der Staat die Autonomie fast aller Funktionssysteme nicht respektiert und sie irritiert, gehört meines Erachtens zu seinen Aufgaben: Er bezahlt Lehrer und Wissenschaftler, Richter und Polizisten, Krankenhausärzte und Gesundheitsämter, Theater- und Museumsdirektoren, ja, sogar die Finanzierung der Kirchen sichert er.
Die Frage, ob er sich in all diesen Bereichen engagieren sollte, ist berechtigt.
Die Antwort muss meiner Meinung nach lauten: Nur, wenn es wirklich um politische Fragen geht, das heißt, wenn es um kollektiv bindende Entscheidungen und ihre Durchsetzung (wie ich der üblichen Definition gern hinzufügen würde) geht. Daher lässt sich die Frage auch verkürzen: Wozu brauchen wir den Staat und seine Institutionen? Die Antwort kann sowohl die Ausdehnung als auch die Begrenzung oder auch die Neudefinition und Neuordnung von Funktionen nahelegen.
Eine politische Frage, die politisch zu beantworten ist, d. h. durch öffentliche Auseinandersetzung, an deren Ende kollektiv bindende Entscheidungen und ihre Durchsetzung stehen.
Wozu staatliche Wirtschaftsbesessenheit?
von Steffen Roth
Die Selbstbeschreibung des politischen Systems als Staat hat bekanntlich kaum Vergangenheit und wenig Zukunftsaussichten. Zum einen kennt unsere Weltgesellschaft Weltpolitik nur ohne Weltstaat. Zum anderen haben Funktionssysteme keine Adressen. Das Recht kann nicht klagen und die Wirtschaft nimmt keine Schecks an. Ein Staat aber kann Schulden machen oder zur Rechenschaft gezogen werden, und wo Staat nicht Person war, ist das ein Hinweis auf Organisation.
Wenn sich die Exekutive eines Staates nun dem Stalking einzelner Funktionssysteme verschreibt, dann kann man mit Fritz Simon die Spießrute auch umdrehen und die Verantwortung dem Opfer zuschreiben: Das aufreizende Verhalten der wirtschaftlichen Interessenvertreter lässt dem Staat keine Wahl. Er muss einfach immer wieder intervenieren. Auch in diesem Fall bleibt die Diagnose der politischen Überbeobachtung von Wirtschaft aber bestehen, und es liegt nahe, eine Therapie in weniger staatlicher Beobachtung von wirtschaftlichen Interessen zu sehen.
Insofern ist es eben doch mehr überliefertes Problem als innovative Lösung, wenn der Staat seine Marktmacht ausspielt, um neben Soldaten und Polizisten auch Lehrer, Wissenschaftler, Richter, Priester und Theaterdirektoren mit Geld politisch auf Kurs zu bringen. Diese selbstverständlich legale Form der Korruption gelingt mehr schlecht als recht, was konsequent ist, hat sie doch mit der Kernfunktion des Staates kaum etwas zu tun. Aus dem verfassten Recht zur Gewaltmonopolisierung, -teilung und -kontrolle folgt jedenfalls kein Vorrang von politischen vor religiösen, wissenschaftlichen, ästhetischen und nicht zuletzt eben wieder rechtlichen Vorstellungen von Gesellschaft.
Wenn der Staat tatsächlich an Wirtschaftsbesessenheit leidet, dann lässt sich das nicht mit der nächsten eigentumsrechtlichen Gesprächstherapie entlang der Leitunterscheidung Privatisierung versus Verstaatlichung kurieren. Denn auch in diesem rechtlich demarkierten Feld spielt man letztlich wieder nur Wirtschaft und Politik oder gleich den Klassiker Wirtschaft und Gesellschaft.
Wenn sich der Staat aber als zumindest vorrangig politische Organisation definiert, dann kann er mit Blick auf seine eigene Wirtschaftsmanie auch zum Schluss kommen, dass ihm Geld und mithin Wirtschaft nur ein Mittel zum Zweck ist, und sich nach Alternativen umsehen. So könnte er sich ganz entspannt darauf besinnen, dass es sich wie einst ganz gut mit Religion regieren ließe oder in einer nicht ganz fernen Zukunft auch schwerpunktmäßig mit Gesundheit. Ein Schuft, wer Arges dabei denkt.
Wer sich dennoch unbehaglich fühlt bei dem Gedanken an Zustände, die Heiko Kleve unlängst provokativ als Gesundheitsdiktatur bezeichnet hat, der bewertet die Autonomie und Sperrigkeit, die sich die Wirtschaft in der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit der Politik erhalten hat, sicher neu. Eine Politik und eine politische Theorie, die die Politisierung nicht nur der Wirtschaft, sondern auch aller anderen Funktionssysteme thematisiert und relativiert, ist demnach das Gebot auch dieser Stunde.
»Pakt für Nachhaltigkeit«: Grüne fordern Milliarden für die Wirtschaft
ntv, 2. Mai 2020
BDI: Wirtschaftsverbände fordern Ende der Corona-Beschränkungen
ZEIT ONLINE, 2. Mai 2020
Wirtschaft fordert einen klaren Exit-Fahrplan von der Regierung
Handelsblatt, 4. Mai 2020
As Trump Pushes to Reopen, Government Sees Virus Toll Nearly Doubling
New York Times, 5. Mai 2020
Hope and Worry Mingle as Countries Relax Coronavirus Lockdowns
New York Times, 5. Mai 2020
4Vom Für und Wider der Politisierung bzw. Ökonomisierung zur Staatskritik
von Heiko Kleve
5. Mai 2020
Beide Kontrahenten, Fritz B. Simon und Steffen Roth, haben sich in ihren Positionen ausdifferenziert. Sie kommen nicht zusammen, sie bleiben ihren Perspektiven treu. Leider haben sie bisher meine angemahnte Konkretisierungsforderung nicht aufgegriffen, wie denn nun etwa Organisationen, die selbst nicht der klassischen Realwirtschaft zugeordnet werden können, finanziert werden sollten. Vielleicht können wir im weiteren Diskurs dazu Beispiele sammeln, um von der gesellschaftstheoretischen auf die alltagspraktische Ebene überzuwechseln.
Zunächst bleibt festzuhalten: Während Simon die Politik als Schiedsrichter im gesellschaftlichen Spiel der Funktionssysteme versteht, kontert Roth, dass diese Systeme keinem gemeinsamen Spiel folgen, sondern ihren je eigenen Regeln gehorchen. Daher kann es keine politische Metastrategie geben, die interesselos, neutral oder allparteilich im »Kampf« der Partialinteressen für Ausgleich sorgt. Denn der Staat als »Selbstbeschreibung der Politik« oder als politische Organisation ist selbst interessengeladen unterwegs. Es geht ihm um Macht, um die Monopolisierung der Gewalt, um die Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen sowie um die Sanktion derjenigen, die diese nicht anerkennen.
Genau an dieser Stelle laden wir einen Protagonisten ein, der mit seinem Zwischenruf die interessengeladene Perspektive des Staates noch deutlicher markiert: Dr. Stefan Blankertz. Mit ihm greift ein Sozialwissenschaftler, Philosoph und Romancier in den Diskurs ein, dessen Perspektive als libertär bezeichnet werden kann. Der Libertarismus könnte wohl als eine Form der Dekonstruktion des Staates und seiner Legitimationsideologien bewertet werden. So erscheint es passend, dass Stefan Blankertz Gründer und Betreiber des Murray-Rothbard-Instituts für Ideologiekritik ist.
Hat die Wirtschaft die Politik übernommen?
von Stefan Blankertz
Jedes Handeln hat einen ökonomischen Aspekt, denn jedes Handeln nutzt Ressourcen (selbst das Denken verbraucht Zeit). So ist es keine Zumutung, staatliches Handeln unter ökonomischen Gesichtspunkten anzuschauen. Vielmehr gibt es gar keine Möglichkeit, über es nachzudenken, ohne dabei auch ökonomische Gesichtspunkte zu berühren. Die Ökonomie des Staats unterliegt aufgrund seines Gewaltcharakters Besonderheiten. Der Staat erhält die Ressourcen nicht wie jede andere gesellschaftliche Organisation im direkten und freien Austausch. Vielmehr enteignet er die produktiv Tätigen (Einzelpersonen, Firmen usw.) und nutzt die so gewonnenen Ressourcen. Einerseits nutzt er sie zur eigenen Erhaltung. In entwickelten Staaten geht ein Großteil der Ressourcen andererseits an ausgewählte gesellschaftliche Organisationen (zum Beispiel Firmen), die ihm das im Gegenzug mit Loyalität danken.
Steffen Roth formuliert treffend, dass der »Staat seine Marktmacht ausspielt, um neben Soldaten und Polizisten auch Lehrer, Wissenschaftler, Richter, Priester und Theaterdirektoren mit Geld politisch auf Kurs zu bringen«. Diese so privilegierten gesellschaftlichen Organisationen stehen dem Staat zwar unisono loyal gegenüber, aber untereinander konkurrieren sie heftig um ihren Anteil an den Ressourcen. Aus den gesellschaftlichen Organisationen werden Interessengruppen, die sich nicht mehr nur durch das Bestreben erhalten, den Handlungspartnern (zum Beispiel Kunden) das von diesen Gewünschte zu liefern, vielmehr darüber hinaus Zugang zu öffentlichen Mitteln haben und sich ein Stück weit entfernen können von der Zustimmung der sie konstituierenden Personen. Das Gerangel der Interessengruppen ist das, was man landläufig als »Politik« bezeichnet.
Durch das Gerangel der Interessengruppen gerät die Politik an zwei heikle Punkte. Zum einen hat die Enteignung der Produktiven eine (negative) Wirkung auf die Produktivität. Der Grad an Enteignung kann nicht unbegrenzt gesteigert werden, um allen Forderungen der Interessengruppen nachzukommen. Zum anderen ist das ökonomische Abwägen, welchen Forderungen nachzukommen sei, mit schweren Verlusten an Legitimation dort verbunden, wo Forderungen abgewiesen werden oder sogar eine Verringerung der Zuwendungen droht. Dies ist die spezifische politische Ökonomie staatlicher Herrschaft. Während der Corona-Pandemie etwa war immer wieder die Rede davon, das Gesundheitswesen in dem einen oder anderen schwer betroffenen Land sei »totgespart« geworden. Da in keinem der Länder eine Reduzierung der Quote des Staats am Bruttosozialprodukt stattgefunden hat, bedeutet dies nur eins: Finanzmittel sind nicht in dem Maße ins Gesundheitswesen geflossen, wie es dessen Vertreter gern gesehen hätten, sondern anderen Interessengruppen zugutegekommen. Da die Gesundheitskosten in den letzten Jahrzehnten überall drastisch gestiegen sind, heißt »totgespart« nicht einmal, dass der Anteil des ökonomischen Wohlstandes, der für das Gesundheitswesen aufgewendet wurde, tatsächlich gesunken ist, sondern sich nur nicht im gewünschten Maße steigern ließ.
Die Interessengruppen – wie die Vertreter der Krankenkassen oder der Ärzte, der Arbeitgeber oder der Gewerkschaften usw. – erobern nicht den Staat und üben ungebührlichen Einfluss auf ihn aus, sondern sie sind ihrerseits vom Staat geschaffen. Die Klage über den ungebührlichen Einfluss von bestimmten Interessengruppen ist immer ein Teil des Machtkampfes zwischen den Interessengruppen: Es klagt eine Interessengruppe, die andere Interessengruppe habe zu viel Einfluss. Fritz B. Simon zählt einige der Interessengruppen auf, die der Staat finanziert: »Er bezahlt Lehrer und Wissenschaftler, Richter und Polizisten, Krankenhausärzte und Gesundheitsämter, Theater- und Museumsdirektoren, ja, sogar die Finanzierung der Kirchen sichert er.« Zwar lässt Simon offen, welche Interessengruppen durch den Staat seiner Meinung nach legitim zu bedienen seien, jedoch bemängelt er auf jeden Fall den zu großen Einfluss der Wirtschaftslobbyisten.
Die Entscheidung darüber, welche Interessengruppe wie stark oder ob überhaupt staatlich finanziert und sonst wie gefördert werden solle, macht er an »kollektiv bindenden Entscheidungen« fest. Aber es ist gerade das Vorgehen der Staatsgewalt, den Bereich »kollektiv bindender Entscheidungen« ständig zuungunsten der gesellschaftlichen Selbstorganisation zu verschieben. Bei dieser Verschiebung spielt eine große Rolle, dass die gesellschaftliche Selbstorganisation stets als partikulares, das staatliche Handeln dagegen als allgemeines Interesse behauptet wird. Die Notwendigkeit kollektiv bindender Entscheidungen ist kein objektivierbares Kriterium, sondern Teil des politischen Machtkampfes um Zugang zu staatlichen Finanzmitteln.