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»Und vor vier Tagen sind Sie hier eingezogen?«
Er stellte die Frage in neutralem Tonfall, aber sie konnte sich vorstellen, |19|was er dachte: Eine habgierige Erbin, die gar nicht schnell genug an die Wohnung kommen konnte und mit Ignoranz gegenüber den kunsthistorischen Werten des Nachlasses geschlagen war.
Leo hatte einen Kloß im Hals. Das machte sie noch wütender. Er schien es zu merken, jedenfalls musterte er sie nachdenklich.
»Hatten Sie ein enges Verhältnis zu Ihrem Onkel?«
»Ich sehe nicht, weshalb das hier von Belang sein sollte.«
Er machte eine ungehaltene Geste in Richtung Flur, auf dem eben noch Jablonskys fein betuchter toter Leib gelegen hatte.
»Weil vor dieser Tür, die vor noch gar nicht langer Zeit die Ihres Onkels war, ein Toter gefunden wurde. Vielleicht ist er wirklich einem Herzversagen erlegen, mag sein, aber warum gerade hier? Was hat er von Ihnen oder Ihrem Onkel gewollt? Es kann sich wohl kaum um ein Versehen gehandelt haben, schließlich gibt es hier oben im Dachgeschoss nur die eine Wohnung, der Name Heller steht groß und deutlich auf dem Türschild, und ein Mann mit Anton Jablonskys Konstitution würde doch wohl genau darauf achten, ob er vielleicht nur bis in den ersten oder zweiten Stock steigen muss!« Er fuhr sich gereizt durch den rotbraunen Schopf, der schon in alle Richtungen abstand.
»Hat Ihr Onkel Ihnen etwas anvertraut, das uns einen Hinweis geben könnte? Und sei es eine noch so nebensächliche Kleinigkeit? Sie können einander doch nicht völlig fremd gewesen sein, immerhin hat er Ihnen seine Wohnung vermacht!«
»Ich war die Letzte aus der Familie.«
Er räusperte sich. »Also gut. – Sie sind durcheinander, ich bin müde. Ich schlage vor, wir brechen unsere anregende Unterhaltung hier ab. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
Er legte seine Karte auf Ludwigs alten Schreibtisch und rauschte grußlos hinaus. Die beiden Polizisten, die versucht hatten, sich so unsichtbar wie möglich zu machen und gleichzeitig die Fähigkeiten von Richtmikrofonen zu entwickeln, konnten gerade noch beiseite treten. Leo hörte, wie sie hinter dem Kommissar die Treppe hinunterpolterten.
|20|Endlich war der Spuk vorbei. Leo beschlich das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Doch sie erhielt keine Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen, denn Sandved kehrte unvermutet noch einmal zurück.
»Letzte Frage: Woran ist Ihr Onkel gestorben?«
Sie spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam und wollte ihn nur noch loswerden.
»An einem Schädelbruch«, antwortete sie erschöpft. »Er ist vom Balkon gestürzt.«
»Was Sie nicht sagen. Von diesem hier?«
Er spähte an ihr vorbei zu der offenen Glastür, an der Edwina die letzten ihrer weißen Blüten im Luftzug schaukeln ließ.
»Ja. Wahrscheinlich verlor er das Gleichgewicht, als er Hans einfangen wollte. Seinen zahmen Raben.«
Er sah sie durchdringend an. »Hans. – Aha.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand die Treppe hinunter.
Er hatte die Tür nicht hinter sich zugemacht. Leo starrte auf die verrutschte Fußmatte. – Falsch. – Sie starrte auf den Fleck, wo eine verrutschte Fußmatte hätte liegen sollen. Da war sie aber nicht.
Sie hatten sogar die verdammte Matte mitgenommen.
Die Spurensicherung suchte nach Spuren. Was das bedeutete, wurde ihr erst nach und nach klar.
Vielleicht war das Herzversagen gar kein natürlicher Tod.
Vielleicht saß sie ganz schön in der Klemme.
Aber warum?
Es kostete Kraft, aufzustehen und die Tür zu schließen. Leo fühlte sich auf einmal so müde, als wäre sie seit zwei Tagen auf den Beinen gewesen und nicht dieser Sandved. Hinter ihren Schläfen begann es zu hämmern.
Aspirin. Sie brauchte dringend Aspirin, bevor sich der Schmerz wie ein stählerner Ring um ihren Kopf schloss. Auf der Suche nach den Tabletten schlurfte sie ins Bad und bemerkte erst jetzt, dass sie immer noch den Lippenstift in der Hand hielt.
Verdammt. Das Vorstellungsgespräch!
|21|Viel zu spät.
Trotzdem stürzte sie zum Telefon, um sich von einer kühlen Frauenstimme erklären zu lassen, die Firmenleitung lege besonderen Wert auf die Zuverlässigkeit ihrer Mitarbeiter. Dass man darunter auch Pünktlichkeit verstehe, müsse wohl nicht betont werden. (Nein, dachte Leo. Natürlich nicht.) Man habe sich inzwischen anderweitig entschieden, vielen Dank. Leo verzichtete darauf, zu ihrer Rechtfertigung eine Geschichte aufzutischen, in der ein toter Antiquar vorkam, den sie vor ihrer Tür gefunden hatte. Eine miesere Ausrede konnte man sich ja gar nicht ausdenken.
Tage, die mit einer Leiche vor der Tür anfangen, sind schlechte Tage. Wie sollte es nun weitergehen?
Leo hatte ein paar merkwürdige Angewohnheiten. Eine davon war die, mit ihren Pflanzen zu reden und insbesondere vor Edwina lange Monologe zu halten. Das ließ die Rose nicht unbedingt besser gedeihen, half Leo aber, Ordnung in die Gedanken zu bekommen.
Ob sie das nicht auch merkwürdig fände, fragte sie Edwina. Erst Onkel Ludwig, dann der Antiquar. Geisterten sie vielleicht in irgendeiner immateriellen Form noch hier herum und sahen zu, wie sie hinter einer Nebelwand von Kopfschmerzen und Selbstvorwürfen versank?
Edwina antwortete nicht, und Leo nahm es nicht persönlich. Aber sie hatte höllische Kopfschmerzen, und in den einsamen Stunden des Nachmittags wurde sie unvermittelt zum Opfer eines diffusen Aberglaubens und dachte an Fenster, die geöffnet bleiben mussten, damit die Seelen den Ausgang fanden, und Spiegel, die sie vielleicht besser verhängen sollte. In den etwas lichteren Momenten des Tages erklärte sie sich und Edwina, dass sie einfach in eine kleine Depression schlitterte, kein Grund zur Panik, das würde vorübergehen.
Alles in allem hatte sie sich bei ihrem ersten Toten von Angesicht zu Angesicht doch recht wacker gehalten. Sie hatte nicht gekreischt |22|und war diesem Sandved auch nicht schluchzend an die Brust gesunken.
Dass sie die Stelle in der Gärtnerei nicht bekommen hatte, war auch kein Drama. Irgendwann würde es besser werden, bestimmt.
Inzwischen, sagte sie sich ganz vernünftig, konnte sie die Zeit doch nutzen, um Ordnung zu schaffen und die restlichen Kartons auszupacken.
Vielleicht war es der Aufregung zuzuschreiben; oder dem schlechten Gewissen, wie Leos Freundin Katie gesagt hätte. Beides waren jedenfalls hervorragende Gründe, etwas aus dem Gedächtnis zu verlieren. Leo erinnerte sich erst in dem Augenblick wieder an den Zettel, als sie sich bis zum Schreibtisch vorgearbeitet hatte.
Ganz unschuldig lag er oben auf dem Stapel der Post, die in den letzten Tagen noch für Ludwig Heller gekommen war. Praktischerweise mit der Rückseite nach oben, so wie sie ihn hastig abgelegt hatte, bevor sie die Polizei rief. Sandved hatte ihn nicht weiter zur Kenntnis genommen, als er am Schreibtisch stand.
Leo betrachtete den Zettel mit gemischten Gefühlen. Irgendwo zwischen den dumpf hämmernden Kopfschmerzen tauchte der Gedanke auf, dass sie Informationen unterschlagen hatte, möglicherweise sogar Beweismittel. Hatte Onkel Ludwig tatsächlich Geschäfte mit Anton Jablonsky gemacht?
Nein. Niemals.
Sie faltete das Papier auseinander. Mit einem harten Bleistift, dessen Spitze offenbar durch zu festes Aufdrücken mitten im Wort abgebrochen war, hatte jemand eine kurze Mitteilung daraufgekritzelt; wenn man die kryptischen Zahlen und Wortfetzen überhaupt so nennen konnte.
13/11 Ma t
Wied hl »Backstube«, 15.00
—> C.
|23|Beeindruckend. Es fehlte nur noch der Zusatz, dass der Zettel sich nach Ablauf eines geheimen Verfallsdatums selbst vernichten würde.
Stammte das von Jablonskys Hand? Die Schrift wirkte hektisch, die Buchstaben hasteten in großer Eile über das Papier.
13/11 war vermutlich eine Datumsangabe, der dreizehnte November. Dieses Jahres oder wann?
Das folgende Wort konnte sie nicht entziffern. Wo der Bleistift sich in das Papier gebohrt hatte, klaffte eine Lücke. Die letzten Buchstaben waren unvollständig ausgeführt; ein unleserlicher Kringel, ein t oder l.
Für Leo ergab es keinen Sinn. Nicht viel besser das nächste Wort: Nach der ersten Silbe war der Bleistift in einer flüchtigen Linie weitergehastet, so wie man schreibt, wenn man kleine Buchstaben einsparen will. Erst zum Schluss hatte sich die Schrift wieder gefangen. Auffällig das Wort »Backstube«, leserlich und in Anführungsstrichen offenbar zuletzt hinzugefügt. Eine Uhrzeit: Drei Uhr am Nachmittag. Ein Pfeil, der Großbuchstabe C, dick unterstrichen.
Was sollte sie damit nun beginnen?
Ein Datum, ein Ort. Ein Treffpunkt? Was bedeutete dieser Pfeil? Und das C?
Vielleicht die Abkürzung für ein Café, dachte Leo. Das war das Einzige, was ihr im Zusammenhang mit einer Backstube in den Sinn kam. Nur wollte ihr nicht so recht einleuchten, was ihr Onkel dort zu suchen hatte. Denn dass diese Notiz für ihn bestimmt war, bezweifelte sie nicht. Der Antiquar hatte offenbar nicht gewusst, dass Onkel Ludwig tot war, sonst wäre dieser Tag ganz anders verlaufen, dachte Leo bedauernd.
Aber Jablonsky hätte nicht erst einen Zettel schreiben müssen, wenn er vorhatte, ihn persönlich vorbeizubringen. Oder es war gar nicht Jablonsky selbst, der sich mit Onkel Ludwig treffen wollte. Vielleicht war er nur der Überbringer.
Leo kam ein Gedanke. Sie zog eine Schreibtischschublade nach der anderen auf. Wo hatte sie es nur hingelegt? Irgendwo musste es |24|sein, Onkel Ludwigs altes Adressbuch. Ein kleines, in weinrotes Leinen gebundenes Büchlein, nicht besonders dick, eigentlich sogar erstaunlich schmal für einen Professor mit vielfältigen Kontakten und Verbindungen. Leo war sich sicher, dass sie es nicht weggeworfen und auch nicht mit Ludwigs umfangreichen schriftlichen Unterlagen in den Keller gepackt hatte. Sie hatte es aufbewahrt, weil sie nicht wusste, ob sie Danksagungen auf die Kondolenzbriefe verschicken sollte. So viele waren dann gar nicht gekommen. Offenbar wusste kaum jemand, dass es eine Hinterbliebene gab.
Hinterbliebene. Schauderhaftes Wort, dachte Leo.
Da war es. In der untersten Schublade. Vielleicht enthielt es irgendeinen Hinweis, vielleicht waren berufliche Kontakte gesondert vermerkt. Leo ging Seite für Seite durch. Privatadressen von Professoren, von Unikollegen, dem einen oder anderen Studenten. Die meisten Namen kamen ihr bekannt vor, alte Wegbegleiter ihres Onkels. Sein Zahnarzt. Seine Hausärztin. Sein Anwalt. Irschinger stand auch drin, erstaunlich. Und Katie, na ja, das war kein Wunder. Die beiden hatten sich gut verstanden. Onkel Ludwig hatte sogar die Anschrift des Heimes, das Katie jetzt leitete. Leo markierte die Seite mit einem Eselsohr und blätterte das Buch bis zum Ende durch.
Nichts. Und unter J überhaupt keine Eintragung.
Leo untersuchte noch einmal den Zettel. Die Notiz war offensichtlich in Eile hingekritzelt worden. Vielleicht hatte Jablonsky sie hastig mitgeschrieben, vielleicht war sie ihm diktiert worden.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Leo grübelte hin und her und kam immer nur zu demselben Ergebnis: Sie wollte nicht glauben, dass Onkel Ludwig tatsächlich in unsaubere Geschäfte verwickelt gewesen sein könnte.
Der Dreizehnte war in zwei Tagen. Das Treffen stand also noch bevor, wenn es überhaupt ein Treffen war. Es konnte ja auch der Termin für eine Auktion sein, eine Ausstellungseröffnung, einen Bücherflohmarkt, weiß der Teufel, es konnte alles Mögliche sein, |25|und vielleicht noch nicht einmal in diesem Jahr, vielleicht war es schon lange vorbei. Es gab tausend Möglichkeiten, je harmloser, desto besser, denn dann gehörte diese Nachricht keinesfalls zu den Dingen, die sie Kommissar Sandved unter seiner persönlichen Telefonnummer unbedingt mitteilen musste.
***
|26|Wiedensahl, den 10 ten März 1851
Still sein. Schweigen. Nichts verrathen, sich nichts anmerken lassen – so komme ich durch die Tage. Ich wahre mein Geheimnis gut. Andere vermögen das weniger. Schon macht es die Runde durchs Dorf: Es hat gewittert im Hause Busch. Wilhelm hat sich abgesetzt! Mit dem Ingenieurswesen ist es wohl aus. Wen nimmt es Wunder! Es war ja nur der Wunsch des Vaters. Nun endlich geht er seinen eigenen Weg, weg von der Polytechnischen Schule in Hannover zur Kunstakademie in Düsseldorf. Ich habe den Herrn Pastor gefragt, wo das liegt. Unten im Rheinland, noch ein gut Stück weiter von hier als Ebergötzen. Wie ich den Wilhelm beneide! Gerne wäre ich auch so frei zu gehen, wohin ich will. Aber wir Frauenzimmer haben ja doch immer unsere Fußfesseln mit uns zu schleppen.
Bald zehn Jahre sind vergangen, seit Wilhelm fort ist. Eine viel zu lange Zeit, und viel zu selten haben wir uns gesehen. Ohne seine Briefe wüßte ich gar nichts mehr von ihm. Hier im Dorfe nichts als das triste Tagwerk, waschen, kochen, putzen, den Garten besorgen. Nur mein Geheimnis trägt mich durch die Tage. Das ist mein Schutzschild gegen die höhnischen Blicke. Sie sollen nur abwarten, Wilhelm und ich werden sie noch das Staunen lehren. Das Maul soll ihnen offen stehen, diesem Dummvolk.
Allerdings: Es kränkt mich, daß er nicht einmal mir verrathen mochte, was er plante. Heimlich nach Düsseldorf zu gehen! Er fürchtete wohl, ich könnte mich bei meinen Besorgungen im Krämerladen einmal verplappern. Nie würde ich mich dem Verrath hergeben, unwissentlich nicht und absichtsvoll gleich gar nicht. Ich schweige und warte, denn unser großer Tag muß ja doch einmal kommen, der Tag, wenn wir in ein gemeinsames Leben aufbrechen. Zuvörderst muß Vater Busch noch für seinen Wilhelm zahlen; daß er’s nur zähneknirschend thut, scheint mir sehr wahrscheinlich. Die Mutter wird ihm eingeflüstert haben, den Unterhalt auch fürderhin zu bestreiten. Hat sie doch auch etwas gutzumachen an ihrem Sohn, wenn ich denke: drei Jahre war er nicht daheim, nachdem sie ihn weggegeben haben, und als er zu seinem ersten Besuch heimkehrte – im Sommer 44 war es, ich entsinne mich genau – da erkennt sie ihn nicht! Er gieng an ihr vorüber, als sie auf dem Felde war, und sie erkannte ihn nicht.
Ich werde ihn nicht vergessen. Ich weiß, daß Großes in ihm steckt. Ich warte. Und niemand soll es wagen, sich zwischen uns zu stellen.
|27|-3-
Es geschah etwa gegen neun Uhr morgens. Leo nagte gerade an einer Scheibe Toast, blätterte die Stellenanzeigen der Zeitungen vom vergangenen Wochenende durch und wartete, dass der Kaffee durchlief, als sie das verräterische Geräusch von der Straße hörte. Ein dumpfer Aufprall, ein Knirschen, eine krachend umgelegte Gangschaltung. – Stille. – Dann wurde eine Autotür zugeschlagen. Vom Küchenfenster aus sah Leo einen jungen Chinesen in schwarzen Jeans und Lederjacke im Imbiss verschwinden. Der Lieferwagen, ein weißer Mitsubishi Van, stand in einer Parklücke, die groß genug für einen Lkw gewesen wäre. Aber zwischen seiner Stoßstange und dem misshandelten Straßenbaum hätte sich nicht einmal mehr eine Amöbe hindurchquetschen können. Die Linde musste diese Folter offenbar schon seit geraumer Zeit über sich ergehen lassen, denn wo eine gesunde Rinde hätte sein sollen, klaffte die Borke in Stoßstangenhöhe wie eine Wunde auseinander.
Leo klopfte sich die Krümel von den Händen und ging hinunter.
»Tut mir so leid, aber ist noch nicht geöffnet!« Mit einem bedauernden Lächeln im Gesicht und einem beeindruckenden Messer in den Händen kam Wang Li aus der Küche. Leo ging jedenfalls davon aus, dass der freundlich lächelnde Mann, den sie schon mehrmals im Imbiss gesehen hatte, der Wang Li war, der in asiatisch stilisierten Lettern an der rot lackierten Eingangstür als Inhaber ausgewiesen wurde. Und weiterhin nahm sie an, dass der junge Mann, der regelmäßig Wangs zerbeulten Lieferwagen beim Einparken gegen den Straßenbaum vor ihrem Haus rammte, zu Wang Lis vielköpfiger Familie zählte.
Als Wang Li die Besucherin sah, legte er das Messer beiseite und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab, das er sich in den Hosenbund gestopft hatte.
|28|»Die neue Frau in Professors Wohnung«, rief er erfreut. Dann legte sich unvermittelt ein Schatten auf sein Gesicht.
»Haben toten Mann gehabt gestern? Viel Aufregung! Und keiner da zu helfen. Waren alle in Küche. Nur alte Frauen oben, gehen nie raus, haben immer Angst. Bitte entschuldigen!«
Nichts da. Leo war entschlossen, sich nicht beirren zu lassen. Gar nicht so einfach, denn nahezu alles an diesem Mann wirkte auf Anhieb nett: seine freundlichen Augen, das unermüdliche Lächeln und die Art, wie er sich ihr beim Zuhören leicht zuneigte. Besonders nett fand sie, dass er sogar noch etwas kleiner war als sie selbst.
Der sehnige kleine Mann lächelte mitfühlend. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht und nur vier vollständige Finger an jeder Hand. Rechts fehlte ihm die Kuppe des Daumens, links das erste Glied des kleinen Fingers. Trotz der Kälte trug er lediglich ein weißes T-Shirt und eine Kattunhose. Die nackten Füße steckten in Plastiksandalen.
»Herr Wang Li, nehme ich an?«, fragte Leo.
Er nickte und lächelte weiter.
Leo zeigte entschlossen auf den Van.
»Und das ist Ihr Wagen da draußen?«
»Mein Neffe hat eingekauft. Fährt jeden Tag zum Großmarkt. Bei uns immer alles frisch!«, sagte Wang Li stolz. »Professor hat gern hier gegessen.«
»So. Ja.« Sie räusperte sich. »Ihr Neffe hat offenbar Schwierigkeiten beim Einparken. So ein Straßenbaum hat es schon schwer genug. Seine Wurzeln sind zubetoniert, er bekommt kaum Wasser und er muss die ganzen schädlichen Abgase schlucken und im Winter das fiese Streusalz, da sollte man ihm doch wenigstens Attacken mit der Stoßstange ersparen, finden Sie nicht auch?«
Schwer zu sagen, was Wang Li fand. Er hatte den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und blinzelte.
»Wenn Sie’s nicht für die Linde tun, dann vielleicht für Ihren Wagen«, versuchte Leo es weiter. »Dem bekommt das sicher auch nicht gut. Würden Sie Ihrem Neffen das wohl ausrichten?«
|29|Irgendwo hinter Wang Li in der Küche glaubte sie einen dunklen Schatten wahrzunehmen.
»Das wäre sehr nett!«, sagte sie etwas lauter.
Wang Li lächelte, nickte und schwieg.
»Vielen Dank. Und einen schönen Tag noch.« Leo fühlte sich, als sei sie unter vollen Segeln auf Grund gelaufen. Ziemlich lächerlich.
Trotzdem malte sie ein provisorisches Schild (An alle Autos: Bitte Abstand halten!) und schnürte es der Linde um den Stamm.
Bäume waren die Zuflucht ihrer Kindheit gewesen. Immer, wenn sich die Situation unerträglich zugespitzt hatte, war sie fortgerannt und wie ein Eichhörnchen auf einen Baum geklettert, der möglichst groß und möglichst weit weg von zu Hause war. Ungezählte Stunden hatte sie hoch oben im Geäst zwischen Vogelnestern und Blattlandschaften verbracht und im grünen Licht gebadet, bis alle Ängste und Zweifel wieder auf ein erträgliches Maß geschrumpft waren. Leo duldete es nicht, wenn Bäume litten. Sie fahndete in ihren Umzugskartons noch nach der Dose mit dem Baumharz, wurde fündig und spachtelte eine dichte Schicht auf die Wunde. Aufmunternd strich sie der Linde über die Borke. Wenn sie von nun an in Ruhe gelassen wurde, konnte sie sich wieder erholen.
Wang Li und einige andere verschwommene Gesichter beobachteten sie durch die Scheiben. Sie fanden ihre neue Nachbarin zweifellos etwas überspannt. Leo wischte sich die Hände ab, winkte in ihre Richtung und ging frühstücken.
Eine Stunde später verließ sie mit Rucksack und Fahrrad das Haus. Die Luft war exakt so, wie es sich für einen lausigen Novembertag gehörte: wattig grau und so kalt, dass sie einem beim Fahren die Tränen in die Augen trieb. Leo hielt kurz bei einem kleinen Blumenladen, kaufte Erde und einige Pflanzen, verstaute alles in den Gepäcktaschen und suchte sich ihren Weg durch das Straßengeflecht der Südstadt. Sie folgte der Hildesheimer Straße, bog in die Garkenburgstraße Richtung Messegelände ein und erreichte |30|schließlich den Seelhorster Friedhof, auf dem Onkel Ludwig lag. In der riesigen parkähnlichen Anlage waren Hunde, spielende Kinder und Fahrräder nicht erwünscht. Leo schloss ihr Rad am dafür vorgesehenen Fahrradständer an, lud sich die Gepäcktaschen auf und wanderte durch die Gräberreihen. Die verwelkten Kränze und Gebinde, die vor ein paar Tagen noch auf dem Grab gelegen hatten, waren abgeräumt, die Erde sah schwarz und nackt aus. Auf den nassen Krumen klebte hier und da gelbes Laub. Auffällig hob sich die kleine weiße Marmortafel vom dunklen Untergrund ab. Schmutzspritzer sprenkelten seit dem letzten Regen die Oberfläche und saßen in den Linien der schlichten Inschrift:
Ludwig Heller
* 13. März 1934
† 20. Oktober 2008
Ach, Onkel Ludwig, wie trostlos. Ein unauffälliges Reihengrab, pflegeleicht und komplett bezahlt. Niemand sollte Arbeit oder Kosten haben.
Niemand, das war sie. Leo ließ die Gepäcktaschen zu Boden gleiten und setzte den Rucksack ab.
Er hätte Anspruch auf ein hübsches Plätzchen im Heller’schen Familiengrab in Hamburg gehabt. Aber Leo konnte sich schon denken, was ihn zu seiner Entscheidung bewogen hatte.
Sie schnürte den Rucksack auf, zog eine große Terrakottaschale heraus und machte sich an die Arbeit.
Mit Ludwig hatte es schon immer Ärger gegeben. So lautete der Standardsatz von Leos Mutter, wenn die Rede auf ihren Bruder kam. Was genau passiert war, blieb Leo lange Zeit ein Rätsel. Niemand sprach in ihrer Gegenwart darüber, aber mit den feinen Antennen des Kindes fing Leo die Anklagen und Beschuldigungen auf, die in der Luft lagen, und sie hatte bald begriffen, dass zwischen ihrem Onkel und ihrer Mutter ein wackliger Waffenstillstand herrschte. Aber warum?
|31|Leo mochte Onkel Ludwig sehr gern. Niemand konnte so schön die Streiche von Max und Moritz vortragen wie er. Onkel Ludwig kannte alle Verse auswendig, und Leo war einzig durch seine Imitation der krautvernarrten Witwe Bolte dazu zu bewegen, das verhasste Sauerkraut zu essen, das sonntags auf den Tisch kam.
Leos Liebe zu ihrem Onkel war schuld, dass der Waffenstillstand zwischen den Geschwistern zerbrach. Als sie begann, ihn Papa zu nennen, war für Hanna Heller das Maß voll. »Ihm verdankst du es, dass du keinen Vater hast!« Ansonsten lautete die stereotype Antwort, wann immer Leo nach ihrem Vater fragte: »Wir haben uns getrennt.« Und weil ihre Fragen mit der Zeit immer heftigere Anfälle von Depression hervorriefen, fragte Leo schließlich nicht mehr.
Onkel Ludwig zog aus und kam nur noch gelegentlich zu Besuch. Leo wurde größer und älter und aufmerksamer. Sie besuchte ihren Onkel meist heimlich, denn sie verabscheute den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter, wenn die davon erfuhr. An einem dieser gestohlenen Nachmittage hatte sie schließlich die ganze Geschichte erfahren.
Es war ein drückend heißer Spätsommertag kurz vor Leos neunzehntem Geburtstag. Die Sonne schien milchig durch einen zähen Schleier und die Luft war klebrig vor Feuchtigkeit. Sie hatten einen Spaziergang gemacht, weil es in Onkel Ludwigs Büro noch unerträglicher war. Vor ihnen lag ein kleiner Teich, auf dem matt ein paar Enten dümpelten. Leo und Ludwig setzten sich auf eine Bank am Ufer.
Schon eine ganze Weile hatte sich das Gespräch um seine Arbeit gedreht. Wilhelm Busch oder Leos Erlebnisse in der Schule waren ihre üblichen Themen, sie waren unverfänglich und neutral.
»Was findest du bloß so spannend an diesem alten Busch«, wollte Leo, die nicht viel mehr als die Max-und-Moritz-Geschichte kannte, wissen. Sie hatte keine Ahnung, was sie selbst nach ihrem Abitur anfangen sollte. Onkel Ludwigs Wunsch war es, dass sie Kunstgeschichte und Literatur studierte wie er, und das entpuppte |32|sich als eine seiner wenigen Ideen, mit denen auch Hanna Heller sich anfreunden konnte. Wenn es nach ihr ging, sollte Leo wahlweise reich heiraten oder ihr Leben mit erlesenen Dingen anfüllen. Am besten beides. Sotheby’s und Christie’s waren betörende Namen für ihre Mutter, die ihre Tochter schon inmitten der feinen Gesellschaft Kontakte knüpfen und Geschäfte abschließen sah. Rückblickend war sich Leo durchaus bewusst, dass ihr Entschluss, Gartenbau zu studieren, sehr viel mit Trotz zu tun hatte. Damals aber wusste sie gar nichts.