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Dylan gluckste vor Freude. Bereitwillig ließ er sich von Erik durch die Massen schleusen. An der Absperrung zum Schlossplatz zückte der ein Schriftstück. Das wurde von einem Wachmann gescannt. Folglich durften sie den Platz betreten. Auch dort standen die Menschen dicht gedrängt, doch ebenso hatten sie von hier aus eine gute Sicht auf den Balkon des Schlosses.
Staunend ließ Dylan die Eindrücke auf sich wirken. Die Königsfamilie, samt Oberhaupt, Prinz und Prinzessin, sowie deren Kinder winkten der jubelnden Menge zu. Ein ergreifender Augenblick, den er ebenfalls mit dem Handy einfing. Für einen kurzen Moment war er den Tränen nahe.
«Danke!», warf er Erik zu. «Danke, dass du mich mitgenommen hast.» Sein Blick schwirrte zurück. Auf dem Vorplatz des Schlosses war eine neue Schulklasse angekommen. In einem Kreis und bei traditioneller Musik führte sie einen Tanz vor. Dylan klatschte zum Takt.
Das Treiben und der nicht endende Festzug waren so fesselnd, dass er das erste Mal auf die Uhr sah, als zwei Stunden vergangen waren und sein Nasenrücken spannte. Nun wusste er, was Thor gemeint hatte. Die Sonne schien ungnädig auf sie nieder und es gab weit und breit kein schattiges Plätzchen. Zudem hatte er Durst und auch etwas Hunger. Erstaunt war er ebenfalls, weil es kaum Buden gab, die irgendwelche Speisen oder Getränke vertrieben.
«Können wir nicht irgendwo einen Imbiss nehmen?»
Erik winkte ab. «Die meisten Leute nehmen sich was zu essen und trinken mit», erklärte er. «Außerdem ist Feiertag, die Läden haben zu. Wenn du Glück hast, begegnet dir ein Eisverkäufer und einige Geschäfte verkaufen süßes Gebäck in den Straßen.» Er zog eine Sonnenbrille hervor und reichte sie Dylan, der sie dankbar entgegennahm und aufsetzte.
«Abgesehen davon, sollten wir hier keine Wurzeln schlagen.» Auf Eriks Gesicht schlich sich ein verheißungsvolles Lächeln. Erneut fasste er nach Dylans Hand. «Ich kenn ein besseres Plätzchen.»
Dylan hatte sich mitziehen lassen. Zurück zur Straße, entlang der Karl Johans Gate, bis zu einem Haus aus rotem Backstein, in dem sich das Hard Rock Cafe von Oslo befand.
«Ich hab hier Beziehungen», verkündete Erik. Gezielt lotste er Dylan ins Gebäude. Sie betraten ein Treppenhaus, erklommen die Stufen bis zur zweiten Etage und gelangten kurz darauf in eine Wohnung, in der eine Party stieg. Auf einem Tisch reihten sich Speisen und Getränke – vornehmlich Würstchen, Waffeln und Alkohol in allen Facetten. Auch Erik, der den Gastgeber kannte, zog aus seinem Rucksack zwei Flaschen und stellte sie dazu. Dylan nahm eine Waffel in die Hand und betrat den Balkon. Von hier aus konnte er den Festmarsch noch besser verfolgen. Inzwischen liefen die Schulklassen der älteren Semester über die Straße.
Jugendliche in roten Anzügen brüllten unverständliche Parolen durch die treibenden Beats der moderneren Musik, die sie begleitete. Die Zuschauer quittierten die Rufe mit einem jubelnden: «Hurra!»
«Sind das die Russen?», fragte Dylan gespannt.
«Ja. Die in den roten Anzügen sind die Abiturienten und die in den blauen sind die Abgänger vom Wirtschaftsgymnasium.» Erik stand neben ihm auf dem Balkon, nippte an einer Flasche Bier und erklärte. «Der Russ-Umzug zum 17. Mai bildet den Höhepunkt der wochenlangen Abschlussfeiern, Mutproben und Späße.» Er schüttelte den Kopf und lachte. «Oh je, wenn ich an meinen Abschluss denke … Man hat meine Clique und mich fast eingebuchtet.»
«Was?» Dylan sah ihn fragend an.
«Wir sind mit einem alten VW-Bus umhergefahren, sternhagelvoll, haben randaliert und jugendfrei haben wir uns auch nicht verhalten.»
«Meine Güte!» Dylan grinste und hielt sich am Balkongeländer fest. Unweigerlich dachte er an Thors Warnung und war froh, dass er das Treiben aus angemessener Entfernung mitverfolgen konnte. Sobald das Thema auf Alkohol und Parties zu sprechen kam, fühlte er sich unwohl. Er wusste, woran das lag. Nach wie vor trug er die Angst mit sich, rückfällig zu werden. Bestimmten Reizen ging er lieber aus dem Weg.
«Was sind das für Kärtchen, die die Russ verteilen?»
«Eine Art Visitenkarte der Schulabsolventen. Darauf stehen Name und Kontaktadresse sowie originelle Sprüche», erwiderte eine Frauenstimme.
Dylan drehte sich perplex zur rechten Seite. Erik war verschwunden, stattdessen lehnte eine Frau neben ihm über der Balkonbrüstung. Sie hielt ein Sektglas in einer Hand und eine Zigarette in der anderen.
«Ach so …» Dylan visierte die Straße, dann wandte er sich komplett um. Durch das Balkonfenster sah er Erik mit einem Mann auf dem Sofa sitzen.
«Du kommst wohl nicht von hier?», fragte die Frau.
«Nein.» Dylan schüttelte den Kopf. «Ich bin mit Erik hier.»
«Mit Erik?» Die Frau lachte laut. «Seit wann lässt der sich anbinden?»
«Also eigentlich …»
Sie hörte ihm nicht mehr zu und verschwand im Inneren des Gebäudes. Dylan seufzte. Inzwischen stand er allein auf dem Balkon. Offensichtlich war er der Einzige, der sich noch für den Umzug interessierte. Aus der Wohnung dröhnten Gelächter und laute Stimmen. Von der Straße her drang die schallende Rap-Musik der Russ, die aus einer mobilen Stereoanlage hämmerte. Die ältesten Schulabgänger bildeten das Ende des barnetoget – was so viel wie ‹Kinderzug› hieß. Die starren Absperrungen wurden gelockert. Passanten reihten sich in die Schlange ein. Jetzt marschierte das Volk zum Schloss und Dylan fragte sich, ob die Königsfamilie noch immer auf dem Balkon stand, um die Bürger und Touristen zu begrüßen. Die Kinder und Jugendlichen, das lag auf der Hand, wurden an diesem Tag am meisten gefeiert.
Er rieb sich über das heiße Gesicht. Hatte er inzwischen einen Sonnenbrand? Warum hatte er nicht auf Thor gehört und sich dementsprechend eingecremt?
Zurück in der Wohnung registrierte er, dass Erik nicht mehr auf dem Sofa saß. Suchend blickte sich Dylan um. Die Frau vom Balkon reichte ihm ein Glas Sekt entgegen, das er nahezu entrüstet ablehnte.
«Oh, danke, ich trinke nichts.»
«Gar nichts?», fragte sie, wobei sich ihre Stimme anhob. Kurzerhand kippte sie den Inhalt des Glases in ihr eigenes, das demzufolge fast überschwappte.
«Nein. Habt ihr keine Cola oder sowas?»
Neben ihm lachte ein Mann laut auf. «Cola? Was bist du denn für einer? Heute ist Nationalfeiertag.»
«Ja, das weiß ich.» Dylan nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die brennende Nase.
«Ey, dich kenn ich aus dem Fernsehen!», tönte der Mann.
«Oh, nein, im Fernsehen bin ich eher selten», wehrte er ab.
«Du bist Dylan Perk, oder?», meldete sich die Frau wieder zu Wort. «Der Freund von Thor Fahlstrøm.» Sie kniff die Augen zusammen. «Stimmt es, dass der ein Café in der Stadt eröffnet?»
«Ja, das stimmt.»
«Dylan Perk, ja richtig!» Der Mann neben ihm torkelte heran und begutachtete ihn aus nächster Nähe. «Was? Einen Coffeeshop will Thor errichten?»
«Also ein Shop ist es weniger …» Dylan stoppte. Er sah, dass die Tür des Badezimmers aufging und Erik heraustrat. Dicht hinter ihm folgte ein Mann. Ihre Gesichter waren gerötet und sie hantierten auffällig an ihrer Kleidung herum. Erik lächelte verschmitzt. Sein Begleiter steuerte indes die Alkoholvorräte an und mixte zwei Drinks.
«Ihr entschuldigt mich?» Dylan ließ seine Gesprächspartner stehen und eilte in Eriks Richtung. «Dachte schon, du hast mich sitzen lassen.»
«Was?» Eriks blaue Augen leuchteten. «Dich doch nicht.» Mit einer Hand streichelte er Dylans Wange. «War nur eben für kleine Jungs … mit Bjarne.»
Der besagte Begleiter präsentierte die Drinks. Erik leerte sein Glas mit wenigen Schlucken. Dylan bewahrte Abstand. Der Geruch nach Alkohol war verlockend.
«Der Umzug ist vorbei», sagte er mit Nachdruck und hoffte, dass Erik nicken und das Ende der Party erklären würde, doch das Gegenteil geschah …
***
Der helle Streifen am Horizont kündigte den Sonnenaufgang an. Dylan fuhr gemächlich, aber nicht, weil er in der frühmorgendlichen Dämmerung mit Wildwechsel rechnete, sondern weil Erik bei jeder kleinsten Erschütterung neben ihm im Beifahrersitz den Halt verlor und trotz Gurt zur Seite kippte.
«Gleich sind wir da», verkündete Dylan, nicht, ohne eine Erleichterung zu verspüren.
Die Feierlichkeiten waren beendet und er war standhaft geblieben, obwohl er stundenlang verlockenden Reizen ausgeliefert gewesen war. Nach zwei Hotdogs und vier Waffeln samt Heidelbeergelee hatte er erfolgreich die Reißleine ziehen können. Den Saufexzessen der Menschen in seiner Umgebung auszuweichen, war hingegen eine Herausforderung gewesen. Bier, Schnaps, Sekt und Wein – allem war er mehrfach und oftmals nur unter Protest entgangen. Noch nie zuvor hatte es sich als so umständlich erwiesen, an ein alkoholfreies Getränk zu kommen, ohne schief angesehen zu werden.
Und dann die Zügellosigkeit. Allen voran Erik mit seinen hemmungslosen Flirts. Ein paarmal hatte er ihn aus den Augen verloren und stets in Begleitung eines anderen jungen Mannes wiedergefunden.
Eskalation auf sämtlichen Ebenen. Das hätte Dylan den Norwegern nicht zugetraut.
Er hielt vor dem Carport, unter dem die beiden Jeeps standen, und langte neben sich. «Hey! Wir sind da.»
Da Erik sich nicht rührte, musste er ihn umständlich vom Beifahrersitz ziehen. «Nun werd wach!», forderte er ihn auf.
Erik stöhnte. Sein dünner Körper war schwer und Dylan schaffte es nur mit Mühe, ihn vorm Wagen auf die Beine zu stellen. Stützend krallte er sich in Eriks Hosenbund. «Wo ist eigentlich dein Hut?»
«Jeg vet ikke», flüsterte Erik mit geschlossenen Augen. «Vermutlich bei Bjarne.»
«Der Typ mit den langen Haaren?», rätselte Dylan. Während er mit der freien Hand den Wagen abschloss, hielt er Erik mit einem Arm fest.
«Mhm …»
«Den hab ich hier schon mal gesehen», fuhr Dylan fort. Er entsann sich an den Abend, an dem Erik Besuch von dem groß gewachsenen Mann bekommen hatte. In jener Zeit waren sie auf der Suche nach Thor gewesen. Erik hatte sich mit dem besagten Bjarne einem heißen Intermezzo hingegeben. Ein Verhalten, das Dylan nach wie vor nicht nachvollziehen konnte. «Den kennst du wohl schon länger.» Vorsichtig gab er Erik die Richtung an. Gemeinsam machten sie taumelnde Schritte.
«Den kenn ich aus meiner Zeit in Bergen.» Erik setzte einen Fuß vor den anderen. Ohne Hilfe wäre er haltlos hingefallen. Dylan stützte ihn kräftiger.
«Kommt der extra aus Bergen hierher, um zu feiern?»
«Nei …» Erik grinste breit. «… um mich zu sehen.»
Dylan stieß ein hölzernes Lachen aus. «Beim Sehen bleibt es wohl nie …»
Erik stolperte, doch er hielt sich wacker auf den Beinen. «Bist du neidisch?»
«Wohl kaum», zischte Dylan. Stockend nahmen sie weitere Meter auf sich, bis sie vor Eriks Haus stoppten.
«Ich könnte es dir nicht verübeln», säuselte Erik. Er legte beide Hände auf Dylans Schultern und hielt sich daran fest. «Oder läuft es wieder mit Thor?»
«Weniger», antwortete Dylan gedämpft und tat nichts gegen die Hände auf seinen Schultern, deren Daumen seine Halsseiten streichelten. Das Thema machte ihn betrübt, wenn nicht gar verlegen.
«Mein Angebot steht», sagte Erik. Seine Knie sackten weg, er fing sich schnell und krallte sich an sein Gegenüber. Eine Provokation? «Jederzeit», zischte er in Dylans Ohr.
Ein paar Sekunden harrten sie in der Umarmung aus. Dylan spürte Eriks mageren Körper an seinem. Er registrierte den warmen Atem an der Wange. Ein Moment der Schwäche suchte ihn heim. Es wäre eine Leichtigkeit gewesen, den Augenblick zu nutzen; Erik zu packen, ins Haus zu schieben und dort mit ihm eine heiße Nummer hinzulegen. Mit Sicherheit hätte er sich nicht gewehrt und eine Handlung dieser Art sogar begrüßt. Aber Erik war betrunken. Dylan wollte das weder ausnutzen noch sich dessen Reizen unbedacht hingeben. Warum um alles in der Welt gelangten sie immer an den Punkt, der Zweifel aufwarf?
Eine bloße Männerfreundschaft schien zwischen ihnen einfach nicht zu funktionieren.
Dylan befreite sich aus der Umarmung, denn Eriks Nähe dauerte zu lange an.
«Du solltest schlafen», sagte er. Mit den Fingerspitzen hielt er Eriks Körper auf Abstand.
«Ach ja …» Erik bog sich vor. Es fehlte nicht viel und ihre Lippen hätten sich berührt.
Dylan wich abermals aus. «Schaffst du es jetzt allein?»
Erik wankte. Das zweideutige Grinsen in seinem Gesicht verschwand nicht, doch er gab sich einen Ruck und machte einen Schritt in Richtung Tür. «Ja, selvfølgelig!» Er vergrub eine Hand in der Hosentasche und zog den Schlüsselbund hervor. «God natt!»
«Gute Nacht!» Dylan wartete, bis Erik aufgeschlossen hatte und im Haus verschwand. Das wilde Pochen seines Herzens ließ nach. Er marschierte über den Hof, blieb abermals stehen, drehte sich wieder um und starrte so lange auf das Fenster im Obergeschoss, bis er Erik erblickte, der winkte und die Vorhänge zuzog.
Dylan atmete auf. Auch um den letzten Reiz hatte er erfolgreich einen Bogen gezogen. Es reichte auf allen Ebenen. Er gähnte und freute sich auf das Bett. Als er den Blick jedoch in die Ferne richtete, sah er die Hunde, die auf dem Vorplatz liefen und im Eingang des anderen Hauses stand Thor. Wie lange schon?
«Du bist ja früh auf!», rief er ihm entgegen.
«Und du spät dran!», antwortete Fahlstrøm. Wie so oft kamen seine Worte ohne hörbare Wertung über seine Lippen; so emotionslos und ruhig, dass Dylan verunsichert reagierte. War Thor amüsiert oder verärgert über den zeitlichen Verzug?
«Du wusstest, dass wir den Tag feiern wollten.» Trotz der Erklärung marschierte Dylan langsamer. Warum zog Thor die Augenbrauen zusammen?
«Der Umzug endet normalerweise gegen 14 Uhr», sagte er.
Dylan hob die Schulter an. Vor der Treppe zum Haus blieb er stehen. «Ja. Aber wir waren noch bei einer Party von …» Er stoppte, da er realisierte, dass er gar nicht wusste, wie der Gastgeber, in dessen Wohnung er sich aufgehalten hatte, geheißen hatte. «Direkt an der Karl Johans Gate. Ich konnte vom Balkon aus über die Straße bis zum Schloss gucken.» Seine Stimme gluckste vor Begeisterung. «Ich habe den König gesehen und den Prinzen.» Er schwärmte. «Der sah richtig gut aus: mit weißen Handschuhen und schwarzem Zylinder.»
«Den Prinzen», wiederholte Thor unbeeindruckt. «Aha. Und danach?»
«Danach?» Dylan überlegte und rieb sich den Hinterkopf. Mehrfach blinzelte er, so müde war er. «Danach war in der kompletten Stadt Party angesagt. In allen Restaurants und Bars wurde gefeiert.» Musste er das wirklich erklären? Thor musste doch wissen, wie das Treiben am Nationalfeiertag ablief, denn er wohnte hier! «Und ich habe die Russ gesehen.» Dylan grinste breit. «Aber es ist nichts passiert.»
Nein, er erzählte mit Absicht nicht, wie laut und auffällig sich die Schulabgänger verhalten hatten. Er erwähnte nichts von den Saufgelagen und wilden Orgien, die er vor den Lokalen und in den Seitenstraßen beobachtet hatte. Das ansonsten so saubere und anständige Viertel um Aker Brygge und den Tjuvholmen hatte sich zu einer Partymeile transformiert.
Er hatte Schnapsleichen in Hauseingängen gesehen und Jugendliche in Schuluniform, die sich in den geschützten Häuserecken erleichtert hatten. Da war Fremdschämen angesagt gewesen.
But – so what? Er konnte erhobenen Hauptes hier stehen und versichern, als Einziger die Kontrolle über sich behalten zu haben.
Thor schien das nicht zu beeindrucken. «Hast du getrunken?», fragte er stattdessen.
«Nein!», schrie Dylan entrüstet. «Natürlich nicht!»
Dem ungeachtet kam Thor die Stufen hinab. Er stoppte vor Dylan, fasste mit einer Hand an dessen Hinterkopf, zog in zu sich heran und startete einen festen Kuss, der so eindringlich war, dass er schmerzte. Seine Zunge schob sich zwischen Dylans Zähne, er zwängte sie in die warme Mundhöhle und erforschte sie kurz und knapp.
Dylan riss sich los. «Bist du bescheuert?»
Thor trat zurück und bewegte den Mund, als ließe er den Kuss wie einen Wein im Abgang auf sich wirken. Schließlich nickte er. «Stimmt.»
«Was hast du denn gedacht? Dass ich mir die Birne dichtknalle? Aus der Phase bin ich raus.»
«Du musst aufpassen, Perk.»
«Ja, das weiß ich», erwiderte Dylan. «Ich bin auch nur geblieben, um auf Erik aufzupassen.»
«Erik?» Thor brach in donnerndes Lachen aus. «Du kannst mir glauben, der kommt jedes Jahr erst am nächsten Tag von den Festlichkeiten zurück: volltrunken und meist nicht allein. Der benötigt keinen Aufpasser.»
Dylan stockte der Atem. Für einen Moment war er sprachlos. In seinen Augen hatte Erik sehr wohl jemanden gebraucht, der auf ihn aufpasste. Ohne eine Begleitperson wäre er sicher viel früher in einer der Kneipen versackt. Er hätte mit Sicherheit noch mehr getrunken, noch mehr Flirts angefangen und vielleicht sogar die Orientierung verloren. Es war gut, dass er, Dylan, ihn begleitet hatte, oder?
Ein plötzlicher Zweifel stellte sich ein. Hatte Erik ihn womöglich an der Nase herumgeführt? Hatte er sich mit Absicht benommen, als benötigte er Hilfe? Nur, damit Dylan sich um ihn kümmerte? Ihn vom Komasaufen abhielt, ihn zu den Toiletten begleitete, ihn in den Menschenmassen suchte, ihn umarmte und umklammerte, ihn nach Hause brachte?
«Nun …» Dylan suchte nach Worten, denn Thor sah ihn noch immer herausfordernd an. «Bjarne war nicht die ganze Zeit dabei. Irgendjemand musste die Übersicht behalten.»
«Bjarne? Sein Stecher …» Thor schüttelte den Kopf. Eine Geste, die Dylan nicht nachvollziehen konnte.
«Ja, Erik lebt nicht monogam, das wissen wir beide», lenkte er ein. «Aber deswegen musst du unseren Ausflug nicht verurteilen.» Er hob die Hände an. «Was willst du eigentlich? Bist du eifersüchtig oder was ist los?»
«Du hast dich nicht herumzutreiben», antwortete Thor. «Das ist los!»
«Ach, willst du mir jetzt vorschreiben, was ich zu tun habe?», keifte Dylan.
«Du weißt, was passieren kann», erwiderte Thor. Von Dylans Wut ließ er sich nicht mitreißen. Abgesehen davon, hatte er nicht auch recht?
Gezwungenermaßen musste Dylan an die Schlägerei mit den Jugendlichen denken; an den Überfall in Las Vegas, bei dem er beinah vergewaltigt worden war. Ja, er hatte das Händchen dafür, in unangenehme Situationen zu geraten und so etwas in der Art wollte er tatsächlich nicht mehr erleben.
«Sehr aufmerksam von dir, mich daran zu erinnern, dass ich Scheiße gebaut habe!», gab er trotzdem zum Besten.
«Vergisst du anscheinend auch ständig», erwiderte sein Partner.
Dylan seufzte tief und beließ es dabei. Darüber zu streiten erschien ihm nicht sinnvoll, vor allem, da auch für Thor das Thema erledigt schien. Wortlos griff der nach den Hundeleinen und stieg in seine Boots. «Ich geh mit den Hunden», sprach er gedämpft.
Dylan fuhr sich über das erhitzte Gesicht. «Jetzt schon?»
«Der Tag ist angebrochen», erwiderte Thor und erinnerte ihn abermals daran, dass er länger außer Haus gewesen war als erwartet. Inzwischen war der helle Streifen am Horizont orange geworden. Die Luft hatte sich erwärmt. «Abgesehen davon wartet im Café eine Menge Arbeit auf mich.» Thor nahm die Hunde an die Leine und stiefelte die Treppe hinab, wohingegen sich Dylan am Geländer nach oben zog. «Ich komme später nach und helfe dir.» Die Müdigkeit zwang ihn zu einem erneuten Gähnen.
«Wird nicht nötig sein, Perk.»
***
Der Klingelton seines Handys weckte ihn. Wieder hatte er verschlafen und diesmal lag es nicht nur daran, dass er des Nachts keinen Schlaf gefunden hatte.
Innerlich rügte er sich, denn Stunden waren vergangen, die er an der Seite seines Partners hätte verbringen können – anstatt im Bett.
Es war Emma, die anrief. Unverzüglich nahm er das Gespräch entgegen. «Ja?»
«Entschuldige die Störung», meldete sie sich.
«Oh, du störst nicht.» Er schob die Bettdecke zur Seite, richtete sich auf und bemühte sich, nicht verschlafen zu klingen. «Es ist hoffentlich nichts passiert?»
«Nein!», versicherte sie sofort.
«Okay.» Er atmete erleichtert aus und unterdrückte ein Gähnen. «Tut mir leid, es wurde spät gestern … der Nationalfeiertag …»
«Oh, ja!» Sie klang fröhlich. «Hast du dir den Festzug angesehen?»
«Ja, der war großartig», erwiderte er. Träge rutschte er an die Bettkante. «Der ganze Tag war … besonders …» Mit Wehmut dachte er daran, dass das Event vielleicht noch schöner gewesen wäre, hätte Thor ihn begleitet. «Wenn du ihn sprechen möchtest», fuhr er in Gedanken an seinen Partner fort. «… er ist in der Stadt, bei den Renovierungsarbeiten.»
«Es freut mich, zu hören, dass er weiterhin so tüchtig ist, aber nein, ich wollte dich sprechen», antwortete sie. Eine Pause folgte, bevor sie ihr Anliegen erläuterte. «Ich wollte mich entschuldigen. Bei unserem letzten Gespräch habe ich dich oft unterbrochen und nicht aussprechen lassen, dabei hattest du allen Grund, mir von deinen Sorgen zu berichten.»
«Oh!» Ihre Ehrlichkeit erstaunte ihn, trotzdem wehrte er ab. «Das ist nett von dir, aber du hattest recht. Du bist seine Bewährungshelferin und nicht mein Kummerkasten.»
«Du hast eine schwere Zeit hinter dir.»
«Das stimmt, aber das Schlimmste ist überstanden. Ich muss einfach lernen, mich nicht ständig in den Mittelpunkt zu stellen.» Es erschreckte ihn, das von sich zu geben, obwohl er inzwischen wusste, dass er bisweilen übertrieb und seine Gefühlsausbrüche zu intensiv ausfielen.
«Kinder von Alkoholikern haben oftmals Probleme mit der Selbstkontrolle», gab sie zu denken. Er seufzte daraufhin, denn es war niederschmetternd, wie leicht sie ihn durchschaut hatte. Eine Antwort fand er nicht.
«Dylan? Bist du noch dran?»
«Ja, ja, natürlich …» Er fuhr sich über das Gesicht.
«Du bist aber weiterhin in Behandlung, ja?», vergewisserte sie sich. «Es ist eine schwierige Zeit für Thor. Da ist es wichtig, dass du ihm stärkend zur Seite stehst und nicht daran zerbrichst.»
«Ich komme klar», sprach er leise.
«Ist jemand für dich da?», fragte sie nochmals.
«Also, hier in Norwegen habe ich keinen Therapeuten, aber meine Freundin Carol kommt bald zu Besuch … Sie ist Ärztin.» War das die Antwort, die sie hören wollte? Machte er sich mit diesen Tatsachen nicht etwas vor?
«Das ist gut», sagte sie.
«Ja …» Das Gespräch stockte, obwohl er das Gefühl hatte, dass sie weitere Fragen hatte, sich damit aber zurückhielt. Sie war weder seine Psychiaterin noch seine Freundin, der er mehr anvertraut hätte. Aber zu diesem Zeitpunkt schien alles gesagt. Abgesehen davon wollte er den Fokus nicht an sich reißen. Primär ging es um Thor. Um seine Auflagen, um die Abwendung seiner Haftstrafe …
«Wie gesagt, ich wollte mich nur entschuldigen.»
«Vielen Dank.»
«Dann erhol dich schön.» Sie lachte gestelzt. «Wir sehen uns in den nächsten Tagen.»
***
Über seine Lippen schlich sich ein Seufzen, das in seinem Unterbewusstsein zu einem nachdrücklichen Stöhnen heranwuchs. Obgleich ihm klar war, dass das, was er just erlebte, nicht wahr sein konnte, ging er dem Drang gedankenlos nach. Er ächzte, er bebte, er zitterte … Holy shit, das war gut … Das imaginäre Bild vor seinen Augen machte das Geschehen vollkommen … Mit zackigen Bewegungen spannte er die Gesäßmuskeln an, rhythmisch rieb er sein erigiertes Geschlecht auf der Matratze … so hart, so wild … so geil … Das war nicht real, es war nicht echt … doch er gab dem Druck nach, er ließ es laufen … Für einen Bruchteil von Sekunden wurde alles schwarz. Dylan vergaß zu atmen, zu denken, zu fühlen …
«Perk?»
Er registrierte die Hitze in seinem Unterleib, den schwitzigen Rücken, seine unstete Atmung …
«Perk?»
… die plötzliche Nässe zwischen den Beinen.
«Perk, hörst du mich?»
Erschrocken riss er die Augen auf. Verstohlen spähte er zur Seite. Thor sah ihn prüfend an. «Alles in Ordnung mit dir? Du warst unruhig.»
«Ja, ja!» Wie eine Flunder lag er auf dem Bauch und atmete ins Kissen. Nicht real … Es war alles nicht echt … «Ich hatte nur einen Traum.» Langsam drehte er sich auf den Rücken. Es war morgens, die Sonne schien, Thor war angezogen. Sein Starren riss nicht ab. Nichts war zwischen ihnen geschehen … rein gar nichts …