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„Der Kunomenss wird an den Füßen aufgesängt! Da sat er länger ssu ssappeln!“, sagte einer der Schlangenmenschen, die die Eskorte der Gefangenen an ihrem Bestimmungsort empfing.
„Nehmt dem Affen und dem Burssen die Halsslingen ab, die mit den Füßen verbunden sind“, befahl Schlangenmenschenkönig Schlankerli. „Sie sollen siss ausssapeln können!“
Die Henkersknechte, es waren drei, kümmerten sich rührend um die Gefährten und lösten ihnen die Schlingen mit sanfter Hand, sodass sie sich aufrichten konnten, aber nur, um ihren Kopf in die heruntergelassene Schlinge des Galgens zu stecken. Der kleine Idan schluchzte kläglich auf. Die Schlangenmenschen aber johlten, was in den Ohren normaler Menschen wie Zischen klang: „Ssssssss!“
Der König selbst verlas die Anklageschrift und das Urteil: „Diese mensslissen Versager saben versagt, ein Slankheitsmittel ssu finden, sie saben nisst gründliss danass gesusst und müssen büßen! Sie satten ihre geresste Ssance! Sie werden dessalb ssu Ssappelqualen verurteilt, ssu unserer Augenweide, damit sie ssu etwas gut sind.“ Die Begründungen und Urteile der Schlangenmenschen waren schon immer denkbar kurz, doch konnte sich der König nicht enthalten, noch seine persönliche Meinung bedauernd hinzuzufügen: „Iss sätte den Burssen verssont, doss will das Gesetss, dass er sstirbt! – Große Sseiße!“ Dann gab er mit ausgestreckter Hand das Zeichen für den Beginn der Hinrichtung. Die Henkersknechte lösten die Fesseln von Kuno Weißhaars Füßen, drehten ihn um, steckten seine Füße in die Galgenschlinge und hievten ihn hoch. Nun kam der kleine Idan an die Reihe. Der Henker legte ihm die Schlinge um den Hals und zog sie einmal kräftig an, damit sie auch straff saß. Idan schluckte und brachte ein leises Röcheln hervor. Es klang fast, als wollte er etwas sagen. Aber seine Kehle war ganz trocken.
„Ein lesster Wunss ssu wünssen?“, fragte Schlankerli.
Plötzlich fasste Idan wieder Mut. „Ja“, sagte er, „ich möchte noch einmal auf meiner Flöte spielen!“
Dem König Schlankerli trat ein Lächeln auf den breiten, schmallippigen Mund. „Ssehr ssön! Sspielen will der Bursse! Mag er sspielen! Wir sören es gerne! Sspielen mag er und ssingen!“
„Ich kann nicht singen, wenn ich spiele“, erwiderte Idan.
„Nun, das sseint nisst so ssön!“
„Aber ich kann singen“, sagte Äffchen. „Ich kann singen, während er spielt.“
„Ssehr ssön! Ssehr ssön!“, sagte Schlankerli und er befahl, Mikrofone herbeizuschaffen und überall Schallverstärker aufzustellen, die die Musik des kleinen Idan im ganzen Schlangenreiche verbreiten sollten. Diener eilten durch die Menge, Mikrofone in den schlanken Händen, die sie vor Idan platzierten. Elektriker, die an ihren Mützen mit einem Zitteraalzeichen zu erkennen waren, legten Kabel aus. Eine mächtige Bewegung ging durch die ganze Runde der Schlangenmenschen.
„Ihr müsst mir aber noch die Schlinge und die Hand- und Fußfesseln abnehmen, sonst kann ich nicht flöten!“, sagte Idan.
„Sseiße, fast vergessen, wie konnte iss bloß! O Entssuldigung“, entschuldigte sich Schlankerli. „Entfernt die Fesseln!“
Die Henkersknechte gehorchten aufs Wort. Neben Idan zappelte und stöhnte Kuno Weißhaar.
„Und ihr müsst Kuno Weißhaar wieder abhängen, damit er genießen kann, was ich spiele!“, ergänzte Idan.
„O der brausst nisst ssu genießen! Ssoll sson mal ssappeln!“, erwiderte Schlankerli. „Ihr andern kommt auss noss dran!“
„Wenn ihr ihn nicht abhängt, spiele ich nicht!“ drohte Idan.
„Sson resst! Sson resst! So löst ihn also doss!“,loss!“, befahl der König den Henkersknechten. Der Kuno wurde sofort heruntergeholt. Er war ganz erleichtert und versuchte mit seinen gefesselten Armen die Haare zu ordnen, die jetzt hoch zu Berge standen. Freilich gelang ihm das nicht.
Die Schlangenmenschen posierten hoch aufgerichtet und aufmerksam vor den drei Galgen in einer Reihe.
„Meine Flöte bitte!“, forderte Idan.
„Oh, Entssuldigung! Vergessliss wie iss bin!“, seufzte der König auf. „Ssss! Sssss! Ssssss! Sssssss!“, pfiff er verlegen vor sich hin. Er befahl einem Leibwächter, zur Schlossburg zu eilen und aus dem Arbeitszimmer Schlankerlis die Blockflöte zu holen, die er dort zum Andenken an den wundersamen Knaben aufbewahrt hatte. Der Diener fand sie nicht gleich und musste den Weg einige Male machen. Und mit jeder neuen, ergänzenden Erklärung des Königs kam er der Sache um einige Schritte näher. Doch waren die Erläuterungen Schlankerlis leider nicht in allen Punkten ausreichend, denn der Knecht war ein wenig schwer von Begriff und hatte das meiste wieder vergessen, wenn er oben im Königsgemach angelangt war. Schließlich schrieb Schlankerli dem Knecht die Position der Blockflöte auf, aber der Knappe konnte nicht lesen und so war es wieder nichts. Drauf verfertigte der König eine Zeichnung, aber der Knappe war dreidimensionales Denken nicht gewohnt und konnte die Gegenstände auf der Zeichnung nicht mit den realen Objekten im Arbeitszimmer des Königs in Verbindung bringen. Am Ende eilte der König selbst von dannen. Nach einer Stunde kam er zurück. So waren inzwischen viele Stunden vergangen. Das Schlangenvolk, das begierig auf das zierliche Flötenspiel gewartet hatte, war mittlerweile ermüdet und viele von ihnen an allen Orten des Landes der gespannten Erwartung wegen in eine Art Trance verfallen. Manch einer war zuhause unter seinen Kopfhörern eingeschlafen und in den Reihen der vor dem Galgenplatz Wartenden waren viele in eine gelähmte Erstarrung gefallen. Endlich – es war schon Abend geworden – überreichte König Schlankerli persönlich dem kleinen Idan seine Blockflöte. Dieser prüfte sie, spitzte die Lippen und blies sie einmal kurz durch. Allein schon dieses Lippenspitzen des Jungen erregte das allgemeine Aufwallen einer Begeisterung, die wie ein magisches Licht aus den Augen der Zuschauer strahlte. Noch niemals hatte ein Schlangenmensch die Lippen gespitzt, um einer Flöte Töne zu entlocken. Dazu waren Schlangenmenschen gar nicht fähig. Es war für viele ein unbeschreibliches Wunder. Dann aber fing der kleine Idan an zu spielen. Er begann mit einer Melodie, die der König Schlankerli schon kannte, und Äffchen begleitete ihn mit kehliger Stimme. Die Schlangenmenschen begannen sich rhythmisch zu wiegen und ihre Wirbelsäulen schlängelten sich im Wechsel der Töne. Jetzt änderte Idan allmählich sein Lied. Die wogenden, zuckenden Bewegungen der Wirbelsäulen übertrugen sich unmerklich auf die Arme und schließlich auch auf die Beine der Schlangenmenschen. Die Arme verlängerten sich, verschlangen sich ineinander und bildeten am Ende Knoten ganz in der Nähe der Achselhöhlen, Knoten, die sich nicht mehr lösen konnten. Genau dasselbe geschah mit den Beinen. Solches aber widerfuhr dem ganzen Schlangenvolk im ganzen Schlangenland. Denn alle verfolgten sie Idans Flötenspiel über Kopfhörer und Schallverstärker. Niemand wollte sich die Sensation entgehen lassen, die darin bestand, dem Flötenspiel eines Menschenjungen zu lauschen, der so fein die Lippen spitzen konnte und kurz vor der Hinrichtung stand. Ein menschliches Wesen also, das angesichts des Todes sein Letztes gab, um sich zum Ausdruck zu bringen.
Als Idan endete, gab es ein böses Erwachen. Mit dem letzten ausklingenden Flötenton wurden sich die Schlangenmenschen schlagartig ihrer Situation bewusst. Des kleinen Idan Lied war mit dem letzten Schein der Dämmerung verklungen und die darauf einsetzende Stille führte innerhalb weniger Sekunden zu einem urplötzlichen Erwachen. Ein langes, züngelndes Zischen ging durch die Reihen der Zuhörer: „Sssssss!“ Dann wanden sie sich und versuchten ihre Arme und Beine freizubekommen, was aber nur den Erfolg hatte, dass sie der Länge nach hinstürzten und nicht wieder aufstehen konnten.
„Ssu Silfe!“, rief der König Schlankerli. „Das war ein falsses Sspiel! Man sat uns verarsst! Iss befehle sofort, unsere Fesseln ssu lösen! Iss, König Sslankerli, sabe gesprossen! Meine Besslüsse gelten!“
Aber niemand konnte helfen. Sie waren alle gefesselt. Nun befreite Idan unverzüglich seine Freunde von ihren Stricken.
„Jetzt seid ihr in unserer Gewalt“, sagte der Junge. „Wenn wir wollen, wird euer ganzes Volk in dieser gefesselten Stellung verhungern. Das wird dann eine Diät sein, die wirklich schlank macht! Sollen wir euch verhungern lassen?“
„Nein, bitte nisst! Iss bitte um Gnade!“, schrie Schlankerli.
„Ich habe dich gestern auch um Gnade gebeten und du wolltest sie mir nicht gewähren. Meinst du, dass du nun deinerseits Gnade verdient hast?“
„Versseisung“, lispelte Schlankerli, „Versseisung! Dies war nisst meine Ssuld! Iss sätte dir Gnade gewährt! Das Gesetss sat es verlangt! Iss sätte diss ja sonst als Sklave angenommen! Iss sätte diss leben lassen!“
„Und meine Freunde? Hättest du die auch leben lassen?“
„Wossu? Sie waren nisst nütssliss! Nisst einmal künstleriss!“
„Und du erwartest, dass wir dir Gnade gewähren? Ist es nicht viel gerechter, dass wir dich und dein ganzes Volk in euren Knoten verhungern lassen, ihr herzlosen Schlangenmenschen?“
„Mein Volk kann nissts dafür“, keuchte der König. „Es ist die Ssuld des Gesetsses! Das Volk sat das Gesetss ja nisst gemasst! Iss weiß, nass deiner Meinung sabe iss und alle meine Berater verdient, ssu ssterben. Aber iss bitte um Gnade für mein Volk! Risstet miss und die, die euss verurteilt saben, überlasst uns meinetwegen unserm Ssicksal, doss ssonet das Volk! Es ist nisst ssuldig!“ Bei diesen Worten kullerten dem König große Schlangentränen über die Wangen.
„Ich sehe, du hast doch ein Herz!“, sagte der kleine Idan. „Da können wir, denke ich, Milde walten lassen! Gut! Wir werden euch befreien! Aber nur unter einer Bedingung: Du, als der König dieses Volkes, musst vor allen Anwesenden feierlich versprechen, dass du uns das Leben schenkst und uns ziehen lässt.“
„Ja“, sagte Kuno Weißhaar, „genau das verlangen wir. Außerdem fordern wir Lebensmittel und Verpflegung für unsere weitere Reise. Und – wir fordern eine Weltkarte, eine gute Weltkarte, auf der alle Kontinente von Plédos verzeichnet sind. Willst du uns das versprechen?“
„Iss verspresse es feierliss“, lispelte König Schlankerli, während ihm Idan eines der Mikrofone hinhielt. „Iss leiste den Sswur eines Fürsten! Vor allen diesen Sseugen sswöre iss, dass euss nissts gessehen wird, wenn ihr die Knoten löst. Wir werden alle eure Forderungen sösst getreu erfüllen!“
„Das ist ein Wort“, sagte Idan und begann den König aus seinen Verwindungen zu befreien.
„Vorsicht, Schlangenmenschen lügen“, warnte Erfinder-Äffchen.
„Er wird sich an seinen Schwur halten“, sagte Idan. „Er hat vor tausenden Zeugen geschworen. Er wird die Ehre als König verlieren, wenn er den Schwur bricht.“
„So ist es“, bestätigte Schlankerli.
Endlich hatten die Gefährten sowohl den König als auch seine Diener, Getreuen und Henkersknechte von ihren Verknotungen befreit und die Diener begannen sofort, ihren Volksgenossen zu helfen. Bald waren zahllose Schlangenmenschen wieder bewegungsfähig.
König Schlankerli aber hielt eine große Ansprache über das Mikrofon an alle Genossen seines Volkes.
„Wahrliss, iss salte mein Versspressen“, sagte er, „und iss bin froh darüber. Unter diesen außergewöhnlissen Umsständen ist das Gesetss nisst mehr gültig und das ist auss gut so – sseiß Gesetss – Versseisung! Iss bin froh, dass dieser Menssenbursse nisst ssterben muss! Auss der Affe sat ja ssön gesungen! Und dieser Kuno ist gar ein lustiger Kerl. Mögen sie noss viele Menssen mit Gesang und Flötensspiel beglücken! Iss wünsse es ihnen! Dieser Menssenbursse sat viel Edelmut gesseigt! Er sätte uns alle ssterben lassen können! Er und seine Gefährten sätten uns ausrauben können! In wenigen Tagen wäre das gansse Volk der Sslangenmenssen vernisstet gewesen, vernisstet durss einen einssigen Burssen. Es sätte ihm niemand übel genommen, denn wir sind ja bei den andern Völkern unbeliebt. Er sätte uns einfass versungern lassen können. Sstattdessen sat er uns gessont und einen besseidenen Preis verlangt!“ König Schlankerli schluchzte vor Rührung laut auf. „Dieser Edelsinn ist beißpielhaft! Wir waren selbstsüsstig! Wir saben gesündigt! Der Bursse aber sat uns nisst Gleisses mit Gleissem vergolten. Iss werde eine Änderung unsrer Gesetsse im Namen des Volkes bessließen. Dieser Tag soll in das Gedässtnis unserer Nassion als der Tag der Besinnung eingehen! Iss werde alle Forderungen der Fremden erfüllen!“
Am nächsten Morgen schon waren die beiden Esel mit neuen Sätteln versehen und darauf ein Proviant mit den vorzüglichsten Speisen aus der Schlangenburg aufgeladen. Schlankerli selbst überreichte dem kleinen Idan eine nagelneue Weltkarte, auf der alle Kontinente abgebildet waren. Der König selbst sprach ihnen den Segen aus. Dann zogen sie mit den Eseln davon. Tausende Schlangenmenschen blickten ihnen nach.
Der Kyruppengraben
Auf ihrer Wanderung durch Rüsselschwein durchquerten sie ein unfruchtbares Wüstengebiet und die Freunde waren sich nicht sicher, ob ihre Vorräte ausreichen würden, die sie ihren beiden Eseln aufgeladen hatten. Auch schien die Sonne ziemlich prall herab.
„Wie lange ist es denn noch bis zur Nordküste?“, stöhnte der kleine Idan. „Ungefähr noch siebenhundert Kilometer bis zum Löwensee“, sagte Kuno Weißhaar.
„Ich kann mir das gar nicht richtig vorstellen“, erwiderte Idan. „Ich würde gar zu gerne wissen, wo wir jetzt sind.“
Kuno Weißhaar streckte dem kleinen Idan die Karte hin. „Siehst du, dieser Inselkontinent ist Rüsselschwein. Er heißt so, weil er aussieht wie eine fette Sau, deren Hinterbeine hinter einem Fettwulst versteckt sind und die sich nur noch auf den Vorderbeinen aufrecht hält. Schau, wie sie den hässlichen Rüssel, der oben eine Verdickung trägt, emporstreckt! Der Auswuchs rechts daneben ist ein unförmiges Ohr. Wir haben keinen guten Ruf bei den Bewohnern der anderen Inselkontinente! Unser Image ist ziemlich im Arsch, wenn man so sagen darf.“ Und einige Tränen kullerten seine Wangen hinunter. „Unser Kontinent sieht aus wie eine fette Sau und ich selbst habe eine Schweinsnase und riesige Ohren.“ Kuno Weißhaar schniefte.
„Ich finde nicht, dass er wie eine fette Sau aussieht“, sagte der kleine Idan. „Was ist denn das blaue Dreieck dort oben in der Mitte des Rüssels?“
„Das ist der große Löwensee“, erläuterte Kuno Weißhaar. „Dort versammeln sich große Löwenherden, um zu trinken.“
„Wenn man sich den See als einen Ausschnitt denkt“, fuhr Idan fort, „dann kann man auch eine andere Gestalt darin sehen.“
„Welche denn?“
„Eine tanzende Frau mit wehendem Kleid, die mit ihren Armen nach oben greift und mit Pauken zusammenschlägt oder einen Ball hält. Seht ihr: Das Schweineohr rechts ist dann der Kopf der Frau!“
„Idan hat Recht“, bemerkte Äffchen, „keine schlechte Beobachtung!“
„So habe ich die Sache noch nie betrachtet“, sagte Kuno Weißhaar. „Kleiner Idan, du hast unser Image gerettet! Du hast das Ansehen unseres Landes wiederhergestellt! Wir werden unseren Kontinent umbenennen! Wir werden ihn umbenennen in ‚musizierende Frau‘!“
„Nein“, sagte Äffchen, „es muss ein Name sein, der den anderen angeglichen ist, ein Name in einem Wort. ‚Frauentanz‘ wäre geeignet.“
„Also gut, ‚Frauentanz‘“, stimmte Kuno Weißhaar zu. „Das ist ein guter Name. Aber wir müssen ihn noch populär machen. Erst dann können wir das Ansehen unseres Kontinentes erhöhen!“
Äffchen kratzte sich nachdenklich an der Stirn.
„Was ist?“, fragte der Kuno.
„Mir fiel gerade ein: Mit dem Namen stimmt doch etwas nicht! Im Augenblick komme ich nur nicht darauf, was es ist!“
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst“, sagte Kuno Weißhaar. „Die Namen der Kontinente beziehen sich auf Dinge, die man sehen und anfassen kann: Haihaupt, Stiefelburg, Totenmund und so weiter. Einen Frauentanz kann man nicht anfassen. Ob ‚Tanzende‘ der richtige Name wäre? Aber dann wäre er nicht aus zwei Wörtern zusammengesetzt. ‚Tanzfrau‘ vielleicht?“
„Ich weiß noch einen besseren Namen“, sagte der kleine Idan. „Was haltet ihr von ‚Jubelfrau‘?“
„Ausgezeichnet!“ lobte Äffchen. „Das ist der passende Name. Lasst uns von nun an Rüsselschwein so nennen! Unter uns zumindest!“
Auf ihren Eselchen zogen sie weiter. Endlich gelangten sie durch bewaldete Gegenden, die aber völlig unbewohnt und menschenleer waren. Der kleine Idan staunte über die vielen bunten Vögel, von denen es zahllose Arten gab. Einige von ihnen hatten Schnäbel, deren unterer Teil wie eine Schüssel oder ein Waschbecken aussah. Wenn sie zu ihren Jungen in ihre Nestbauten flogen, öffneten sie ihren Schnabel und ließen ihre Zöglinge trinken, die das Wasser eifrig aus der Schnabelschüssel becherten. Die Schnäbel anderer Vögel waren sternförmig, glichen Krallen und waren beweglich. Die Vögel fingen mit ihnen große Insekten aus der Luft. Rauschende Bächlein begleiteten die Kameraden. Ein weiteres beliebtes Nahrungsmittel waren die Schwebequallen. Sie bewegten sich mithilfe eines Gases durch die Luft, das sie in ihrem Inneren erzeugten. Oft kreuzten Rollmopskopffüßler ihren Weg. Das waren pelzige, kugelförmige Wesen auf zwei Beinen, die es vorzogen, auf steilen Strecken ihre Gliedmaßen einzuziehen und sich rollend fortzubewegen. Sie hatten einen Saugrüssel, der teleskopartig ein- und ausgefahren werden konnte, und verständigten sich durch pfeifende Töne. Der kleine Idan erwischte einen von ihnen und wollte ihn in seine Reisetasche stecken.
„Lass das, die sind ungenießbar“, belehrte ihn Kuno Weißhaar.
„Glaubst du denn, ich will ihn essen?“, fragte Idan mit beleidigtem Gesichtsausdruck.
„Was sonst?“
„Ich will doch mit ihm spielen!“
„Mit Rollmopskopffüßlern kann man nicht spielen, die beißen!“
„Wie sollten sie denn beißen? Sie haben doch einen Saugrüssel!“
Aber Kuno Weißhaar hatte Recht, denn schon zwickte den kleinen Idan etwas in seinen Finger.
„Der Saugrüssel enthält kleine Reißzähnchen“, ergänzte der Kuno, aber es war schon zu spät. Der kleine Idan rieb sich den wunden Finger. Und der Rollmopskopffüßler entwischte.
Endlich ging die Reise durch eine karge Gebirgslandschaft. Hier wuchsen nur wenige Fruchtbäume, und es gab nur vereinzelte Tümpel und kleinere Seen.
„Achtung“, sagte Äffchen, „wir nähern uns dem Kyruppengebiet.“
„Kyruppen? Was ist denn das?“, wollte der kleine Idan wissen.
„Oh, das sind Wesen, die aussehen wie aufrecht gehende Drachen. Sie sind etwas größer als Menschen – aber nicht sehr viel größer – und sie haben drei Beine. Ihre Füße haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Vogelklauen. Sie haben genau drei Zehen. Die kleinere, hintere Zehe dient ihnen zur Stütze, die beiden anderen sind nach vorn gerichtet. Auch ihre Hände haben nur drei Finger. Sie sind leicht gebaut und schneller als Laufvögel, zu denen sie eine gewisse Verwandtschaft haben. Sie haben scharfe spitze Zähne, aber eigentlich sind das gar keine Zähne, sondern die Ausläufer einer Hornkruste, die zu einem Schnabel gehört. Die Kyruppen sind neben den Plédo-Affen die einzigen Wesen, die eine menschliche Sprache besitzen und so vernünftig wie Menschen denken. Ich meine, wenn man von den Bewohnern des Komponischen Märchenwaldes absieht. Man möchte es eigentlich gar nicht glauben. Aber diese Kyruppen sind weise Wesen. Das Volk der Kyruppen wird von den sogenannten goldenen Drei angeführt. Das sind alles Weibchen. Denn du musst wissen, dass bei den Kyruppen die Weibchen dominant sind.“
„Was heißt dominant?“, fragte der kleine Idan.
„Nun, so nennt man jemanden, der über den anderen herrscht. Mit anderen Worten: Bei den Kyruppen herrschen die Weibchen über die Männchen.“
„Ist das nicht ungerecht, wenn Weibchen über die Männchen herrschen oder umgekehrt?“, fragte Idan.
„Nun, ob gerecht oder ungerecht – es ist nun einmal so! Bei den meisten höheren Tieren herrschen die Männchen. So sollte es ja auch sein!“
„Finde ich nicht“, sagte Idan.
„Das wundert mich“, erwiderte Äffchen. „Du wirst selbst einmal ein Mann sein!“
„Wieso? Man muss auch an andere denken.“
„Aber nicht, wenn man selbst dabei benachteiligt wird. Das ist zumindest einmal so meine Auffassung. Da ich selbst ein Männchen bin, würde ich benachteiligt, wenn bei den Plédo-Affen die Weibchen das Sagen hätten. Also, wo war ich stehen geblieben? Die Kyruppen werden von den goldenen Drei angeführt, die größer und weiser sind, als alle anderen Kyruppen. Ihre Namen sind Traula, Goa und Gran. Und die Gefährlichste und Stärkste von diesen dreien ist Traula. Sie und ihre Gefolgschaft wachen über ein Gebiet, das wir den ‚Kyruppengraben‘ nennen. Es ist eine Erdsenkung, die sich über viele hunderte Kilometer erstreckt. Dort wächst Petersilie.“
„Petersilie?“
„Ja, Petersilie in ungeheuren Mengen. Der ganze Graben ist voll davon, vom Boden bis zum Rand. Im Graben fließt ein Bach, den man ‚Silberpfad‘ nennt. Es heißt, dass er für das Gedeihen der Petersilie verantwortlich sei. Die Kyruppen wachen über die Petersilie. Wehe, ein anderes Wesen verirrt sich in den Graben und wagt, von der Petersilie zu kosten. Es ist des Todes und wird von ihnen sofort verspeist.“
„Sofort?“
„Sofort! Vorausgesetzt, es wird von den Kyruppen entdeckt. Was aber beinahe sicher der Fall ist. Denn die Kyruppen haben feine Nasen.“
„Und gibt es keine Möglichkeit, mit ihnen zu verhandeln? Du hast gesagt, die Kyruppen können sprechen und denken wie Menschen! Gibt es da wirklich keine Möglichkeit?“
„Doch“, sagte Äffchen nachdenklich, „eine Möglichkeit gibt es, eine einzige!“
„Und welche?“
„Du musst ihnen Rätsel aufgeben! Die Kyruppen lieben es, Rätsel zu lösen. Es gibt nur einen Haken.“
„Und der wäre?“
„Sie sind sehr klug. Und die Rätselfragen werden von den ‚Goldenen Drei‘ gestellt und beantwortet. Es ist nicht bekannt geworden, dass einer sie besiegt hätte.“
„Also Finger weg von der Petersilie!“, sagte Kuno Weißhaar.
Sie zogen weiter. Die Fruchtbäume wurden immer spärlicher. Weit und breit waren keine Seen und Tümpel mehr zu sehen. Einen ganzen Tag lang hatten sie nichts gegessen und getrunken. Der Abend dämmerte, und die tiefen Schatten der Berge, die das Land überzogen, kündigten an, dass es sehr kalt werden würde. Und dann begann der sogenannte Kyruppengraben. Er sah aus wie ein Wald aus baumhoher Petersilie, der eine Talschneise ausfüllte. Und tief unten leuchtete der Silberpfad.
„Lasst uns in den Petersilienwald hinabsteigen“, schlug Kuno Weißhaar vor. „Es wird sehr kalt werden heute Nacht.“
„Nein, das ist lebensgefährlich“, raunzte Äffchen.
„Nicht, wenn wir die Petersilie nicht anfassen“, erklärte der Kuno.
„Wie wollen wir das beweisen?“, fragte Erfinder-Äffchen.
„Brauchen wir nicht. Es heißt, dass die Kyruppen fühlen, wenn Petersilie gegessen wird.“
„Aber wir könnten die Petersilie zertreten“, sagte der kleine Idan. „ist das dann nicht dasselbe?“
„Da müssen wir eben aufpassen“, sagte Kuno Weißhaar. „Wir müssen zwischen der Petersilie hindurchgehen. Hauptsache, wir werden dadurch ein wenig angewärmt. Dieser Petersilienwald ist ein guter Wärmespeicher!“
Idan und Äffchen hörten auf Kuno Weißhaar, da dieser ein erfahrener Trapper war. Äffchen selbst hatte den Komponischen Märchenwald kaum je verlassen, ganz zu schweigen vom kleinen Idan. Tatsächlich wurde es bald empfindlich kalt und sie fanden in der Abenddämmerung kunstvoll angelegte Fußwege, die zwischen den Petersilienbeeten hindurchführten. Zwischen den üppigen Kräutern wurde es ihnen wieder warm. Und unten im Graben auf der rechten Seite des silbernen Flusses setzten sie ihre Reise fort. Sie gingen solange, bis es dunkel wurde und Äffchens Taschenlampe nicht mehr ausreichte, um die Umgebung zu erhellen. Dann kauerten sie sich nieder und schlugen am Flussufer ihr Lager auf. Der dichte Petersilienwald schützte sie vor der einbrechenden Kälte. Am nächsten Morgen zogen sie weiter. Ihren Durst konnten sie mit Wasser aus dem silbernen Fluss stillen, denn Kuno Weißhaar hatte versichert, dass solches erlaubt sei. Das Wasser sei in ständiger Bewegung, es plätschere über die Felsen und Steine, bilde allenthalben Wirbel und die Kyruppen, so überaus feine Sinne sie auch besäßen, stünden nicht immer mit dem Fluss in Verbindung und könnten nicht abschätzen, wann ein Mensch das Wasser berührte. Bei den Pflanzen sei das anders. Alles, was die Petersilie spüre, jede noch so geringe Bewegung der Angst, teile sich auch dem Volk der Kyruppen mit. Das Wasser des Silberpfades war sehr wohlschmeckend. Aber es reichte nicht, um auch den Hunger zu stillen. Und am Nachmittag überkam die Freunde ein schreckliches Hungergefühl. Äffchen und Idan konnten sich noch am besten beherrschen. Aber Kuno Weißhaar war das Hungern nicht gewöhnt. Und alle Ermahnungen in den Wind schlagend, auch seine eigenen Grundsätze, rief er aus: „Nur ein kleines, kleines Kräutchen! Ein winzig, winzigkleines Petersielchen, nur ein winzigkleines Petersielchen!“