- -
- 100%
- +
„Das ist ja grausig!“, rief da der kleine Idan.
„I wo“, erwiderte Äffchen, „es ist ja nur halb so schlimm! Zwar riechen die Pessianischen Weltmeere nicht besonders gut und es empfiehlt sich auch nicht, an ihren Stränden zu baden, zumal der Sand dort aus winzigen Windrütchen besteht, die nur darauf warten, die Badegäste mit einem dicken Kokon zu überziehen, während sie sich sonnen. Und so ist es nicht wenigen unserer Vorfahren während ihres Sommerurlaubes auf Pessian ergangen. Das war zu einer Zeit, als es noch eine Wissenschaft von der Raumfahrt gegeben hat. Aber ich habe dir die Hauptsache, nämlich die wundersame Schönheit des Planetenmondes Pessian, noch gar nicht erzählt. Es muss ja wohl auch einen Grund gehabt haben, dass es dazumal so viele Feriengäste nach Pessian gezogen hat und dass sogar mein Vorfahr, der hundertvierundvierzigmal Urgroßaff, der als ein rechter Pingelfritze bekannt war, die klare, frische Luft auf Pessian in seiner Chronik lobend erwähnt. Tatsächlich soll dort im Allgemeinen das herrlichste Wetter herrschen und zu gewissen Jahreszeiten pflegen sich die Kontinente des Planeten mit den kunstreichsten, wunderbarsten und farbenprächtigsten Burgen und Türmchen zu überziehen, in denen sich vor Jahrtausenden zahllose Feriengäste während ihres Sommerurlaubes durchaus heimisch fühlen konnten. Sie sonnten sich inmitten von skurrilen Gebäuden, Kapellchen und beweglichen Kathedralen, die sich durch das Ineinanderflechten von Billionen jener windrutenartigen Gliedertierchen wie von selber bildeten. Es war das reinste Ferienparadies.“
„Und die Pessianer haben den Wesen unserer Welt von Plédos nichts getan?“, fragte zögernd der kleine Idan, und sein Gesicht begann sich aufzuhellen.
„Und ob sie denen was getan haben“, rief Äffchen, „und ob! Über sie hergefallen sind sie! Mit Haut und Haaren haben sie sie aufgefressen!“
„Au weh!“, ließ sich da der kleine Idan vernehmen.
„Der einzige Überlebende“, fuhr Äffchen fort, „war mein Vorfahr, der hundertvierundvierzigmal Urgroßaff, der später die uralte Chronik verfasst hat. Mit knapper Not gelang es ihm, über den Raumbruch – so nannte man damals die Methode der interplanetarischen Raumüberbrückung – nach Plédos zurückzukehren. Da er aber seine Pubertät schon hinter sich hatte und ein alter, dummer Aff geworden war, hat er die Reisetechnik vollständig vergessen und das Geheimnis der interplanetarischen Raumüberbrückung ist der Nachwelt nicht überliefert worden. Er war der Einzige, der das hätte tun können, denn sämtliche Wissenschaftler, die davon wussten, waren aus Neugier nach Pessian übergesiedelt, wo sie alle umgekommen sind. Und mein hundertvierundvierzigmal Urgroßaff war eben der letzte Überlebende dieser Wissenschaftler, deren Siedlung an jenem schicksalsschweren Sommernachmittag vor siebentausend Jahren von Pessianern überfallen wurde. Es war ein teuflisches, organisiertes Massaker, das allen Abkömmlingen unserer Welt auf Pessian den Garaus machen sollte. Nun waren ja die Plédo-Affen zumindest damals gewiss die klügsten Wesen auf unserer Welt, vorausgesetzt sie waren noch in jugendlichem Alter. Und mein hundertvierundvierzigmal Urgroßaff hatte das Pech, gerade die Geschlechtsreife erlangt zu haben. Das hat nämlich bei uns Affen mit besonderer Reife gar nichts zu tun, sondern ist die Ursache für allgemeine Verdummung. So war es wenigstens damals. Es ist in diesem Falle auch der Grund, warum seit siebentausend Jahren kein Bewohner unserer Welt mehr nach Pessian gelangt ist.
Kurze Zeit vor diesem schrecklichen Ereignis war übrigens schon eine ganze Schar von Plédo-Affen auf der Suche nach dem verborgenen Schatz im Tal des Todes spurlos verschwunden, alles Verwandte meines hundertvierundvierzigmal Urgroßaff. Das muss dem armen Manne einen zusätzlichen Schlag versetzt haben. So brachte er es auch am Ende nur noch zu Gestammel und tatsächlich bricht er gegen Schluss der Chronik in wildes Gegacker aus. Man hat die größte Mühe, etwas zu verstehen, und am Ende kann man nicht einmal die Schrift mehr lesen, da muss er völlig den Verstand verloren haben.
Mit dem Tal des Todes hat es nun etwas ganz Besonderes auf sich, wie aus der Chronik hervorgeht: Es liegt am Fuße des riesenhaften, finsteren Berges Krogull, der weit über die Atmosphäre des Planeten hinausreicht und alles ringsherum mit seinem tiefen, schwarzen Schatten ertränkt, und es ist gewiss der grauenvollste Ort auf Pessian. Da der Berg Krogull sich auf der Morgenseite des Tales befindet und so den Sonnenaufgang verdunkelt, kann man dort überhaupt nur am Nachmittag oder gegen Abend die Hand vor Augen sehen.
Dies ist das Tal, das dir kein Name nennt,
das finstre Tal, das keinen Morgen kennt!
So schrieb der hundertvierundvierzigmal Urgroßaff in seiner Chronik, während er heftig mit der geistigen Umnachtung seiner Spätpubertät zu ringen hatte. Wehmütig blickte er dem drohenden Verlust seiner Denkkraft entgegen und erinnerte sich dabei an die Finsternis des schrecklichen Todestals. Und weiter heißt es in dem Gedicht:
Doch wie der Abend auf den Morgen weist
und Morgensonnenlicht den Abend speist,
so leuchtet auch das Gute auf im Bösen
das finstre Tal vom Tode zu erlösen.
Das Böse muss aus gutem Grunde sein,
denn alles mündet in das Gute ein.
Es ist die Harmonie, die alles hält
und stützt, was lebt und atmet in der Welt.
Aus ihrer Wahrheit ist die Wirklichkeit,
mit Tod vermischt entsprang aus ihr die Zeit.
Das Böse stammt aus Falschem, ist nicht wahr,
hör, wie aus gutem Grund es trotzdem sich gebar:
Die Freiheit lag zugrunde allem Sein,
in Freiheit schloss das Böse selbst sich ein,
und hat, als drin der Urgrund ward entleert,
in einen finstren Kerker sich verkehrt.
Der Schatz des innern Grundes glüht im Tal,
glüht in der Nacht und leuchtet ihr zur Qual.
Das Tal des Todes muss er überwinden
und sich in hehrer Eintracht wieder finden.
Einst wird die Nacht aus diesem Tale schwinden,
und in der Morgenröte wird sich finden,
dass aller Welten Grund die Liebe heißt,
im Sieg erst ihre Gnade sich erweist.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte der kleine Idan.
„Ich auch nicht“, sagte Äffchen. „Weißt du, wenn die Affen noch ganz klein sind, dann liegt so etwas wie ein seltsames Leuchten in ihren Augen, das sich bald darauf verliert. Sie sehen aus, als stammten sie aus einer fernen, anderen Welt und seien gar nicht von Affen geboren. Später dann, in jugendlichem Alter, werden sie Erfinder, Wissenschaftler und Vielwisser, wie ich einer bin. Dann werden sie sentimentale Dichter, die Dinge schreiben, von denen wir Jungen kein Wort verstehen, dann denken sie nur noch ans Essen und Trinken und schließlich verblöden sie vollends. Weißt du, ich glaube, das hat nicht immer so sein müssen, ich meine, das mit dem Verblöden. Es muss etwas mit dem Tal des Todes zu tun haben. Hauptsache aber, dass in dem Gedicht vom Schatz des innersten Grundes die Rede ist. So wissen wir wenigstens, dass es ihn gibt und welche Kräfte er in sich trägt. Den wirren Rest der Dichtung kann man wohl vergessen. Es sind bestimmt die ersten Symptome der Geistesschwäche.“
„Merkwürdig kommt es mir aber doch vor“, sagte der kleine Idan. „Dass aller Welten Grund die Liebe heißt, im Sieg erst ihre Gnade sich erweist? Was soll das bedeuten?“
„Musst nicht alles so ernst nehmen, was der alte Wirrkopf aufgeschrieben hat“, meinte Äffchen. „Viel wichtiger ist, in welchem Verhältnis der Komponische Märchenwald zu diesem Tal des Todes auf Pessian steht. Als nämlich in Urzeiten unsere Welt sich spaltete und Pessian aus ihr herausgerissen wurde, da trennte sich auch der riesenhafte Berg Krogull von ihr ab und riss eine tiefe Wunde in unsere Welt. Diese planetarische Wunde aber ist keine andere als die tausend Kilometer tiefe Ganganjer-Schlucht vor unserem Wald. Und an derselben Stelle, wo auf Pessian das Tal des Todes liegt – zu Füßen des Berges Krogull – da entstand auf unserer Welt der Komponische Märchenwald. So ist Pessian tatsächlich der dunkle Spiegel unserer Welt von Plédos. Was bei uns tief ist, das ist dort hoch. Was bei uns hoch ist, das ist dort tief. Die ganze Oberfläche des Planetenmondes ist ein negativer Abdruck unserer Welt. Und es ist schon ein besonderes Geheimnis, dass gerade an der Stelle, wo auf Pessian das Tal des Todes liegt, bei uns der Komponische Märchenwald steht, der die größte Vielfalt der Lebensformen enthält. Wenn es uns also gelänge, nach Pessian zu reisen, könnten wir die Forschungen meines Urahnen fortführen. Wir könnten dann herausfinden, woher der Tod und das Böse kommen. Wir müssten dazu den Schatz des inneren Grundes heben. In der uralten Chronik befindet sich ein Lageplan.“
„Aber wie sollen wir dort hinkommen?“ fragte Idan.
„Nun, ich weiß nicht recht“, überlegte Äffchen. „Freilich ist die Methode des Raumbruchs nun seit Jahrtausenden verschollen, und niemandem ist es gelungen, sie wieder zu entdecken. Aber vielleicht gibt es andere Möglichkeiten. Einige davon habe ich mir schon durch den Kopf gehen lassen.“
„Woran hast du gedacht?“, fragte der kleine Idan.
„Nun, zum Beispiel habe ich mir überlegt, dass wir uns eine dieser Flugechsen einfangen könnten, nun, du weißt schon, eine von denen, wie sie regelmäßig über den Komponischen Märchenwald fliegen. Dann müssten wir dieser Flugechse natürlich einen Raumanzug verpassen. Über den Kopf käme ein großer ausgebuchteter Helm. Wir selbst müssten uns ebenfalls in Raumanzügen auf ihren Rücken setzen. Durch eine besondere Schaltung, die sich im Raumanzug der Flugechse befinden müsste, könnten wir dem Tier mit einer Nadel in den Rücken stechen. Die Flugechse würde dann vor Angst und Schmerz immer höher und höher fliegen und wenn sie seitlich ausweichen wollte, könnten wir per Knopfdruck unseren Wünschen Nachdruck verleihen. Wir würden sie also zwingen immer höher und höher zu fliegen und wenn sie die Anziehungskraft unserer Erde überwunden hätte, würde sie mit derselben Geschwindigkeit weitersegeln, mit der sie gestartet ist – bis nach Pessian.“
„Aber das ist Tierquälerei“, sagte der kleine Idan.
„Eben das dachte ich auch. Also vergiss es lieber!“
„Hast du noch eine andere Idee?“
„Nun ja – möglicherweise könnten wir eine große luftdichte Kapsel bauen, diese dann an einen großen, starken Baum hängen und die Kapsel mit starken Tauen nach unten ziehen, sodass sich der Baum zur Erde beugt. Dann schließen wir uns in der Kapsel ein, unsere Freunde kappen unten die Taue, während gleichzeitig mein Bruder oben die Taue zerschneidet, die die Kapsel mit dem Baum verbindet, und – lassen die Kapsel schnalzen.“
„Glaubst du, dass so etwas funktionieren kann?“
„Wenn der Baum groß und stark genug ist und die Geschwindigkeit, mit der die Kapsel geschnalzt wird, so hoch ist, dass sie die Anziehungskraft der Erde überwindet – dann vielleicht! Natürlich dürfen wir auch einen Fallschirm nicht vergessen, den wir allerdings erst auf Pessian einsetzen dürfen.“
„Aber wie sollen wir dann von Pessian wieder nach Hause zurückkommen?“, fragte Idan.
„Da hast du auch wieder recht. Also vergiss es lieber!“
„Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, meldete sich da eine Stimme. Äffchen und Idan blickten sich um. Es war Kuno Weißhaar.
„Soviel ich weiß, ist es noch vor wenigen hundert Jahren einigen Abenteurern gelungen, eine Reise nach Pessian zu unternehmen“, sagte er.
„So? Und wie?“, fragte Äffchen.
„Über den Turm von Gorkan.“
„Der große Himmelsturm von Gorkan, in Íoland? Aber der wurde vor dreitausend Jahren zerstört.“
„Ja, das sagt man, aber das ist ein Gerücht. Der Turm von Gorkan steht, das haben mir meine Verwandten bezeugt. Er ist im südlichen Urwald verborgen. Gorkan ist vor dreitausend Jahren zerstört worden, das ist wahr, aber der Turm ist erhalten geblieben. Er ist bis zum Blätterdach des Waldes von Schlingpflanzen umwachsen.“
„Aber wie kommt es, dass er nicht aus der Ferne oder von einem Flugzeug aus gesehen wird?“, fragte Äffchen.
„Das hängt damit zusammen“, erwiderte Kuno Weißhaar, „dass die Erbauer des Turmes diesen mit einer wetterfesten Tarnfarbe angestrichen haben. Es handelt sich um eine sogenannte Wechselfarbe, die die Eigenschaft besitzt, sich an die Farbe der Umgebung vollständig anzupassen, sodass der Turm nicht gesehen werden kann.“
„Das heißt, der Turm ist unsichtbar?“, fragte der kleine Idan.
„Gewissermaßen. Allerdings kann man nicht durch ihn hindurch sehen.“
„Und wie kommt es, dass noch kein Flugzeug mit ihm zusammengestoßen ist?“
„Der südliche Urwald von Íoland ist für den Flugverkehr gesperrt“, erwiderte Kuno Weißhaar. „Er war es schon immer, denn die Íoländer wollen ihren Urlaub in den Urwäldern ungestört verbringen. Sie verabscheuen fremde Geräusche, wie sie von Flugzeugen ausgelöst werden.“
„Wie war es möglich, dass der Turm damals nicht mit der Stadt zusammen zerstört worden ist?“, wunderte sich Äffchen.
„Du kennst doch die Geschichte! Als Gorkan von Feinden belagert wurde, wurden die Bewohner gezwungen, ihre Stadt zu zerstören bis auf den Turm. Den wollten die Feinde zu ihrem Zweck verwenden. Nun heißt es, die Einwohner Gorkans hätten auch den Turm zerstört, um zu verhindern, dass er in den Besitz der Feinde gerät. Das haben sie aber nicht, sondern sie haben ihn mit einem Material bestrichen, das die Farbe der Umgebung annimmt, bis in die Wolken hinauf. So konnte er von den Feinden nicht entdeckt werden und man hat ihnen gesagt, der Turm sei zerstört worden. Viele Einwohner von Gorkan sind in dem Turm den Feinden entkommen und wurden nicht mehr gesehen.“
„Und der Turm von Gorkan ist tatsächlich hundertfünfzigtausend Kilometer hoch?“, fragte Äffchen.
„Hunderttausend Kilometer. Er ist hunderttausend Kilometer hoch!“
„Sehr schön! Und die restlichen fünfzigtausend Kilometer können wir dann wohl nach Pessian springen?“
„Du beliebst zu scherzen“, sagte Kuno Weißhaar. „Der Turm enthält einen Fahrstuhlschacht. In diesem können Fahrstühle auf eine so hohe Geschwindigkeit beschleunigt werden, dass sie aus der Spitze des Turmes nach Pessian abgeschossen werden können. Sie sind auch oben mit einem Fallschirm versehen.“
„Sehr schön. Was für ein Glück, dass Pessian eine Atmosphäre hat und der Fahrstuhl durch den Fallschirm gebremst werden kann. Aber – wenn wir schon mal dort sind – wie kommen wir wieder zurück?”
„Die Fahrstuhlkapsel enthält, soviel ich weiß, ein eigenes Triebwerk. Damit kann man zumindest bis zur Spitze des Turmes zurückfliegen.“
„Gut“, sagte Äffchen, „unter dieser Bedingung können wir es wagen. Die Frage ist jetzt nur noch: Wie kommen wir nach Íoland?“
„Auch das dürfte nicht weiter problematisch sein. Ich habe Beziehungen zu Kuno-Stämmen an der Küste, die ständig mit Seeleuten in Verbindung stehen. Diese Seeleute aus Íoland treiben Handel mit meinem Volk. Manchmal kommen auch Abenteurer nach Rüsselschwein, allerdings nur selten, sehr selten Touristen. Vielleicht haben wir Glück, und es schließen sich uns einige Abenteurer an. Für die Reise zur Küste könnte ich euch einige Reittiere zur Verfügung stellen.“
„Abgemacht“, sagte Äffchen. „Kommst du denn mit?“
„Was wird mir anderes übrig bleiben?“, erwiderte Kuno Weißhaar. „Ohne mich findet ihr nie den Turm von Gorkan.“
Die Expedition
Silena hatte ein Geheimnis. Ihre Geweihansätze leuchteten bei Nacht wie kleine Glühbirnen. Und es war nicht dieses Leuchten allein, ein Leuchten in vielen Farben, das die Bewohner des Märchenwaldes erfreute, die Geweihansätze sangen auch, während sie leuchteten. Sie klangen in verschiedenen Tönen, wie der Wind klingt, wenn er durch eine geheimnisvolle Kraft geformt wird. Es war dieses Singen, Klingen und Tönen, das die Bewohner des Märchenwaldes vermissten. Und sie waren sich einig: Hätten sie diese Geweihansätze zurück, so würde wieder Freude herrschen unter den Bewohnern des Märchenwaldes, wie zu der Zeit, da Silena noch lebte. Es gab noch andere Gründe, warum gefordert wurde, dass man eine Expedition in die Ganganjer-Schlucht unternehmen sollte: Der Körper Silenas sollte einer ehrenvollen Beerdigung zugeführt werden. Da seit der Gründung des Waldes vor hunderten Jahren wie durch ein Wunder keiner seiner Bewohner jemals gestorben war, als hätte die hohe Lebensdauer der beiden Riesen auch auf die Tiere abgefärbt, so wusste natürlich niemand, was eine Beerdigung war – bis zu dem Tag, an dem Silena zu Tode kam. Danach hatten die beiden Riesen den Tieren von dem Brauch der Begräbnisse erzählt und es bedauert, dass der Körper der armen Hirschkuh fern von ihren Angehörigen in der Ganganjer-Schlucht verschollen war, statt eine ehrenvolle Beerdigung zu erhalten. Die Tiere hatten den Riesen sofort geglaubt, dass es etwas Herrliches sein müsse, beerdigt zu werden, und forderten nun, Silena müsse geborgen werden. Die Riesen sollten sie ihnen holen. Idan und Oler aber verbaten dies streng. Eine Reise in die Ganganjer-Schlucht sei viel zu gefährlich. Selbst wenn es dem Abenteurer gelänge, all die Gefahren zu überwinden, die auf dem Weg nach unten auf ihn lauerten, so warte dennoch am Grunde der sichere Tod. Denn wie in den schwindelnden Höhen der Berge der Luftdruck stetig abnimmt und man den inneren Druck der eigenen Ohren spüre, so sei am Grunde dieser unbeschreiblich tiefen Schlucht der Luftdruck um ein Vielfaches höher. Kein Wesen aus der oberen Welt könne den Druck überleben. „Bedenkt“, sprach Oler zu den versammelten Tieren, „die Tiefe der Ganganjer-Schlucht übertrifft die Höhe der höchsten Berge um das Mehrhundertfache. Vergegenwärtigt euch, wie bereits auf einem Berg von siebentausend Metern Höhe die Ohren wehtun wegen des geringen Außendruckes. Bär Porbulo, der schon so manche Reise unternommen hat mit seinen Getreuen, kann euch ein Lied davon singen. Nun stellt euch vor, dass in demselben Maße, wie mit zunehmender Bergeshöhe der Luftdruck abnimmt, derselbe mit wachsender Tiefe steigt, so könnt ihr erkennen, welcher immense Druck den Abenteurer am Grunde der Schlucht erwartet.“
Die Tiere des Waldes bestaunten die Weisheit Olers und glaubten ihm. Sie fügten sich in ihr Schicksal, wohl niemals wieder in den Genuss der glühenden Geweihspitzen Silenas zu gelangen oder ihr ein Grabmal errichten zu können. Auch würde ja sicher Silenas Geweih nicht mehr leuchten, wenn sie nicht lebte, versicherte ihnen der Riese.
Erfinder-Äffchen aber war anderer Meinung. Es war zu der Erkenntnis gekommen, dass das Geweih Silenas durch einen chemischen Prozess leuchte und singe und dass es einen Weg geben müsse, diesen Prozess auch künstlich in Gang zu setzen, sobald die Überreste der Hirschkuh gefunden würden. Auch ging es davon aus, dass die Ganganjer-Schlucht nur einen schmalen Spalt ausmachen würde im Verhältnis zur übrigen Erdoberfläche. Das Luftmeer könne daher auf diesem nicht auf dieselbe Weise lasten wie auf der Erdoberfläche und es dringe nur ein geringfügiger Teil davon in die Schlucht, der entsprechend verdünnt werde. Diese Luftverdünnung werde wiederum ausgeglichen durch die zunehmende Schwerkraft. Es müsse also möglich sein, am Grunde der Schlucht ganz normal zu atmen und zu überleben. Äffchen hatte diesen Einwand vorgebracht, aber er war von den Riesen Idan und Oler nicht anerkannt worden. Darum hatte es beschlossen, das Unternehmen heimlich und auf eigene Faust zu planen.
Erfinder-Äffchen hatte heimlich zu einer Expedition in die Ganganjer-Schlucht aufgerufen. Es meldeten sich mehrere Freiwillige. Diese waren der kleine Idan, Kuno Weißhaar und sein Vetter Schwarzschopf und der große Bruder von Erfinder-Äffchen, den man unter dem Namen „Großer-Bruder-Affe“ kannte. Oler und der große Idan durften nichts davon erfahren, denn sie hätten gewiss sofort die Abenteurer an ihrem Unternehmen gehindert. Sämtliche Erkundigungen der Schlucht waren in der Vergangenheit daran gescheitert, dass die Wände zu glatt und zu steil waren. Und niemand kannte ein Seil, das lang genug gewesen wäre, um bis auf den Grund zu reichen. Darum hatte Erfinder-Äffchen anfangs an einen Heißluftballon gedacht, mit dem man hinunterschweben konnte. Aber dessen Herstellung wäre so aufwendig und der Ballon selbst so groß gewesen, dass es den Riesen sicher aufgefallen wäre. Darum hatte sich Erfinder-Äffchen ein neues Strickleitersystem ausgedacht. Dieses bestand aus einer langen ringförmigen Strickleiter, an deren beiden Polen sich künstliche Saugschrauben befanden. Was Saugschrauben waren, das wusste der kleine Idan anfangs auch noch nicht. Es handelte sich um wurmartige Tiere, die sich mit Hilfe extrem starker Saugnäpfe an glatten Wänden empor angeln konnten. Das Geheimnis, wie sich diese Saugnäpfe automatisch wieder lösen ließen, hatte Erfinder-Äffchen herausgefunden. Sie reagierten auf Spannung. Aber dieses Prinzip konnte im Falle der künstlichen Saugschrauben nicht angewandt werden. Erfinder-Äffchen hatte sich etwas anderes einfallen lassen. Es hatte nämlich eine kleine Klappe an der Oberfläche der großen künstlichen Saugnäpfe angebracht, die man öffnen konnte. Und wenn man sie öffnete, drang Luft in den Hohlraum zwischen Saugnapf und angesaugtem Gegenstand, es kam zu einem Druckausgleich und der Saugnapf sprang ab. Der Plan war nun folgender: Die Strickleiter sollte an ihrem oberen Pol mithilfe des Saugnapfes an der Wand des Abhangs befestigt werden. Dann würden die Expeditionsteilnehmer – zwei auf jeder Seite – an der ringförmigen Strickleiter herabsteigen und, unten angekommen, diese mithilfe ihres am unteren Pol angebrachten Saugnapfes an der Wand befestigen. Natürlich musste einer oben bleiben, der, nachdem die Strickleiter unten befestigt war, den oberen Saugnapf mithilfe der Klappe von der Wand lösen musste, und für diese Aufgabe hatte sich der Große-Bruder-Affe bereit erklärt, der sich durch besondere Geschicklichkeit im Klettern und Lianenschwingen auszeichnete. Nachdem er den oberen Saugnapf gelöst hatte, sollte er die Strickleiter an ihrem unteren Pol fassen und sich nach unten schwingen, während sich die anderen vier unten an der Strickleiter festhielten. Natürlich hätte ein solches Hinunterschwingen eigentlich zur Folge gehabt, dass der Große-Bruder-Affe unten mit voller Wucht an die Wand der Schlucht geprallt wäre. Um solches zu vermeiden, trug er an den Füßen große Sprungfedern, mit denen er gezielt auf der Felsenwand aufkommen musste und noch einige Zeit in Ruhe abfedern konnte. Natürlich wurden dadurch die vier anderen am unteren Pol der Strickleiter Hängenden ebenfalls erheblich erschüttert und mit dem Rücken gegen die Wand des Abhangs geschlagen, und um den Aufprall zu dämpfen, trugen sie ebenfalls Sprungfedern auf ihrem Rücken. Wenn sie abgefedert und zur Ruhe gekommen waren, sollten sie wieder – zwei auf jeder Seite – die Strickleiter hinunterklettern, um den einstigen oberen Saugnapf, der jetzt zu unterst hing, an der Felswand zu befestigten. Zur gleichen Zeit sollte der Große-Bruder-Affe nach oben klettern, um den oberen Saugnapf wieder zu lösen. Dieses Verfahren sollte solange wiederholt werden, bis sie unten angekommen waren. Und so wurde es auch gemacht. Da die Reise lange und beschwerlich werden würde und es nicht möglich war, so viele Lebensmittel mitzunehmen, hatte Erfinder-Äffchen ein kleines Gerät mitgenommen, das es „Rückwärtsgang“ nannte. Das war kein gewöhnlicher Rückwärtsgang wie bei einem Kraftfahrzeug – so dachte wenigstens Erfinder-Äffchen. Dieses Gerät sollte dazu dienen, die Zeit umzukehren, wie in einem Film. Erfinder-Äffchen hatte das Gerät aus dem Rückwärtsgang eines tatsächlichen ausrangierten Kraftfahrzeuges entwickelt, das die Kunos aus Gandovir, einer Touristenstadt an der Nordküste, herbeigeschleppt hatten. Es war ernsthaft der Auffassung, dass ein Vorgang, der für den Raum gelte, nämlich das Rückwärtsfahren, sich auch auf die Zeit anwenden lasse. Kuno Weißhaar und sein Vetter Schwarzschopf hatten dagegen eingewandt, dass man die Zeit nicht zurückdrehen könne. Dies sei deshalb nicht möglich, weil es nur Bewegungen, aber keine Zeit an sich gäbe, die man zurückdrehen könne. Aber Erfinder-Äffchen war anderer Ansicht. Wenn man in der Erinnerung zurückgehen könne, dann müsse man das auch in der Wirklichkeit können und dieses Zurückgehen in der Wirklichkeit sei ein Zurückgehen in der Zeit. Der kleine Idan wollte sich an solchen Diskussionen nicht beteiligen. Sie waren viel zu kompliziert für ihn. Jedenfalls hatte Erfinder-Äffchen seine eigene Meinung darüber, was Zeit war. Wenn man die Zeit zurückdrehen könne, so meinte es, dann müsse es möglich sein, einen Vorgang, der sonst Energie erfordere, auch ohne Zufuhr von Energie zu erzeugen. „Wenn ich ein Haus baue, stecke ich viel Energie hinein“, sagte Äffchen. „Wenn ich es zerstöre, brauche ich nur wenig Energie. Wenn ich es aber aus dem zerstörten Zustand wiederherstelle, indem ich die Zeit umkehre, brauche ich so gut wie keine Energie. Ich brauche also nur die Zeit umzukehren, die Träger der Bewegung ist, und schon hat sich die Sache!“ So argumentierte Äffchen.