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Das nächste Reiseziel war Budva in Montenegro. Hier fanden die Jugend-Europameisterschaften statt. Die Carlsens fuhren über die Alpen, durch Italien und Kroatien. In den Tagen vor der Jugend-Europameisterschaft bestand ihr Alltag darin, historische Stätten zu besuchen, zu baden und Spaß zu haben. Allerdings war von vornherein festgelegt, dass die Kinder täglich eine Stunde mit Schularbeiten verbrachten. Im Großen und Ganzen wurde diese Vereinbarung eingehalten.
Bei der Europameisterschaft führte Magnus nach sieben Runden souverän mit 6,5 Punkten. In den letzten zwei Partien war er jeweils klarer Favorit, brachte es aber fertig, beide zu verlieren. Er erreichte den dritten Platz in der Gruppe der Jungen unter vierzehn Jahren. »Es war verdammt ärgerlich, dass ich kein Gold geholt habe«, erklärte er später, »aber der Frust ging schnell vorbei.«
Schon bald gab es neue Möglichkeiten. Sechs Tage nach der Europameisterschaft kam das nächste Turnier, der Europacup der Vereinsmannschaften. Austragungsort war Kreta. Für die anderen Familienmitglieder war die Insel der perfekte Urlaubsort. Meer und Sonne, und überall gab es antike Stätten wie die über zweitausend Jahre alten Ruinen des Palastes von Knossos zu besichtigen. Alle Kinder mussten einen Aufsatz über den Palast schreiben, auch Magnus.
Norwegen hatte nie eine Mannschaft entsandt, die auch nur in die Nähe einer Spitzenplatzierung gekommen wäre. Bis dahin hatten die Osteuropäer die Ergebnislisten souverän dominiert. Magnus sollte für Asker antreten, einen Vorort von Oslo, und er bekam die Möglichkeit, am ersten Brett zu spielen. Dort sitzt der stärkste Spieler einer Mannschaft. Erneut erhielt der zwölf Jahre alte Junge die Chance, seine erste Großmeisternorm zu erringen.
Leider erkrankte Magnus direkt vor dem Turnier an einem Magenvirus. In Budva waren mehrere Spieler krank gewesen und hatten Magnus angesteckt. Während der gesamten Reise hatte er schlapp und kränklich hinten im »Kasten« gelegen. Als die Familie Carlsen auf Kreta ankam, war noch keine wesentliche Besserung eingetreten, »doch ich hatte mich so darauf gefreut zu spielen. Ich glaube, dadurch wurde ich gesund«, so Magnus.
Die besten Schachspieler der Welt waren versammelt, und Magnus holte 3,5 von 7 Punkten. Eine durchaus imponierende Leistung, wenn man bedenkt, dass er zu Beginn des Turniers noch krank war. Für eine GM-Norm reichte das Ergebnis allerdings nicht.
Das nächste Ziel war die Junioren-Weltmeisterschaft. Von den historischen Stätten auf Kreta ging es an den nächsten Urlaubsort, auf die griechische Halbinsel Chalkidiki. Auf dem Weg dorthin machte die Familie einen Abstecher zum Olymp, dem Berg der Götter, und besichtigte in Athen natürlich die Akropolis. Auf diesem Teil der Reise hatten die Multiplikationstabellen auf dem wöchentlichen Schulplan gestanden. Magnus und seine große Schwester Ellen waren ausgezeichnet im Kopfrechnen.
Rund zweitausend Schachspieler sowie Eltern und Organisatoren der Reisegruppen hatten sich in dem kleinen Dorf Kallithea versammelt, darunter eine große norwegische Schachdelegation mit fast zwanzig Personen. Außerdem hatten Henrik Carlsens Eltern beschlossen, ihren Urlaub in Kallithea zu verbringen.
Für Magnus ging es wieder um eine Medaille. Aus seiner Sicht hatte er sich bei der Europameisterschaft blamiert und sann auf Revanche. Das Turnier begann gut, doch dann wurde Magnus erneut krank. Das Turnier endete für ihn mit einem enttäuschenden neunten Platz.
»Eine Weile überlegte ich, ob das Programm nicht doch zu hart für Magnus war. Nach seinem Ergebnis bei der Weltmeisterschaft machte ich mir Sorgen, doch als Magnus nach seiner Krankheit wieder zu Kräften gekommen war, gab es keinen Zweifel, dass wir ihn weiterhin Turniere spielen lassen würden«, berichtet Henrik Carlsen.
Bei Turnieren, an denen die besten Jugendspieler teilnehmen, spielt das Rating keine so entscheidende Rolle. Dennoch haben viele Spieler großen Respekt, wenn sie bei normalen Turnieren auf jüngere Talente treffen, die sich mit aller Macht im Rating verbessern wollen. Und das nicht ohne Grund. Die zehn, zwanzig besten Spieler einer Junioren-Weltmeisterschaft strotzen normalerweise vor Selbstvertrauen und Dynamik; die meisten glauben, sie können Weltmeister werden.
In den traditionsreichen Schachnationen wie Russland und der Ukraine ist es üblich, dass die besten Spieler eigene Sekundanten haben, was ihnen einen großen Vorteil verschafft. Die Sekundanten analysieren vorher die Partien des Gegners, um Informationen über dessen Spielanlage zu bekommen, und legen ihrem Spieler einen entsprechenden Plan für die jeweilige Partie zurecht. Magnus Carlsen hatte keine Sekundanten, bevor er sich der Weltspitze näherte.
Trotz seines schwachen Resultats bei der Junioren-Weltmeisterschaft hatten einige Beobachter bemerkt, wie stark der Norweger in einzelnen Partien spielte. Herausragend war seine Partie gegen seinen Landsmann Hammer, die er mit einem spektakulären Opfer für sich entschied. »Nach der Junioren-Weltmeisterschaft hatte ich das eindeutige Gefühl, dass ich trotz des schlechten Ergebnisses mit einigen Partien sehr zufrieden sein konnte. Vor allem die erste Runde gegen Jon Ludvig Hammer, in der ich die Dame opferte, um ihn direkt danach mattzusetzen, gefiel mir gut«, erinnert sich Magnus.
Das nächste Reiseziel der Familie gilt als eines der schönsten der Welt. Direkt am Fuß des Vulkans Ätna liegt das pittoreske Taormina auf Sizilien. Henrik Carlsen schlug seinem Sohn vor, in den ersten Partien des Turniers jeweils Remis anzustreben, weil er noch immer ein wenig kränkelte. Doch Magnus folgte dem Rat seines Vaters nicht. Die erste Partie ging er offensiv an und musste bereits nach siebenundzwanzig Zügen aufgeben. Seine Chance, sich eine GM-Norm zu sichern, war damit erheblich kleiner geworden. Da die Voraussetzung für eine Norm 7 aus 9 war, musste er in den letzten acht Runden 7 Punkte erzielen, was vollkommen unrealistisch war. Unterm Strich endete das Turnier mit einer soliden Leistung und insgesamt 5,5 Punkten. Seine wiederholt erfolglosen Versuche, eine GM-Norm zu erringen, zeigen auch, wie groß der Unterschied zwischen dem IM- und dem GM-Titel ist. Magnus wollte diesen Titel in der kürzestmöglichen Zeit, am liebsten innerhalb eines Jahres erringen. Damit wäre er der weltweit jüngste Großmeister aller Zeiten gewesen.
Es wurde Dezember. Natürlich war es für alle Mitglieder der Familie Carlsen ungewohnt, mehrere Monate am Stück im Auto zu leben. Viel Zeit verbrachten sie damit, von einem Ort zum anderen zu fahren. Das Waschen der Kleidung war auch nicht immer einfach, dasselbe galt für den Einkauf von Lebensmitteln und das Zubereiten der Mahlzeiten. Alle waren sich aber einig, dass dies zu dem großen Plan gehörte, Magnus’ Entwicklung zu einem besseren Schachspieler zu fördern.
»Wir hatten keine besonders große Sehnsucht nach der Schule, aber wir vermissten unsere ganzen Freunde, besonders unsere kleine Schwester Signe«, erzählt Magnus’ ältere Schwester Ellen. »Trotzdem hielten wir zusammen, und im Nachhinein gibt es gar keinen Zweifel, dass es ein positives halbes Jahr war. Ich glaube, auch Magnus hat davon profitiert. Sein Verhältnis zu seiner Familie wurde noch enger, und dies gab ihm eine Sicherheit, die einfach von großem Nutzen war.«
Sigrun Carlsen, seine Mutter, hatte ein eher zwiespältiges Verhältnis zum Schach: »Bei einigen Turnieren sieht es so aus, als würde er so sehr leiden, dass ich ihn am liebsten in den Arm nehmen und nach Hause bringen würde. Zum Glück bekomme ich ständig zu hören, dass er das Schachspielen liebt, das hilft mir ein wenig.« In dem halben Jahr auf Reisen übernahm Sigrun Carlsen weitgehend die Aufgabe einer Lehrerin ihrer vier Kinder.
Nach einigen Monaten, in denen es auch im Süden Europas kühler wurde, bekam die ganze Familie Heimweh. Sie wollten Weihnachten zu Hause verbringen. Magnus’ dreizehnter Geburtstag wurde in Rom gefeiert, sie besuchten den Vatikan und das Kolosseum. Wenig später zeigte die Kompassnadel nach Norden. Der »Kasten« war bereit für eine lange Reise über Florenz nach Ungarn. In Budapest fand Mitte Dezember noch ein großes Schachturnier statt, an dem Henrik, Ellen und Magnus Carlsen teilnahmen. Magnus spielte ein gutes Turnier, verfehlte aber einmal mehr die Großmeisternorm.
Am 20. Dezember fuhren sie weiter Richtung Norden. Einen Tag vor Heiligabend saß Magnus mit seinem Schachtrainer Simen Agdestein zusammen und analysierte Partien. Sie kamen zu keinem Ende, und Magnus fragte, ob sie morgen weitermachen könnten. »Aber morgen ist doch Heiligabend«, erwiderte Agdestein.
Seit er anfing Schach zu spielen, hatte Magnus Carlsen fünf Trainer. Bjarte Leer-Salvesen war sein Lehrer im Freizeitangebot der Grundschule, Torbjørn Ringdal Hansen half ihm, sich von 900 auf 1900 Ratingpunkte zu verbessern, ein Sprung, für den der Junge lediglich ein Jahr brauchte. Magnus kam schachlich aus dem Nichts und spielte nun regelmäßig mit Erwachsenen, die seit zwanzig, dreißig Jahren vor dem Brett saßen. Im Alter von zehn Jahren wurde Simen Agdestein sein fester Trainer und arbeitete mit ihm zusammen, bis Magnus als Dreizehnjähriger zum zweitjüngsten Großmeister der Welt ernannt wurde. Eine hervorragende Entwicklung. Von da an unterrichtete ihn der damals beste Schachspieler Skandinaviens, der Däne Peter Heine Nielsen. Trainer zählen, so Henrik Carlsen, zu den wichtigsten Bausteinen auf dem Weg an die Weltspitze: »Alle Trainer waren für Magnus sehr wichtig. Sie spielten in den unterschiedlichen Phasen seiner Entwicklung eine einzigartige Rolle.«
Als Magnus acht Jahre alt war, trat er dem Schachklub der Gemeinde Bærum bei. Auch hier leitete Bjarte Leer-Salvesen das Training, den Magnus bereits aus der Grundschule kannte. Leer-Salvesen studierte damals Theologie an der Universität von Oslo und arbeitete nach Abschluss seines Studiums als Pastor. In seiner Gruppe waren rund zwanzig Kinder. Er erzählt: »Bereits nach ein paar Wochen merkte ich, dass Magnus besonderes Talent für das Schachspiel hatte. Er war schon nach sehr kurzer Zeit viel besser als alle anderen.«
Ein Jahr später spielte Magnus bereits sehr gut, und Torbjørn Ringdal Hansen übernahm die Trainingsverantwortung. Kurz zuvor hatte Leer-Salvesen beim Simultanschach gegen seinen Schüler gewonnen, als Magnus einer von fünfundzwanzig Spielern war, die gegen den Theologiestudenten antraten. Leer-Salvesen ist damit einer der wenigen Spieler auf der Welt, der Magnus im Simultanschach geschlagen hat, wenn Magnus zu den Herausforderern gehörte.
Dem norwegischen Schachgroßmeister Simen Agdestein war das Talent des Neunjährigen ebenfalls aufgefallen. Er schlug vor, dass Magnus bei Torbjørn Ringdal Hansen lernen sollte. Gleich zu Beginn des Unterrichts bemerkte Ringdal Hansen, dass der Junge etwas Besonderes hatte: »Es war völlig unglaublich, wie er sich an alles erinnerte, was ich ihm einmal erklärt hatte.«
Als Neunjähriger hatte Magnus ein Rating von ungefähr 900 und träumte davon, über 1000 Punkte zu kommen. Ein Jahr später stand er bereits bei einer Elo von 1900. Eine enorme Steigerung in so kurzer Zeit. Ringdal Hansen erklärte Simen Agdestein, dass nun er das Training übernehmen müsse. Magnus war zu gut für seinen Lehrer geworden!
Die Gemeinsamkeit aller fünf Trainer ist, dass ihre Spielstärke im Verhältnis zu ihrem Schüler besonders hoch war. Bjarte Leer-Salvesen hatte zu der Zeit, als Magnus mit dem Schachspielen anfing, annähernd 2300 Elo-Punkte. Zu dieser Zeit wurde Leer-Salvesen auch Internationaler Meister.
Torbjørn Ringdal Hansen hatte sogar noch einige Ratingpunkte mehr, als er die Verantwortung übernahm; er sollte Magnus’ erster richtiger Trainer werden.
Es kommt in Norwegen ausgesprochen selten vor, dass junge Schachspieler so gute Trainer haben wie Magnus Carlsen. In Russland ist es normal, dass Kinder mit dem Vater, einem Onkel oder einem anderen Verwandten trainieren. Das mag im ersten Moment vielleicht ein wenig amateurhaft klingen, doch sehr viele dieser Trainer sind ausgesprochen gute Schachlehrer und befinden sich oft auf einem hohen Niveau wie Leer-Salvesen und Ringdal Hansen.
Als Simen Agdestein und später Peter Heine Nielsen und Garri Kasparow die Verantwortung für das Training übernommen hatten, arbeitete Magnus Carlsen mit Kapazitäten zusammen, die der Weltelite angehörten. Kasparow war fünfzehn Jahre Weltmeister, Peter Heine Nielsen und Simen Agdestein zählten in ihrer besten Zeit zur erweiterten Weltspitze.
Man weiß von anderen Sportarten, dass diejenigen, die mit guten Sportlern trainieren, oft selbst gute Sportler werden. Ohne Zweifel ist dies auch bei Magnus Carlsen der Fall.
Der Sieger Simen Agdestein
Der 1967 geborene Simen Agdestein ist ein außerordentliches Sporttalent. Als Zwölfjähriger gehörte er zu den besten 800-Meter-Läu-fern Norwegens. Gleichzeitig war er ein ausgezeichneter Skiläufer. Mit elf Jahren begann er ernsthaft, Schach zu spielen, und als Sechzehnjähriger gewann er bei einem Turnier im norwegischen Gjøvik gegen Exweltmeister Boris Spasski. Eine Sensation. Der Junge hatte unerklärliche Fähigkeiten. Mit achtzehn Jahren errang er als damals jüngster Spieler der Welt den Großmeistertitel.10 Bei der Weltmeisterschaft der Junioren erreichte er den zweiten Platz, doch damit nicht genug: Simen Agdestein war der einzige Schachspieler mit Weltklasseniveau, der auch in einer Fußballnationalmannschaft spielte. Leider bekam er Knieprobleme und musste sich einer Operation unterziehen. Die Operation misslang, und Simen Agdestein musste im Alter von zweiundzwanzig Jahren seine Fußballkarriere beenden.
Die meisten Beobachter waren der Ansicht, er würde nun ein noch besserer Schachspieler werden, da er mehr Zeit hätte, sich darauf zu konzentrieren. Doch nach der missglückten Operation begann für Simen Agdestein eine traumatische Phase seines Lebens, er bekam Atemprobleme und war anderthalb Jahre krankgeschrieben. »Diese Zeit war ein gelebter Albtraum«, sagt er. »Ich verstand nicht, was mit mir passierte. Ich musste mich zusammenreißen, um wieder auf die Beine zu kommen, aber im Grunde fühle ich mich seit damals nicht mehr richtig gesund.«
Die große Frage für Simen Agdestein lautete nicht, ob er Fußball oder Schach spielen konnte. Für ihn ging es in erster Linie darum, gesund zu werden. Er fing wieder an, Schach zu spielen, aber er erreichte nicht mehr die Form wie vor der Operation; und es dauerte mehrere Jahre, bis er das Gefühl hatte, wieder auf hohem Niveau Schach spielen zu können. Als Fußball-Nationalspieler und einer der weltbesten Schachspieler war Simen Agdestein in Norwegen unglaublich populär. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein ganzer Haufen Jugendlicher Schlange stand, um ein Autogramm von ihm zu bekommen. Nach seiner Fußballkarriere gelang es ihm jedoch nicht, sein hohes Rating als einer der besten Schachspieler der Welt zu halten. Als Schachlehrer und Organisator machte er aber weiterhin auf sich aufmerksam. Und zweifellos waren seine Lehrmethoden sehr gut für Magnus: »Mir war wichtig, dass ich in Magnus nichts zerstöre, sondern das Talent zur Blüte bringe.«
Im Gegensatz zu den strengen und detaillierten Unterrichtsmodellen, die man von osteuropäischen Schachschulen kennt, ging es bei Agdestein eher lustbetont zu. Spaß zu haben war das Wichtigste. Diese Trainingsform ist umstritten, aber für Magnus war sie perfekt.
»Viele Trainingseinheiten waren kaum vorbereitet, aber ich hatte eine Vision und einen Plan, wie ich ihn zum weltbesten Schachspieler mache«, sagt Simen Agdestein. Diese spielerische, spontane und lebenslustige Trainingsmethode war einzigartig. Trotzdem musste Magnus wie alle anderen Schachspieler auf dem NTG (Norges Toppidrettsgymnas), dem führenden Sportgymnasium Norwegens, ein Programm absolvieren, in dem ihm auch Kenntnisse der Schachtheorie beigebracht wurden. Nach seiner Grundschulzeit ging Magnus auf das NTG in Oslo, dort hatte Simen Agdestein den Schachzweig eingeführt und unterrichtete auch selbst.
Im Mai 2014 gelang ihm bei dem stark besetzten Norway-Chess-Turnier in Stavanger ein Comeback. Dort trat er gegen neun Spieler der Weltelite an. Es gab eine Reihe skeptischer Stimmen wegen seiner Teilnahme, viele meinten, der Unterschied zwischen der Weltspitze und einem längst abgetretenen Schachspieler, der nicht einmal mehr zu den hundertfünfzig weltbesten Spielern gehörte, sei zu groß. Vor der Teilnahme musste sich Simen Agdestein gegen Norwegens zweitbesten Spieler, Jon Ludvig Hammer, qualifizieren. Agdestein gewann. Dennoch hatte auch er Zweifel an der Richtigkeit seiner Teilnahme: »Es wäre normal gewesen, Jon Ludvig einzuladen. Er spielt wirklich professionell und engagiert Schach. Aber dann kam ich auf die Idee, ein kleines Comeback zu versuchen. Den Glauben an die eigenen Fähigkeiten hatte ich nie verloren, und ich hatte auch keine Angst, gegen die anderen anzutreten. Kurz vor Beginn des Turniers fand ich dann mit GM Jewgeni Romanow einen ausgezeichneten Sekundanten, mit dem die Zusammenarbeit gut funktionierte.«
Mit seinem russischen Sekundanten überraschte er alle – nur nicht sich selbst. Judit Polgár, die weltbeste Spielerin, reagierte so: »Simen Agdesteins Partien und seine Ergebnisse in Stavanger waren fast unglaublich.« Romanow, der damals halb so alt war wie sein Schützling, war ebenfalls beeindruckt: »Simen liebt Schach. Das war der Hauptgrund, warum er so gut spielte.«
Simen Agdestein, der sich über zwanzig Jahre lang nicht mehr mit der Weltelite gemessen hatte, war mit den anderen auf Augenhöhe. Er erreichte in neun Runden 3,5 Punkte; in einigen Partien hätte er mehr als ein Remis erreichen können, ja müssen, allerdings übersah er einige recht einfache Gewinnzüge. Kurz vor Schluss lag er auf einem ausgezeichneten Platz im Mittelfeld, da er aber in den letzten beiden Runden leer ausging, landete er in der Schlusstabelle ganz unten. Exweltmeister Vishy Anand, der als einziger Top-Spieler nicht an dem Turnier teilgenommen hatte, war ebenfalls überrascht. »Große Leistung von Simen«, kommentierte der ehemalige Weltmeister.
Dank guter Vorbereitung kam Simen oft besser aus der Eröffnung als seine Gegner. Mit Hilfe seines Sekundanten, der rund um die Uhr für ihn arbeitete, erspielte er sich aussichtsreiche Stellungen. Nach den ersten zehn, fünfzehn Zügen war Agdestein klar, dass er den Vergleich mit den Weltstars nicht scheuen musste. Mit großem Vertrauen in die eigenen Kräfte und seine überragenden Rechenfähigkeiten war Simen Agdestein nahe dran, für eine kleine Schachsensation zu sorgen. Allerdings gelingen Sensationen in der Realität eher selten. Dennoch bestand kein Zweifel, dass Simen Agdestein noch immer auf Weltklasseniveau spielen konnte.
Einige Monate später trat er für den Osloer Schachklub Oslo Schachselskap beim Europacup der Vereinsmannschaften in Bilbao an. Dort gewann er gegen den Bulgaren Wesselin Topalow, der zu diesem Zeitpunkt auf Platz 3 der Weltrangliste geführt wurde.
Ist Spielstärke altersabhängig?
Ein Comeback als Siebenundvierzigjähriger auf dem Fußballplatz, auf Skiern oder in der Leichtathletik ist unmöglich. Schach ist daher etwas Besonderes. Simen Agdesteins Karriere beweist zwei Dinge. Zum einen ist es möglich, sich auch mit siebenundvierzig Jahren noch mit der Weltelite zu messen. Und zum anderen ist ein Comeback auch dann denkbar, wenn man fast zwanzig Jahre nicht mehr auf höchstem Niveau gespielt hat. Als Schachlehrer und Leiter der Schachklasse auf dem Sportgymnasium NTG stand er natürlich im täglichen Training, dennoch ist es erstaunlich, dass er sich der Weltelite als ebenbürtiger Gegner erwies.
Als Vishy Anand in Chennai den Weltmeistertitel verteidigen musste beziehungsweise in Sotschi versuchte, ihn zurückzugewinnen, waren die meisten Beobachter der Meinung, dass Magnus Carlsen wegen seines deutlich niedrigeren Alters klar im Vorteil wäre. Ist jemand jedoch in einer so guten physischen Verfassung wie Anand, ist es keineswegs sicher, dass das Alter von so großer Bedeutung ist. Die meisten Schachweltmeister waren relativ jung, doch es gibt genügend Beispiele von Spielern, die auch noch im Alter zur Weltelite gehörten.
Aus der jüngeren Vergangenheit sind Wassili Smyslow und Viktor Kortschnoi zwei gute Beispiele. Mit dreiundsechzig Jahren gelang es Smyslow 1984, bis ins Finale des Kandidatenturniers vorzudringen, dann jedoch verlor er mit 4,5:8,5 gegen Kasparow. Der russische Autor, Psychologe und Schachspieler, GM Nikolai Krogius, untersuchte zweiunddreißig Spieler der Weltspitze aus dem Zeitraum von 1881 bis 1967. Er fand heraus, dass ein Schachspieler durchschnittlich im Alter von fünfunddreißig Jahren die besten Resultate erzielt. Mit siebenundvierzig Jahren kommt es bei den meisten Spielern zu deutlich schwächeren Ergebnissen. Laut Krogius war es durchaus möglich, die Weltspitze zu erreichen, auch wenn man nicht schon in sehr jungen Jahren mit dem Schach angefangen hatte.
Er verwies auf eine Gruppe von zehn Spitzenspielern, darunter die Weltmeister Lasker und Botwinnik. Im Durchschnitt begannen sie mit 14,3 Jahren Schach zu spielen. Der russische Schachmeister Michail Tschigorin begann mit sechzehn Jahren, Lasker und Botwinnik waren zwölf Jahre alt.
In einer anderen Gruppe von zehn Topspielern, in der weitere Weltmeister vertreten waren, lag das durchschnittliche Einstiegsalter bei sechs Jahren und vier Monaten. Hier findet man Nimzowitsch, der mit acht Jahren begann, Capablanca, der vier Jahre alt war; Aljechin begann mit sieben und Euwe mit fünf Jahren. Bei Krogius’ Untersuchungen stellte sich heraus, dass die Schachkarriere von Spielern, die sehr früh angefangen hatten, länger dauerte.11
Diese Zahlen wären niedriger, würde man eine entsprechende Untersuchung mit aktiven Spielern von heute durchführen. Es besteht kein Zweifel, dass die aktuellen Spitzenspieler bei ihren Anfängen als Schachspieler im Durchschnitt jünger waren als ihre Vorgänger.
Die heutigen Vertreter der absoluten Weltspitze begannen fast alle, sehr früh Schach zu spielen, meist im Alter von fünf oder sechs Jahren. Heute ist es quasi undenkbar, dass jemand, der erst mit dreizehn oder vierzehn Jahren beginnt, noch die Weltspitze erreichen kann. Es ist wesentlich leichter geworden, Schachprogramme und wichtige Informationen über das Spiel zu bekommen. Daher ist die Möglichkeit, unter die zehn weltbesten Spieler zu kommen, verschwindend gering, wenn man zu spät beginnt. Und doch gibt es weit mehr Ausnahmen beim Schach als in den meisten anderen Sportarten.
Malysj
In den letzten vier Monaten des Jahres 2003 nahm Magnus Carlsen an sechs Turnieren teil und spielte dabei achtundfünfzig Partien. Er schätzte diesen Herbst so ein: »Es war eine schöne Zeit für die Familie, aber schachlich war ich nicht zufrieden. Durch die viele Fahrerei war alles ein wenig hektisch, und auf Reisen muss man immer damit rechnen, dass man krank wird, so wie ich. Das Programm war vielleicht ein bisschen zu hart.«
Das halbe Jahr, in dem die Familie unterwegs war, wird allen unvergesslich bleiben. Magnus’ ältere Schwester Ellen beschreibt die Reise zehn Jahre später wie ein Märchen.
»Es war einfach großartig, was die Familie zusammen unternommen hat. Der Zusammenhalt wuchs enorm, und falls ich eines Tages eine Familie haben sollte, werde ich bestimmt etwas Ähnliches machen. Obwohl es für Magnus auf dieser Reise vor allem darum ging, Schach zu spielen, glaube ich, dass der soziale Aspekt mit der Familie für ihn genauso wichtig war. Der Zusammenhalt und die Geborgenheit, die sich in der Familie entwickelten, haben ihm gutgetan.«
Obwohl Magnus Carlsen mit seinen Leistungen im Herbst 2003 nicht zufrieden war, hatte er sich als Schachspieler zweifellos weiterentwickelt. Einige seiner Partien hatten Aufsehen erregt. Einer derjenigen, die auf ihn aufmerksam wurden, war Dirk Jan ten Geuzendam, Redakteur der renommierten Schachzeitschrift New in Chess. Ten Geuzendam hatte die Partien nachgespielt, die Magnus auf Kreta gespielt hatte, und war beeindruckt. Als Simen Agdestein anrief und ihm erklärte, dass der Junge Mitte Januar 2004 unbedingt am prestigeträchtigen »Corus-Turnier« im niederländischen Wijk aan Zee teilnehmen müsse, war ten Geuzendam skeptisch, sorgte aber dafür, dass er eingeladen wurde.