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»Wieso ausgerechnet Busch? Lohnt es sich, sein halbes Leben an so einen alten Zausel zu verschwenden?«
Onkel Ludwig hatte sich mit der Antwort Zeit gelassen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hose, nahm seinen Strohhut ab und wischte sich die Stirn trocken. Dann setzte er den Hut wieder auf.
»Zufall«, sagte er schließlich. »Es war reiner Zufall, was den Erstkontakt angeht. Wie das eben beim Studieren so passiert. Du schreibst eine Hausarbeit, in dem du jemanden erwähnst, weckst das Interesse deines Professors, der regt an, dies und jenes eingehender zu untersuchen – und schon steckst du mittendrin. Aber dass ich dabei geblieben bin, das liegt an Buschs persönlicher Geschichte. Wilhelm Busch ist nicht nur der, den alle zu kennen glauben, er ist mehr.«
Ungeduldig wedelte Leo eine Fliege weg, die ihr beständig um den Kopf schwirrte. Das war doch bloß kryptisches Gerede, nichts als heiße Luft.
»Was soll er denn sonst sein«, sagte sie gereizt. »Jeder ist so, wie er ist. Du bist Ludwig Heller und ich Leo.«
»Klare Verhältnisse, ja? Du bist so geradlinig, Leo. Das mag ich an dir. Aber das ist auch dein Problem.«
»Ich sehe nicht, was daran problematisch sein soll. Mein Leben ist schon kompliziert genug. Ich muss sowieso langsam los, Mama ist bestimmt schon unruhig.«
Es war eine Scheißidee gewesen, an einem Tag wie diesem herzukommen. |33|Die Hitze machte sie verrückt und bissig wie die verdammten Fliegen.
Onkel Ludwig jedoch hatte seelenruhig die Hände auf seinem Bauch gefaltet, über dem sich die helle Leinenweste merklich spannte, und deutlich gemacht, dass Hanna, wenn sie denn auf Leos Rückkehr wartete, sich noch ein Weilchen gedulden musste.
»Was fällt dir zu Wilhelm Busch ein? Du hast ein fertiges Bild im Kopf, nicht wahr?«
Leo antwortete mit einem Schulterzucken und scharrte missmutig mit ihrer Schuhspitze in der staubigen Erde herum.
»Ein Bild, das alle kennen«, fuhr Onkel Ludwig fort. »Das von dem einsiedlerischen alten Junggesellen, der in seinem Dorf hinter dem Ofen hockt, Pfeife schmaucht und Bildergeschichten kritzelt. Das ist die eine Geschichte.«
Er wischte sich erneut mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sein Atem ging schwer, und Leo warf ihm von der Seite heimlich einen besorgten Blick zu.
»Die andere geht so: Ein Teenager setzt sich gegen den Willen seines Vater von der Schule ab, um Kunst zu studieren. Aber dann gibt er es auf, den alten Meistern nachzueifern. Er zieht in die Welt hinaus – ich würde mal sagen, München ist schon eine ganz hübsche Herausforderung für jemandem vom flachen Land –, schlägt sich als Zeichner durch, hat unverhofft Erfolg. Er erweist sich als scharfzüngiger Beobachter, entdeckt, dass er ebenso gut mit Worten wie mit dem Kohlestift umgehen kann. Er genießt das Münchner Nachtleben, die Gunst der Frauen, die Eindrücke von Reisen, anregende Briefwechsel. Und das tut er zeitlebens. Aber immer wieder kehrt er zurück in die provinzielle Einsamkeit.«
Onkel Ludwig nahm seinen Strohhut ab und drehte ihn in den Händen. Auf seiner Stirn zeichnete sich ein roter Streifen ab, wo das Hutband zu straff gesessen hatte. Er hielt die Augen auf den Teich vor ihnen gerichtet und wandte kein Auge von den Enten, während er weiterredete.
»Weltbürger hier, Einzelgänger da, Maler, Dichter, Hagestolz, |34|Provinzler, Rosenliebhaber, Bienenzüchter, es sind zahllose Etiketten, die ihm aufgeklebt wurden, du kannst sie dir aussuchen. Aber wer ist der wahre Wilhelm Busch, Leo?«
»Weiß ich doch nicht.« Es interessierte sie ungefähr so sehr wie die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Quantenphysik. Sie wusste ja nicht einmal, wer sie selbst war.
»Ich möchte, dass du begreifst, dass es immer noch eine andere Version von den Dingen gibt als die, die wir kennen«, sagte Onkel Ludwig. »Die eine Geschichte ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Manchmal wäre es angenehmer, die andere nicht zu erfahren. Aber irgendwann drängt sie doch hervor.«
Leo ahnte, dass sie gar nicht mehr von Wilhelm Busch sprachen.
»Was soll das? Worum geht es hier eigentlich?«
Ihr war heiß, sie war nervös und angespannt bei dem Gedanken, dass ihre Mutter wahrscheinlich schon auf sie wartete.
»Es geht darum, dass du und deine Mutter eigentlich in der Heller’schen Villa wohnen und ein sorgenfreies Leben führen solltet.«
Leo warf ihrem Onkel einen ungeduldigen Blick zu. »Ich weiß. Die alte Leier. Sie wird ja nicht müde, das ohne Ende zu wiederholen. Aber vielleicht verrät mir endlich mal jemand, warum das nicht der Fall ist.«
»Ja«, sagte er, »ich denke, es wird Zeit. Wenn sie es nicht tut, tue ich es.«
Leo rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab. Sie wollte es lieber doch nicht wissen.
»Deine Großeltern, Leo, führten ein Handelskontor. Im Krieg hatten sie zwar alles verloren, aber danach schafften sie es mit hanseatischer Nüchternheit und Strenge in kürzester Zeit, ihr Vermögen wieder aufzubauen. Sie hinterließen Hanna und mir beachtliche Werte in Form von Grundbesitz und Wertpapieren.«
Er schwieg einen Moment und ließ zwei Spaziergänger passieren. Einige Enten flatterten schnatternd auf, zogen in einem flachen Halbkreis dicht über dem Wasser dahin und ließen sich in einiger Entfernung nieder. Als wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr er fort:
|35|»Man kann sagen, dass wir ziemlich wohlhabend waren. Und naiv, oh mein Gott! Ich hatte da so einen Traum, weißt du, von einer Privatschule, die sich zu einem Institut mausern sollte und dann, in goldener Zukunft, zu einer kleinen, aber feinen Privatuniversität. Es war gar nicht schwer, Hanna zu überreden, unser gemeinsames Erbe in ein riskantes Immobiliengeschäft zu stecken.«
»Und dann?«, fragte Leo gegen ihren Willen, obwohl sie die Antwort kannte. Onkel Ludwig reckte den Hals, als gäbe es hinten bei den Enten etwas sehr Interessantes zu beobachten.
»Es ging den Bach runter. Gründlich. Wir mussten die Villa verkaufen und hatten trotzdem noch einen Haufen Schulden am Hals. Das heißt, ich hatte sie am Hals, denn ich war schließlich schuld an dem Dilemma. Allerdings brach es nicht unvermittelt über uns herein. Unser Schiffbruch zog sich über zwei Jahre hin. In dieser Zeit lernte deine Mutter einen viel versprechenden jungen Mann aus Diplomatenkreisen kennen.«
»Meinen Vater«, warf Leo ein. Ihr Onkel nickte.
»Er war begeistert von Hanna und der vermeintlich aussichtsreichen Zukunft. Leider nur so lange, bis unser Ruin nicht mehr zu verheimlichen war. Dann löste er vorsichtshalber die Verlobung und verschwand. Später bekam ich heraus, dass er die erstbeste Möglichkeit genutzt und sich nach Ceylon hatte versetzen lassen.«
»Sie war schwanger mit mir«, stellte Leo nüchtern fest. Diesen Teil der Geschichte kannte sie bereits, nur der Grund für das Verschwinden ihres Erzeugers war immer verschwiegen worden. Hanna hatte sich in tränenreiche Ausbrüche geflüchtet, wann immer Leo nachfragte.
»Und? Warum habt ihr ihn nicht unter Druck gesetzt? So etwas wie Unterhaltspflicht gab es doch auch damals schon.«
»Deine Mutter ist stolz«, sagte Onkel Ludwig nur. »Sie hätte standesgemäß heiraten und einem gepflegten großen Haushalt vorstehen sollen. Niemand hatte sie auf das Leben vorbereitet, das sie nun führen musste. Sie gehört zu einer anderen Generation, Leo. |36|Frauen wie deine Mutter wurden nicht dazu erzogen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.«
Hanna musste zumindest aus der Ferne die 68er miterlebt haben, und da klammerte sie sich immer noch an der Rolle der höheren Tochter aus gutem Hause fest? Leo konnte es nicht begreifen. Aber ihre Familie war ja schon immer irgendwie anders gewesen.
»Unsere Rettung damals war mein Lehrauftrag hier an der Hochschule«, schob sich Onkel Ludwigs Stimme in ihre Gedanken. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, als ich ihn bekam. Wir zogen in die Mietwohnung, die ihr beide euch jetzt teilt.«
Leo erinnerte sich an ihre ersten Kinderjahre, an die Zeit zu dritt, und dachte, dass die Situation nach ihrer Geburt bestimmt nicht einfacher geworden war. Von da an war für ihre Mutter erst recht nicht daran zu denken gewesen, sich eine Arbeit zu suchen, und es blieb ihr unangenehm viel Zeit, sich auf ihre Tochter zu konzentrieren.
»Es war schöner, als du noch bei uns warst«, sagte Leo leise. Sie nahm Onkel Ludwigs Hand, und er erwiderte ihren Händedruck.
»Deine Mutter hat mir keine Wahl gelassen.«
»Das wusste ich nicht. Nicht so direkt, meine ich. Aber ich habe es wohl geahnt.«
»Ja«, sagte Ludwig. »Das hast du wohl. – Siehst du, so ist das. Es gibt immer noch eine zweite Geschichte.«
Im Licht dessen, was Ludwig ihr an jenem Nachmittag erzählt hatte, begann Leo, rückblickend vieles besser zu verstehen. Sie besuchte Ludwig nach wie vor nur heimlich, es war besser, wenn ihre Mutter davon nichts wusste. Einen von beiden schien sie immer zu verraten. Dann nahmen Studium und Praktika Leos Zeit immer mehr in Anspruch, und irgendwann schliefen die Besuche ganz ein.
Dass Leo weder ein allzu schweres Bündel mit Schuldgefühlen mit sich herumschleppte noch auffällige Zwangsstörungen entwickelte, lag sowohl an einer gewissen Robustheit als auch an ihrer Freundin Katie.
|37|Katarina Singer studierte Medizin und ein paar Semester Psychologie und genoss es, ihre frisch erworbenen Kenntnisse auf Leo anzuwenden. Sie wusste, dass Leo ohnehin nichts davon glauben würde, also konnte es auch keinen Schaden anrichten. Was wirklich half, war das gemeinsame Studentendasein, der Unialltag, das ganz normale Leben. Und, natürlich, auch die mit endlosen Diskussionen angefüllten alkoholgetränkten Nächte.
Leo hatte endlich erkannt, dass ihre Mutter krank war. Mehrmals hatte Hanna Heller sich wegen Depressionen bei einem alten Freund der Familie in Behandlung begeben. Während Leo jetzt das tote Laub von Ludwigs Grab scharrte, erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Katie auf der Schwelle von Irschingers Praxis. Anfangs begleitete Leo ihre Mutter zu den Sitzungen bei Irschinger und holte sie später wieder ab, bis Hanna dann schließlich in ein Heim wechseln musste.
Joseph Irschinger war ein Kriegsgefährte ihres längst verstorbenen Großvaters und der einzige Arzt, zu dem Hanna Heller Vertrauen hatte, was Leo mehr als merkwürdig fand. Sie selbst hatte als Kind vor diesem hageren Mann mit den durchdringenden blauen Augen immer Angst verspürt, auch dann, wenn er ihr kleine Geschenke mitbrachte wie den Bernsteinbrocken, der immer noch als Briefbeschwerer auf ihrem Schreibtisch lag. Joseph Irschinger musste inzwischen weit über achtzig sein; das letzte Mal waren sie sich bei der Beerdigung von Leos Mutter begegnet. Irschinger und Ludwig Heller waren sich meist aus dem Weg gegangen. Vielleicht vermied Onkel Ludwig eine Begegnung, weil er sich für den Geisteszustand seiner Schwester mitverantwortlich fühlte. Doch als er starb, schrieb Irschinger einen freundlichen Brief an die liebe Leonore mit einer Einladung nach München.
Sie hätte ihn längst schon einmal besuchen sollen und nahm sich vor, nicht so lange zu warten, bis es zu spät war wie bei ihrem Onkel.
Das brachte sie wieder zurück an das unscheinbare Grab und in die Kälte dieses nebligen Novembertages. Leo fing an, den Efeu in |38|der Schale zu arrangieren und dann die Wurzelknollen sorgfältig mit Erde zu bedecken. Ein paar Grünpflanzen waren ein jämmerlicher Dank für das, was Onkel Ludwig getan hatte. Sein Leben lang hatte er für Hanna und ihre Tochter gesorgt. Er beglich die Miete, unterstützte Leo während des Studiums und übernahm schließlich einen Großteil der Kosten für das teure Pflegeheim, in dem ihre Mutter die letzten Jahre ihres Lebens in geistiger Verwirrung verbrachte. Mit ihren sporadischen Verdiensten als Aushilfsgärtnerin hätte Leo das niemals finanzieren können. Die monatlichen Kosten konnten einen Menschen mit einer Strumpfmaske über dem Gesicht und einer Schreckschusspistole in der Hand in die nächste Bankfiliale treiben. Bevor Leo eine kriminelle Karriere startete, opferte Onkel Ludwig seine Ersparnisse und die Lebensversicherung, die er hatte. Für Hanna war das Beste gerade gut genug. Wenigstens am Ende ihres Lebens sollte seine Schwester bekommen, was ihr nach ihrer Meinung immer zugestanden hatte, auch wenn sie davon nichts mehr begriff.
Wie schnell dann alles gegangen war. Leo hielt inne, um sich geräuschvoll die Nase zu putzen. – Verdammte Kälte.
Erst Hanna, dann Onkel Ludwig. Von seinem Tod hatte Leo erst nach der Beerdigung erfahren. Zu der Zeit befand sie sich gerade auf einem Fortbildungsseminar auf der Insel Mainau. Das hatte sie dem Gartenbaubetrieb, der ihr kurzfristig gekündigt hatte, noch als Abfindung abtrotzen können.
Erst in Hamburg hatte Leo einen Anruf von Onkel Ludwigs Anwalt erhalten und die Unglücksgeschichte mit Hans, dem Raben, erfahren. Den geschraubten Worten des Testamentsvollstreckers hatte sie entnommen, dass es außer der Wohnung kaum etwas zu erben gab. Ludwig Hellers Reserven waren bis auf klägliche fünftausend Euro aufgebraucht. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dieser Mitteilung hatte den Mann ziemlich irritiert. Aber immerhin konnte sie die überfällige Miete und die aufgelaufenen Schulden bezahlen. Blieben noch dreitausendachthundert übrig. Leo fühlte sich eigentlich fast reich.
|39|Auf vertrackte Weise hing immer alles am Geld. Der Absturz aus dem Wohlstand hatte die Krankheit ihrer Mutter zum Ausbruch kommen lassen. Und das dramatische Augenrollen des Bankangestellten, der sich weigerte, Leos Kreditrahmen zu erhöhen, hatte letztlich dafür gesorgt, dass sie sich in Onkel Ludwigs Wohnung wiederfand. Mit allen Konsequenzen, die dazugehörten, wie toten Ratten und ebenso toten Antiquaren.
Zu allem Übel musste sie feststellen, dass die Vergangenheit immer noch nicht abgehakt war. Etwas nicht klar Erkennbares lag wie ein Schatten auf Onkel Ludwigs Grab und drängte sich dreist in die Gegenwart hinein, als wollte es Leo daran erinnern, dass sie noch etwas gutzumachen hatte.
Okay, dachte Leo und setzte die fertig bepflanzte Schale auf das Grab. Sie würde Onkel Ludwig aus den Ermittlungen der Polizei heraushalten, was immer auch dahinter steckte. Dass es ihre Sache war, genau das herauszufinden, stand fest.
Dunkelgrün hing der Efeu über das Terrakotta und umrahmte mit seinen Ranken ein Büschel weißer Heide. Dahinter hatte Leo einen Zwergwacholder gesetzt, der winzig kleine Beeren trug. Alle Pflanzen waren winterfest und sollten in dieser Schale ohne weiteres den Frost überstehen. Leo brachte das Laub weg, wusch sich die Hände im eiskalten Brunnenwasser und verabschiedete sich mit dem stummen Versprechen, wiederzukommen und zu berichten, wie die Dinge liefen.
Niemand begegnete ihr auf dem Weg zum Ausgang. In der Luft lag der Geruch von Holzfeuer und brennenden Laubhaufen; zwischen den Bäumen hing Nebel.
Auf dem Rückweg entdeckte Leo in der Fiedelerstraße eine Buchhandlung und erstand eine Radwanderkarte der Stadt und der angrenzenden Landkreise. Eine Weile trödelte sie noch in verschiedenen Geschäften herum und kaufte Batterien für das Fahrradblinklicht, eine Flasche Rum, Orangen, Schokolade und eine Wollmütze, nachdem ihr auf dem Rad fast die Ohren abgefroren waren.
|40|Als Leo vor dem Haus ankam, war es bereits dunkel. Ein anderer Wagen stand jetzt in der Parklücke vor der Linde und hielt artigen Sicherheitsabstand zu dem Baum. Bei Wang Li herrschte Hochbetrieb. Leo warf einen Blick durch das Fenster und sah voll besetzte Tische. Auch am Tresen warteten Leute, die ihre bestellte Mahlzeit abholen wollten. Leos Magen erinnerte sie knurrend, dass er seit dem Frühstück nichts bekommen hatte. Es fing an zu regnen, als sie das Fahrrad durch die Toreinfahrt auf den dunklen Hinterhof schob.
Plötzlich öffnete sich die Tür der Imbissküche und eine Lichtschneise fiel über den Hof. Wang Lis Neffe sprintete mit einem Abfalleimer durch den Regen, leerte den Kübel in einen der Container und hastete zurück. Als er Leo entdeckte, warf er ihr einen eisigen Blick zu.
Leo kettete ihr Fahrrad unter der Feuertreppe an. Dieser bizarren Außentreppe aus Stahl hatte sie in gewisser Weise die Aufmerksamkeiten der lästigen Bulldogge zu verdanken. Nachdem sie sich anfangs noch gewundert hatte, wie das Tier aus der verschlossenen Wohnung in das Treppenhaus gelangen konnte, erwischte sie den Hund auf frischer Tat. Sie war gerade dabei, die zweite Ratte in einem der Müllcontainer auf dem Hinterhof zu beerdigen, als der Mörder auf krummen Beinen durch die Toreinfahrt tappte, die Feuertreppe auf der rückwärtigen Seite des Hauses erklomm und durch eine Klappe in der Wohnung im zweiten Stock verschwand. Sehr praktisch, diese Feuertreppe, und irgendwie amerikanisch, hatte Leo gedacht und einen Eimer Blumenerde über den Kadaver gekippt.
Aus der Hundewohnung quetschte sich ein schwacher Lichtschein unter der Tür hindurch, als Leo jetzt hinaufging. Auch in der Wohnung gegenüber schien inzwischen jemand zu sein, denn leise Klaviermusik war zu hören. Im schummrigen Treppenhauslicht studierte sie das Türschild: Eine Ruth Herwig wohnte unter ihr.
Leo bog um die Ecke, stieg die letzten Stufen hoch und blieb am Ende der Treppe wie angewurzelt stehen.
|41|Was für eine Überraschung. Die Ratte des Tages.
Der kleine Kadaver lag hübsch drapiert an der Stelle der nicht mehr vorhandenen Fußmatte. Fehlte nur noch ein Apfelschnitz im offenen Maul und die Aufforderung, es sich schmecken zu lassen, unterschrieben mit einem Pfotenabdruck.
Zwei Minuten später klingelte Leo an Ostermanns Tür. Aufgeregtes Bellen brach los. Kaum öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, versuchte die Bulldogge ihren Kopf hindurchzuzwängen. Ein Filzpantoffelfuß schob sie beiseite. Das Gesicht, das jetzt erschien, war stark gerötet, auf der Stirn glitzerten Schweißperlen. Leo beobachtete fasziniert, wie sich die Augen hinter den runden Brillengläsern plötzlich verengten, wie sich die rosige Haut in Falten legte und die Nasenflügel zu beben begannen. Hastig trat sie zurück, bevor sie die Druckwelle eines gewaltigen Niesers mit voller Wucht abbekam.
»Gesundheit.«
»Verzeihung – danke – ich meine …« Leos Nachbar blinzelte hektisch, bis er eine Brille hervorgefingert und aufgesetzt hatte. Paul Ostermann war ziemlich kurzsichtig, von kräftiger Statur, oberhalb der Ohren fast kahl und im Übrigen stark erkältet. Er hatte sich einen senfgelben Wollschal um den Hals gewickelt, meterlang, struppig befranst und vermutlich original siebziger Jahre. Unter dem weißen Saunabademantel zeichnete sich ein beachtliches Bäuchlein ab, das zu seinen runden Wangen passte.
»Das hier gehört Ihrem Hund, glaube ich«, sagte Leo und hielt ihm die in Zeitungspapier eingewickelte Ratte unter die gerötete Nase.
»Was zum …« Ostermann nieste erneut, die Bulldogge versuchte mittlerweile, an Leo hochzuklettern. Ein Fußtritt seines Herrchens beförderte das Tier wieder in die Ecke, was seine Begeisterung aber nicht weiter dämpfte.
»Halt die Klappe!«, fuhr Ostermann den Hund an, der sich davon nicht im mindesten beeindrucken ließ.
»Entschuldigen Sie! Er bellt sonst nur, wenn ich aus der Wohnung gehe, wahrscheinlich hat er immer Angst, dass ich |42|nicht wiederkomme. Aber das hier ist Freudebellen. Ich glaube, er mag Sie.«
Der gedrungene Hundekörper zitterte vor Aufregung, der Schwanz trommelte auf den Fußboden. Ostermann wurde unterdessen von einer neuen Niessalve geschüttelt.
Leo schlug das Zeitungspapier auseinander, um sicherzugehen, dass er den Inhalt auch zur Kenntnis nahm.
»Oh nein. Er hat es also wieder getan.« Ostermanns Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Mit einem müden Blick auf die Ratte schnäuzte er sich.
»Rufus, du Mistköter!« Das Bellen verstummte für einen Moment, um dann mit unverminderter Euphorie weiterzugehen.
»Sie sind die neue Nachbarin von oben, nicht wahr? Es tut mir schrecklich leid, ich weiß einfach nicht, wie ich Rufus davon abhalten soll. Manchmal vergesse ich, die Hundeklappe dichtzumachen, aber andererseits kann ich ihn doch auch nicht immer einsperren! Ich habe ihn erst im August aus dem Tierheim geholt. Ich fürchte, es handelt sich bei ihm um eine gestörte Persönlichkeit. Das mit den Ratten hat er schon beim Professor gemacht. Sie werden das wahrscheinlich nicht besonders charmant finden, aber die Ratten sind so etwas wie ein Zeichen seiner Wertschätzung.«
Er breitete entschuldigend die Hände aus. »Offenbar hat Rufus seine Zuneigung auf Sie übertragen.«
Der Hund war unterdessen langsam wieder näher gerobbt. Er sah Leo aus glänzenden schwarzen Augen an und ließ seine rosa Zunge aus dem Maul hängen. Sie beugte sich zu ihm hinunter.
»Du bist pervers, weißt du das? Ratten werden von Katzen gefangen, nicht von Hunden. Du bist für den Briefträger zuständig.«
Er drehte sich wonnevoll auf den Rücken und zeigte seinen runden Bauch.
Ostermann streckte die Hand nach dem Päckchen aus. »Geben Sie es mir. Ich bringe es auf den Müll.«
»Schon gut. Das erledige ich selbst. In Ihrem Zustand gehen Sie besser nirgendwo hin.«
|43|Er sah an sich herab und zupfte an den senfgelben Fransen herum, die ihm vor dem Bauch hingen. »Entschuldigen Sie meinen Aufzug. Ich habe eben ein Dampfbad genommen.« Er lächelte kläglich. »Ich fürchte, ich habe mir einen miesen Grippevirus eingefangen.«
Leo zog sich unauffällig weiter auf den Flur zurück. »Dann gute Besserung. Versuchen Sie, Ihren Hund doch wenigstens ein bisschen im Auge zu behalten, ja? Guten Abend.«
Es goss in Strömen, als Leo über den Hof zu den Müllcontainern und zurück flitzte. Der Regen hatte sich zu einem wilden Wolkenbruch gesteigert. Sie war froh, als sie endlich ihre Tür hinter sich schließen konnte. Ihr war kalt, sie fühlte sich auf einmal erschöpft und auf unbestimmte Weise traurig.
In der Küche füllte sie einen Topf mit Kartoffeln und Wasser und setzte ihn auf den Herd. Auf dem Weg ins Bad knipste sie alle Lichter an und stellte die Heizung höher. Unter dem heißen Wasserstrahl der Dusche entspannte sie sich allmählich. Sie schlüpfte in ein warmes Fleeceshirt und ausgeleierte Hosen und zog sich Wollsocken über die Füße.
In der Küche duftete es nach frisch gegarten Kartoffeln. Leo pellte sie, verteilte großzügig Butterflöckchen darauf, kochte noch eine Kanne Pfefferminztee und machte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem. Der Regen rauschte immer noch an den Fenstern hinunter.
Während Leo aß, sah sie sich die Landkarte an, die sie gekauft hatte. Sie wusste nicht genau, wonach sie suchen sollte, aber eines schien ziemlich sicher: Der Ort, an den Onkel Ludwig bestellt werden sollte, musste irgendwo in der Nähe liegen. Der Termin war schon morgen, und gestern hatte der Antiquar ihren Onkel aufsuchen wollen. Wenig Zeit also, um großartig herumzureisen.
Sie holte Jablonskys Notiz vom Schreibtisch.
13/11 Ma t. Wied hl.
Ein Ortsname mit Ma oder Wied am Anfang. Im ersten Fall kurz und mit einem t am Ende, im zweiten Fall etwas länger. Leo seufzte. |44|Die Karte hatte kein alphabetisches Ortsverzeichnis; sie musste ein Planquadrat nach dem anderen absuchen. Systematisch arbeitete sie sich vor und hatte bald alles gründlich nach verdächtigen Ma-Orten durchforstet, ohne Erfolg. Dann also W. Sie zog die Karte näher heran und kaute nachdenklich.
Wie. Oder Wie hl?
Wietze. Wiedenrode. Wiedenbrügge. – W’s ohne Ende. Sie suchte weiter. Wiesenfeld. Wiebrechtshausen. Wiedensahl.
Leo schluckte einen Mund voll Kartoffeln hinunter.
Wiedensahl. – Woran erinnerte sie das?
Sie schob den Teller beiseite, ging zur Bücherwand, griff sich die erstbeste Busch-Biografie und schlug die Übersicht mit den Lebensdaten auf.
Da stand es schwarz auf weiß: Heinrich Christian Wilhelm Busch, geboren am fünfzehnten April 1832 um sechs Uhr morgens in Wiedensahl nordwestlich von Stadthagen.
Triumphierend klappte Leo das Buch zu. Das war es! Wiedensahl, der Geburtsort von Wilhelm Busch. Onkel Ludwig musste ihn oft genug erwähnt haben, sodass er schließlich Einlass in ihr Unterbewusstsein gefunden hatte.