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„Mein Gott! Ich kenne keinen Menschen, der tierlieb ist!“, sagte die weibliche Stimme. „Die fressen ja Tiere! Was für Barbaren!“
„Und habe ich es nicht gesagt? Er ist tatsächlich einer! Habt ihr gesehen: Als er hier auftauchte, hatte er eine Maske auf!“
„Wahrscheinlich, um seine Hässlichkeit zu bedecken!“, rief der zweite.
„Jedenfalls führt er etwas im Schilde“, mutmaßte der dritte. „Und jetzt fühlt er sich sicher. Er hat sich hingelegt. Auf die faule Haut seiner Übeltaten. Na, das wird wohl ein böses Erwachen!“
Als Idan die Augen öffnete, schrak er zusammen. Das hätte er nicht erwartet. Die vier Gestalten, die über ihm standen, waren abscheulich hässlich. Er hätte eigentlich viel eher schöne Gesichter erwartet, denn das wäre logisch gewesen, wenn sie das seine als hässlich empfanden. Aber ihr Begriff von Schönheit schien verkehrt zu sein. Ihre Köpfe waren struppig und die Gesichter schrecklich aufgedunsen, zäh und lederartig und ihre Zähne groß und abstoßend. Die Haut war graugelb bis graubraun und faltig wie Baumrinde und offenbar durfte man ihre Körperkräfte nicht unterschätzen.
„Er hat Angst vor uns, der Lump!“, krächzte das alte Weib und verpasste Idan eine pfeifende Ohrfeige. „Und dieses war nur der erste Streich!“
„Ja“, bestätigte ein anderer, der aussah, als sei er aus Wurzeln zusammengesetzt, mit der Stimme des ersten, der die anderen aufgehetzt hatte, und verabreichte dem Jungen einen klatschenden Hieb auf die andere Backe. „Ich wollte neue Tonaufnahmen machen vom Gesang der Hirschkuh. Wozu habe ich denn meine Tonträger mitgebracht? Ich bin Hobbyforscher und möchte Vergleiche anstellen, ob sich die wunderbaren Eigenschaften dieses Tieres ändern. Gestern habe ich Tonaufnahmen gemacht und heute wollte ich es wieder tun. Jedes Jahr reise ich extra hierher. Ohne die Hirschkuh ist doch mein ganzer Urlaub versaut! Wer weiß, wann sie wiederkommt!“
Die Wange des Jungen brannte. Sofort machte er sich auf seine Füße, raffte seinen Rucksack auf die Schultern und wollte davonrennen. Aber die Schreckensgestalten zupften ihn von hinten an seinen Kleidern und wollten ihn am Rucksack fassen und festhalten. Idan verhinderte dies, indem er einen Purzelbaum schlug. Als er wieder auf die Füße kam, waren ihm die schrecklichen Gestalten von Neuem dicht auf den Fersen. Das seltsame wurzelartige Wesen, dem die Stimme des Hetzers gehörte, fuhr ihm mit einem schwarzen Holzknüppel zwischen die Füße und versuchte ihm ein Bein zu stellen. Idan stolperte wieder zu Boden und raffte sich wieder auf. Dann duckte er sich vor ihren Griffen und lief davon. Die Feriengäste aber begannen mit Gegenständen nach ihm zu werfen. Sie holten sie aus ihren Rucksäcken. Es hagelte Messer, Gabeln, Feilen, Hammer und Meißel und nur wiederholtes, nicht zu früh ausgeführtes Ducken verhinderte Schlimmeres. Als den Unholden die Gegenstände ausgegangen waren, rissen sie sich ihre goldenen Knöpfe von den Strickjacken und schleuderten sie auf Idan. Manch einer traf ihn empfindlich, aber die Knöpfe waren zu klein, um größeren Schaden zu verursachen. Unter den Protestrufen der Schreckensgestalten bückte sich Idan bei jedem Wurf, dem er zu entgehen trachtete, sammelte die schon gefallenen Knöpfe auf und steckte sie in seinen Rucksack. Der Wurzelsepp drohte mit seinem Prügel, den er dann endlich auch schleuderte. Er verfehlte Idan nur knapp am Kopf. Der Wurzelsepp heulte vor Wut. Goldene Knöpfe hatte er keine mehr. Schließlich kramte er einige silberne Scheiben aus seinem Rucksack hervor und schleuderte sie – eine nach der anderen – nach dem Jungen. Die Scheiben zischten wie scharfe, sich drehende Wurfgeschosse durch die Luft. Sie verfehlten ihn um Weniges. Idan sammelte sie alle und verstaute sie im Rucksack. Mittlerweile hatte sich der Junge hinter das Geröll am Kraterrand zurückgezogen und hatte die Krateröffnung erreicht. In namenloser Wut sprang ihm der Wurzelsepp entgegen. Die alte Alraunenhexe machte ein Foto von ihm. „Nein, nein, nicht auflesen!“, schrie der Wurzelsepp. „Das gehört mir! Rück es heraus!“ Er wollte Idan, der zurückwich, mit seinen derben Klauen am Hals packen und der Junge stolperte nach hinten und verlor das Gleichgewicht. In diesem Augenblick kam Silena, die Hirschkuh, zurück. Ihr Ehemann war ein gewaltiger Hirschbock und süße, kleine Kinder folgten ihnen. „Halt! Halt! Aufhören! Was macht ihr da!“, rief Silena. Leider aber war der Wurzelsepp der Sprache der Tiere nicht mächtig. Nur wenige Sekunden ließ er von Idan ab, erstaunt über die vermeintliche Zutraulichkeit der wundervollen Tiere und diese mit seinen Kumpanen begaffend, gerade soviel Zeit, wie der Junge brauchte, um sich wieder aufzuraffen. Dann stürzte sich der Wurzelsepp erneut auf Idan.
„Meine Knöpfe! Meine Silberscheiben! Rück sie heraus! Sie gehören mir!“
„Herausrücken?“, rief Idan, mutiger geworden durch Silenas Gegenwart.
„Aber ich kann sie ja nicht aus meinem Rücken rücken, sie sind ja auf meinem Rücken, nicht in ihm!“ Durch solche Scherze glaubte Idan die Atmosphäre ein wenig aufzulockern. Er war überzeugt davon, dass sich das Missverständnis bald aufklären würde, jetzt, da Silena und ihre Familie anwesend waren. Doch leider war dem nicht so. Vielmehr hatte durch Idans Bemerkung der Wurzelsepp jede Beherrschung verloren und versetzte dem kleinen Idan einen solchen Fußtritt, dass er über den Kraterrand flog. Er war bloß froh, dass er sich zuvor satt gegessen hatte. Denn diesmal wusste er, welch lange Reise ihm bevorstand. Es braucht nicht nochmals geschildert zu werden, welche wundersamen Dinge dem kleinen Idan auf dieser Reise begegneten, denn er erlebte sie alle ein zweites Mal, nur diesmal in der umgekehrten Reihenfolge. Die roten Teufel, die ihn zuletzt nach oben hatten emporstreben sehen, sahen ihn nun aus seiner vermeintlichen Höhe fallen und machten vergrämte oder verächtliche Gesichter dazu, zogen Fratzen oder drückten ihre Verachtung durch das Herausspeien von Spucke aus. Leider aber traf ihn diese Spucke nicht, da sie ihm stets hinterher eilte und ihn nie einholte. Und so musste der kleine Idan wieder mindestens zwei Tage durstig sein. Manch einer der Teufelsburschen warf ihm auch einen Götzen aus gebranntem Ton hinterher, der genau die Züge Idans trug und ihnen nunmehr entthront dünkte. Nachdem der Junge den dunklen Hohlraum im Mittelpunkt der Erde passiert hatte, erwartete ihn ein besseres Schicksal. Die Teufel auf den Balustraden der anderen Höllenhälfte sahen den einst Gestürzten fliegen, huldigten ihm und schütteten Weihwasser aus. Da dieses ihm entgegenflog, so konnte er sich erfrischen und seinen Durst stillen. Die einstigen Spötter zollten ihm plötzlich Achtung. Die Nachricht vom Flug des göttlichen Jünglings verbreitete sich wie ein Lauffeuer, wahrscheinlich durch ein ausgeklügeltes Signalsystem. Und als Idan die oberen Stockwerke erreichte, präsentierten ihm die Kreaturen Götzenbilder, die ihm glichen, und verneigten sich vor ihm. In wenigen Stunden hatten die Teufel diese Figuren angefertigt. Wasserfontänen, die als eine besondere Form der Huldigung galten, trafen ihn von allen Seiten, sodass er nicht Durst litt.
Endlich hatte Idan den Schacht passiert und fiel in die freie Höhe hinauf, den Grund der Ganganjer-Schlucht hinter sich lassend. Er durfte nun hoffen, dass seine Reise ein glückliches Ende nehmen würde. Aber nirgends sah er seine Kameraden. Weder am Grunde der Ganganjer-Schlucht noch irgendwo an ihrer steilen Felsenwand waren sie anzutreffen. Idan strebte den Wolken entgegen. Dabei hatte er streng genommen nicht einmal die Erdoberfläche erreicht. Es dauerte noch einige Stunden, bis er am Rand der Schlucht angekommen war. Idan machte einen Purzelbaum nach vorn, um nicht in die Schlucht zurückzufallen, und überschlug sich im Gras. Dann raffte er sich auf und wanderte in den Komponischen Märchenwald zurück. Dort fand er alle Tiere versammelt in großer Trauer um seinen Verlust. Wie groß war da die Wiedersehensfreude! Erfinder-Äffchen hatte so manche Träne vergossen und alle Tiere des Waldes hatten ihm große Vorwürfe gemacht. Besonders die beiden Riesen hatten es hart getadelt. Sie waren untröstlich gewesen. Jetzt aber waren alle überglücklich. Als Erstes fragten sie ihn danach, ob er die Geweihspitzen der Hirschkuh mitgebracht habe. Als Idan verneinte, waren sie erst enttäuscht. Umso erfreuter zeigten sie sich aber, als er berichtete, dass Silena auf der anderen Seite der Erde in Glück und Frieden lebe. Sie fragten Idan, wo denn das sein könne. Aber dieser wusste es nicht zu sagen. Er zeigte ihnen aber die goldenen Knöpfe, die er aufgelesen hatte. Sie trugen unbekannte Ornamente. Aber auch Oler und der große Idan hatten als Schüler in Erdkunde nie so richtig aufgepasst und konnten nicht sagen, aus welchem Lande die goldenen Knöpfe stammten. Als der kleine Idan seinen Rucksack entleerte, fielen die silbernen Scheiben heraus. Und alle fragten, worum es sich dabei handle. Der kleine Idan konnte es nicht sagen. Aber die Riesen wussten Bescheid. „Das sind Ton erzeugende Scheiben“, sagte der große Idan. Wenn man sie mit dem Loch in der Mitte auf einen Stab setzt und sie zum Schwingen bringt, erzeugen sie Töne. Das wurde dann auch gemacht. Erfinder-Äffchen hatte in seinem Labor einen Stab, den es mithilfe einer Maschine drehen konnte. Und auf diesen Stab setzten sie die Scheiben. Da hörten sie die wunderbaren Lieder, die der Wind in dem Geweih Silenas gesungen hatte und alle Bewohner des Märchenwaldes waren mehr als genug entschädigt für den Verlust der sanften Hirschkuh.
„Jetzt möchte ich aber noch wissen, wie ihr es geschafft habt, von dem Felsenvorsprung aus wieder nach oben zu kommen“, sagte Idan zu Äffchen.
„Gewusst wie!“, erwiderte Äffchen stolz und reckte den Zeigefinger in die Höhe.
„Hast du die Zeit zurücklaufen lassen?“, fragte der kleine Idan.
„Nein, aber wir haben den beiden Riesenadlern, als sie in ihr Nest zurückkehrten und wir uns vor ihrem Angriff verteidigen mussten, die beiden Enden der Strickleiter mit den künstlichen Saugschrauben um die Hälse gelegt. Sie standen dabei so über ihrem Kopf, dass sie glaubten, echte Saugschrauben würden über ihnen davonfliegen. Und um sie zu erhaschen, jagten sie ihnen nach und nahmen die Strickleiter und uns, die wir daran hingen, mit nach oben.“
Da lachten alle und umarmten sich. Und sie durchlebten noch schöne Tage.
Sabut
Die geplante Reise zur Nordküste wurde zunächst aufgeschoben. Es gab wichtigere Dinge zu regeln. Erfinder-Äffchen musste sein Labor neu einrichten. Außerdem wusste es, dass sich die beiden Riesen Oler und Idan noch im Wald aufhielten und diese hätten sie niemals gehen lassen.
Eines Morgens rannte der kleine Idan aufgeregt im Wald umher.
„Heute hat Entchen Geburtstag! Ich muss ihm was schenken!“ Entchen war eine dicke, weißgrüne kleine Wildente.
Jetzt lief der kleine Idan auf Bär Porbulos Höhle zu – und mitten hinein. Bär Porbulo, der mit seinem stärksten Diener Barli-Bär und seinem Bruder Zotti-Momi noch im Halbschlaf lag, gähnte laut und fragte Idan nach dem Grund seines Kommens.
„Weißt du denn das nicht? Entchen hat doch Geburtstag. Du musst ihm etwas schenken!“
„Was ist denn das wieder für ein Quatsch, mit dem du mir da ankommst?“, brummte Bär Porbulo.
Idan erklärte alles, so gut er konnte. Es war nicht leicht, Bär Porbulo die Bedeutung von Geburtstagen zu erläutern. „Na schön“, brummte der schließlich. Er holte etwas Bräunliches aus seiner Höhle hervor und ging damit zu Entchen. Dort angekommen öffnete er seine Pfoten und man konnte etwas erkennen, das Idan und Entchen zunächst erschrecken ließ. Es war etwas Lebendiges, nur etwa einen halben Meter hoch, braun, hatte einen zottigen Kopf und links davon einen kleineren, kaum wahrnehmbaren zweiten. Auf beiden Köpfen befand sich jeweils ein Horn. Auf den Stirnen trug das Wesen ein großes Auge und an der Stelle, wo die Nase sitzen müsste, waren fünf Augen nebeneinander gereiht. Es hatte an den Händen, die unbehaart waren, zwei Greiffingerchen und an den Füßen zwei lange Zehen.
„Das ist ein Mammutfresser“, erzählte Bär Porbulo, „eines jener seltsamen Wesen, die am Südpol in einem riesigen Meer auf Eisschollen leben. Vor fünf Jahren kam ich dort einmal im Urlaub hin. Ich sah etwas Schreckliches: Die Wildhörner, die Eisenmenschen also, die mit Helm, zwei Hörnern und einem Federbusch geboren werden, kämpften gegen die Mammutfresser, um die wertvollen Eisenstoffe aus ihrem Blut zu gewinnen. Es war ein großes Gemetzel. Wie ein Ameisenschwarm stürzten sie sich auf die riesigen Mammutfresser. Ganz winzige Mammutfresserchen wurden von den Rabauken achtlos mit dem Fuß ins Wasser gestoßen. Eines davon fischte ich auf. Ich nahm es mit in den Komponischen Märchenwald. Da er mir zu klein erschien, nahm ich auch noch Mammutfleisch mit, damit ich ihn mästen und nachher verzehren könnte. Das Mammutfleisch habe ich in einem Kühlschrank gelagert, den mir Äffchen gebaut hat. Aber jetzt, nach fünf Jahren, ist er kaum so groß wie ein Biber geworden und immer noch zu klein! So kannst du ihn meinetwegen nun haben, Entchen. Die Vorräte an Mammutfleisch gehen sowieso bald zur Neige.“
Entchen nahm dankend das Geschenk an und versuchte, dem Menschentier ein paar Wörter beizubringen. Entchen war ein gelehriges Tier und hatte von den sprechenden Vögeln des Waldes, von den beiden Riesen und dem kleinen Idan schon manches Wort in menschlicher Sprache gelehrt bekommen, sodass es sich mithilfe dieser Worte notdürftig unerhalten konnte. Und schon betrachtete es sich als Lehrerin, und der kleine Mammutfresser war sein erster Schüler. Aber Sabut, so nannte Entchen den Mammutfresser, hatte wohl kein allzu großes Hirn. Statt „ja“ sagte er „kraa“, statt „nein“ sagte er „Schwein“. Sich selbst nannte er „Mammut“, und wenn er richtiges Mammutfleisch sah, piepste er: „Sabut!“ Entchen konnte leicht abschätzen, dass das Fleisch in wenigen Wochen verbraucht sein würde. Idan ging zu Erfinder-Äffchen und fragte um Rat. Äffchen ließ ihn in seine Werkstatt, kramte in allen Ecken und zog schließlich ein dickes Lexikon hervor. Es blätterte darin. „Marmor – Mammut – Mammutbaum – aha: Mammutfresser!“ Äffchen las vor. Es fiel ihm schwer, die Schrift auf den schon vor Alter vergilbten Seiten zu entziffern.
„‚Die Mammutfresser bewohnen das Heißmeer des Südpols. Auf dem Heißmeer treiben Eisschollen. Warum das so ist und warum die Eisschollen nicht schmelzen, hat bisher noch kein Forscher herausfinden können. Aber es ist so. Die Mammutfresser sind bei ihrer Geburt so groß wie ein Goldhamster und werden im ausgewachsenen Zustand dreihundert Meter hoch. Sie wachsen sehr langsam und werden mehrere tausend Jahre alt. Sie haben zwei Köpfe, von denen einer bei der Geburt schon ausgebildet ist. Der zweite Kopf ist zunächst noch verkümmert und holt im Laufe des Lebens das Wachstum des ersten Kopfes ein. Wenn der Mammutfresser erwachsen ist, sind beide Köpfe gleich groß. Insgesamt haben die Mammutfresser zwölf Augen, sechs davon auf jedem Kopf. Auch ihre Füße haben nur zwei große Zehen. Mammutfresser gehen aufrecht wie Menschen. Ihre Zähne sind scharf und in jedem Kiefer haben sie einen langen, spitzen Schneidezahn. Wie der Name sagt, ernähren sie sich von Mammuts, die sie mit ihren zangenartigen Greifhänden von den Eisschollen picken. Nach allem, was wir wissen, ist es das einzige Fleisch, das ihnen zusagt.‘ Da haben wir’s“, sagte Äffchen, „‚das einzige Fleisch, das ihnen zusagt‘. Das bedeutet, dass wir zu der Polgegend aufbrechen müssen, um den Kleinen mit Fleisch zu versorgen.“
„Ich sehe leider auch keine andere Möglichkeit“, meinte Bär Porbulo.
„Wie kommt man eigentlich zum Südpol?“, fragte der kleine Idan. „Wie bist du denn damals hingekommen?“, fragte er Bär Porbulo.
„Oh, das war eine sehr, sehr lange Wanderung“, erwiderte der Grizzly-Hauptmann. „Ich bin damals mit einer großen Karawane von Bären gereist. Alle meine Gefolgsleute sind mitgezogen. Im Süden haben sich uns die weißen Bären des Polareises angeschlossen. Du erinnerst dich doch sicher, kleiner Idan, dass ich jedes Jahr wenigstens einige Monate mit all meinen Volksgenossen unterwegs auf Wanderzügen bin. Das nennen wir Ferien. Solange du lebst und du dich hier auf diesem Kontinent Rüsselschwein befindest, muss dir das aufgefallen sein.“
„Ja, tatsächlich“, sagte der kleine Idan. „Ich erinnere mich. Das war, soweit ich mich entsinnen kann, bisher jedes Jahr so. Aber wie seid ihr denn über das Meer gekommen? Ihr habt doch keine Schiffe?“
„Mit einer Bärenfähre“, brummte der Hauptmann.
„Bärenfähre? Was ist denn das?“
„Es sind zahme Wale, die an der Südostküste angeschwommen kommen und bereit sind, jeden Bären in ihren Mäulern mitzunehmen, den sie sehen. Sie tun dies gerne und erwarten dafür ein gewisses Entgelt. Dieses besteht darin, dass wir den Walen die Zähne putzen. Du musst nämlich wissen, dass es sehr große Zähne sind. Viele enthalten Löcher, die im Verhältnis zur Größe der Rachen so klein sind, dass die Walzungen nicht in sie vordringen können und in diesen Löchern sammeln sich Speisereste. Auch zwischen den Zähnen bleibt so manches stecken und nur wir Bären mit unseren starken Tatzen sind in der Lage, all diese Speisereste in und zwischen ihren Zähnen zu entfernen. Ein Mensch wäre dazu wohl kaum in der Lage. Es fehlt ihm an Kraft und Geschick, und er müsste Instrumente mitbringen und anwenden, die von den Walen nicht gerne gesehen werden. Diese Wale misstrauen den Menschen. Wir Bären dagegen sind ihnen willkommen. Normalerweise transportieren uns die Wale nur bis zur Nachbarinsel, wo sie uns dann absetzen. Sie liegt nicht weit entfernt vom südwestlichen Zipfel von Rüsselschwein und heißt Waliland. Gegen ein gewisses zusätzliches Entgelt können wir die Wale aber dazu bringen, dass sie uns noch weiter tragen. Wir müssen ihnen nur versprechen in ihren Rachen während der Reise als Putzmänner zu dienen. Dann sind sie auch bereit, uns noch eine weitere Strecke des Weges mit sich zu führen. Wenn sie dazu keine Lust mehr haben, geben sie uns an andere Wale ab, die weiter nach Süden unterwegs sind. Wir springen dann willig von einem Rachen in den anderen. Und so tauschen wir unseren Träger solange, bis wir den Südpol erreicht haben. Diese Wale – wir nennen sie Bärenwale oder Bärenfähren – sind so groß, dass ganze Heere von Bären in ihren Rachen Platz haben.“
„Ist denn noch niemand von euch von ihnen verschluckt worden?“, fragte Idan und man merkte seiner Stimme an, dass er voller Angst und Sorge war.
„Allerdings noch niemand“, beruhigte Bär Porbulo den Jungen. „Wir Bären verstehen es schon, uns an den Zähnen, die wir gerade bearbeiten, festzuhalten, während der Wal eine mit Fischen gesättigte Ladung Wasser in seinen Rachen zieht. Vorher kündigen die Wale durch ein Warnsignal uns ihre Absichten an. Wie gesagt sind auch Scharen weißer Eisbären mit uns gezogen, die uns auf unserer Wanderschaft nach Südrüsselschwein begegnet sind. Einige stammten vom Südpol und befanden sich auf der Rückreise in ihre Heimat. Sie luden uns bei sich zu Hause ein und wir nahmen das Angebot gerne an. Nach nur zwei Wochen hatten wir bereits den Südpol erreicht. So kamen wir gerade rechtzeitig zu dem Massaker, das die Wildhörner unter den Mammutfressern angerichtet haben.“
„Aber wie kommt es, dass diese Wildhörner die lieben Mammutfresser getötet haben? Haben die Mammutfresser ihnen denn was getan? Wie kann man nur so böse sein?“
„Freilich haben ihnen die Mammutfresser nichts getan“, erwiderte der Grizzly. „Die armen Mammuts haben den Mammutfressern ja auch nichts getan! Und böse – böse sind die Menschen immer, mehr oder weniger zumindest. Wildhörner aber sind ganz einfach abenteuerlustig. Sie wollen ständig ihren Lebensraum erweitern, na ja, und es ist bekannt, dass sie keinen Respekt vor Menschen haben. Wie Erfinder-Äffchen mir erzählte, haben sie große Scherereien mit König Artobald, dem Herrscher von Südstiefelburg. Darum haben sie sich wohl auch in ihre lang gestreckten Burgen zurückgezogen. Sie sind menschenscheu und betrachten die Menschen als ihre Feinde. Möglicherweise hat sie der aufrechte Gang der Mammutfresser an Menschen erinnert. Im Allgemeinen sollen sie recht tierlieb sein!“
„Aber es sind doch selber Menschen“, wandte der kleine Idan ein.
„Würden sie wohl nicht von sich behaupten. Wir behaupten’s ja auch nicht von uns! Was ein Mensch ist und was nicht, unterliegt im Allgemeinen einer gewissen Definition.“
„Was ist eine Definition?“
„Eine Bestimmung. Man versteht darunter eine hervorragende Eigenschaft! Die Wildhörner können zum Beispiel riesige Sprünge machen, bis zu fünf Meter hoch. Welcher Mensch ist dazu in der Lage? Welcher Mensch hat Hörner? Welcher Mensch hat Zehen, die so eng beieinander liegen, wie die der Wildhörner, so eng, dass sie einen Rundfuß bilden? Welcher Mensch hat die Kraft eines Wildhorns?“
„Und doch sind es Menschen“, sagte der kleine Idan. „Sie denken wie Menschen und sind vernünftig.“
„Das bin ich auch“, mischte sich Erfinder-Äffchen ein, „und bin kein Mensch.“
„Du bist eben eine Ausnahme wie alle Plédo-Affen“, sagte Idan.
„Ja, es gibt Grenzfälle“, pflichtete Bär Porbulo bei, „und wenn ich’s recht bedenke, bin ich auch nicht dumm, obwohl ich ein Bär bin. Würdest du mir vernünftiges Denken absprechen?“
„Nein“, sagte Idan.
„Ich schon!“, rief Erfinder-Äffchen.
„Bist du aber hochmütig!“, sagte Idan.
„Bin ich nicht! Immerhin kann ich vernünftig reden. Diese Tiere aber verständigen sich nur durch dumpfe Laute, und da du ein sehr feinfühlender Mensch bist und ihre Gefühle verstehst, kannst du diese Laute übersetzen. Am Ende deutest du aber mehr hinein, als darin enthalten ist.“
„Tue ich nicht! Du verstehst sie ja auch – genauso wie ich.“
„Nun ja – ich bin ein Affe!“
„Aber ein sprechender!“
„Richtig, und daher vernünftig!“
„Bär Porbulo, was sagst du denn dazu“, wandte sich der kleine Idan Hilfe suchend an den Grizzly-Hauptmann.“

„Was soll ich dazu sagen? Ich habe meine Gefühle und meine Gefühle sind meine Gedanken und du verstehst sie. Das ist die Hauptsache!“
„Da bin ich aber froh, dass du dich verstanden fühlst“, jubelte der kleine Idan.
„Kannst du nicht wissen, dass er dich verstanden hat“, konterte Äffchen. „Du hast seine Laute nur gedeutet. Du kannst nicht sicher sein. Es sind ja bloße Laute!“
„Dann wundere ich mich, dass du diese bloßen Laute genauso deutest wie ich“, fuhr Idan das Äffchen an.
„Bin ja selbst auch ein Tier“, gackerte Äffchen.
„Aber ein sprechendes!“
„Eben!“
„Mensch, du machst mich verrückt!“, rief Idan und wandte sich wieder Bär Porbulo zu.
„Richtig wäre es, zu sagen: Affe, du machst mich verrückt!“, spottete Äffchen und eilte davon.
„Jedenfalls finde ich es sehr, sehr ungehörig von den Wildhörnern, was sie da getan haben“, beeilte sich Idan zu sagen. „Das ist gar nicht lieb! Und Tierfreunde sind sie auch nicht! Und das mit der Menschenähnlichkeit lasse ich nicht gelten! Die Mammutfresser gleichen ja sicher den Menschen nicht mehr als die Wildhörner selbst! Und ein echter Tierfreund ist zugleich ein Menschenfreund und umgekehrt! Wie will man das trennen?“
„Ich weiß nicht“, sagte der Bär, „frage sie selbst! Tatsache ist, dass wir auf diese Weise zu den Mammutfressern kamen und der Ente ein Geschenk machen konnten. Und Tatsache ist leider auch, dass die Lebensmittel zur Neige gehen, mit denen wir dieses Kerlchen ernähren können. Wir müssen also dringend etwas unternehmen!“
Auf Äffchens Anregung wurde eine Versammlung aller Bewohner des Waldes einberufen. Die beiden Riesen Idan und Oler nahmen nicht teil. Sie waren gerade auf Reisen und Erfinder-Äffchen hatte sich, schlau wie es war, gerade diesen Termin gewählt, um über einen Plan entscheiden zu lassen, den die Riesen nie gebilligt hätten.
In der Mitte der Versammelten saß der bibergroße Sabut und lallte die wenigen Worte, die er gelernt hatte: „Schwein, Mammut schlicht viel Reis.“ Mit „Mammut“ meinte er selbstverständlich sich selbst, mit „Schwein“ meinte er „nein“ und mit „Reis“ meinte er „Fleisch“. Entchen, als die gestrenge Frau Lehrerin, die es war, versuchte Sabut zu korrigieren. Aber das Mammutfresserchen weigerte sich und rief: „Schwein, Mammut schlicht still! Wanderreis!“ Das hieß soviel wie: „Nein, Sabut nicht will! Was andres als Fleisch!“ Aber natürlich verstand ihn weder Mensch noch Tier und folglich konnte ihn Entchen auch nicht richtig korrigieren, was zu weiteren Auseinandersetzungen führte. Im Übrigen beachtete auch niemand so recht das seltsame Streitgespräch zwischen Sabut und seiner Lehrerin. Es gab wichtigere Dinge zu regeln. Es sollte nämlich entschieden werden, was für den Fall zu tun sei, dass die Fleischvorräte völlig zur Neige gehen sollten.