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Leo richtete sich wieder in ihrer Sofaecke ein und trank einen Schluck Tee. Warum sollte Onkel Ludwig nach Wiedensahl kommen? Vielleicht hatte dieser Kommissar Sandved doch recht, und es ging wirklich um eine Hinterlassenschaft von Busch, die Jablonsky aufgetan hatte und die Ludwig sich ansehen sollte.
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Leo studierte die Karte. Auf Landstraßen bis zur Autobahn Dortmund–Berlin, dann über eine Brücke darüber hinweg. Durch eine Reihe von Dörfern nach Stadthagen, von dort Richtung Nordwesten; der Weg führte in einen Forst und durchquerte ihn an seiner schmalsten Stelle. Schaumburger Wald, las sie. Gleich dahinter lag Wiedensahl.
Leo versuchte die Strecke abzuschätzen. Dreieinhalb Stunden mit dem Rad, vielleicht vier. Es würde ein anstrengender Tag werden. |45|Und wenn es nicht aufhörte zu regnen? Es gab eine Bahnverbindung nach Stadthagen. Von dort konnte man sicherlich mit dem Bus weiterkommen. Aber das war der Notplan. Wenn es irgend ging, würde sie das Rad nehmen. Sie fühlte sich besser, wenn sie sich körperlich anstrengte. Das war einer der wenigen Punkte, in denen Leo und Doktor Katie Singer einer Meinung zu sein pflegten: Je munterer die Endorphine, desto besser die Stimmung. Merkwürdigerweise hatte ihre Freundin diese Regel nie auf sich selbst bezogen; sie hasste körperliche Betätigung.
Leo griff nach Onkel Ludwigs Adressbuch und schlug die Seite mit dem Eselsohr auf. Sie sah sich noch einmal die Karte an. Der Ort, wo Katie jetzt lebte, war gar nicht weit von Wiedensahl entfernt. Katarina Singer hatte vor zwei Jahren die Leitung eines Heimes für geistig verwirrte Senioren übernommen. Es war in einem alten Forsthaus untergebracht, wie Leo von gemeinsamen Bekannten erfahren hatte, und lag irgendwo im Schaumburger Wald.
Leos Finger fuhr suchend die Karte ab. Tatsächlich, es war eingezeichnet. Die Wald-Residenz musste es sein.
Ob es das war, was die mondäne und lebenshungrige Katie sich erträumt hatte?
Ich könnte sie besuchen, dachte Leo. An der Gesamtstrecke gemessen wäre es nur ein kleiner Umweg. Zwei lange Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Vielleicht war genug Zeit vergangen, um einen neuen Anfang zu machen. Sie und Katie hatten schließlich eine gemeinsame Geschichte. Dummerweise kam auch der gleiche Mann darin vor.
Leo verbot sich jeden weiteren Gedanken daran und holte sich noch eine Portion Kartoffeln. Nach dem Essen stellte sie zusammen, was sie für den nächsten Tag brauchte. Sie steckte die Karte ein, stellte eine Thermoskanne für Tee bereit, füllte ein kleines Fläschchen mit Rum ab und packte es zusammen mit der Schokolade in den Rucksack. Regenjacke, Regenhose, Flickzeug, Fahrradblinklicht. Alles da, gut. Zum Schluss steckte sie noch die Digitalkamera ein. Ursprünglich hatte an der Wand neben Onkel Ludwigs |46|Schreibtisch ein Bild von Wilhelm Busch gehangen, der Nachdruck eines Ölgemäldes, das eine Dorfstraße mit windschiefen Bauernkaten zeigte. Leo hatte es abgenommen, weil sie die düsteren braunen und grauen Farben so deprimierend fand, und es hinter den Schreibtisch geschoben. Die Pinnwand, die sie stattdessen aufgehängt hatte, war voll mit Fotos und Farbausdrucken: Steingärten, japanische Gärten, Naturgärten, Wassergärten, verwilderte Gärten, englische Gärten, Bauerngärten. Eine optische Erinnerung, damit sie nicht aus den Augen verlor, was sie eigentlich wollte: grüne Lebenswelten schaffen.
Sie musste früh aufbrechen, wenn sie sich in Ruhe umsehen wollte. Bis fünfzehn Uhr sollte sie es auf jeden Fall nach Wiedensahl schaffen. Ein Weilchen brütete sie noch über Jablonskys Notiz. War diese Backstube ein Café, in dem ein Treffen stattfinden sollte? Eine Galerie, in der um fünfzehn Uhr eine Ausstellung eröffnet wurde? Andererseits: Eine offizielle Einladung war diese Kritzelei wohl kaum. Leo sah dem kommenden Tag mit einiger Neugier entgegen. Sie überlegte, ob sie sich einen Schluck Rum als Schlummertrunk gönnen sollte, doch auf halbem Weg in die Küche wurde sie von der Türklingel gestoppt. Jemand läutete einmal zaghaft, dann etwas beherzter.
Leo hatte das letzte Mal noch in unguter Erinnerung. Wer oder was würde jetzt vor ihrer Tür liegen? Sie hatte weder Lust auf Leichen noch auf späten Besuch.
Trotzdem öffnete sie und wich unwillkürlich zurück, als sie sich Ostermann gegenübersah, der sich mit einer Hand die Nase putzte und in der anderen einen regennassen Blumenstrauß hielt.
»Als Entschuldigung, auch im Namen von Rufus. Und als Willkommensgruß, sozusagen«, schnorchelte er. »Ich hoffe, Sie sind uns nicht mehr böse. Ich …« Und schon wurde er von einer neuen Niesattacke unterbrochen.
Einen Cent für jeden Idioten, der ihr in den nächsten zehn Tagen noch über den Weg lief, und sie wäre reich. Leo packte Ostermann |47|am durchnässten Ärmel seines Mantels und zog ihn in die Wohnung.
»Sind Sie lebensmüde? Bei diesem Wetter und in Ihrem Zustand draußen herumzulaufen!«
»Nur bis zum Blumenladen«, krächzte er. »Mein Auto ist nicht angesprungen, und deshalb …«
»Wollten Sie sich den Tod holen. Es gibt zuverlässigere Methoden, als sich zu Tode zu niesen.« Sie nahm ihm die Blumen und den Mantel ab.
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen«, protestierte er.
»Sie tropfen aber alles voll, wenn Sie so stehen bleiben.«
Sie warf den Mantel über einen Küchenstuhl und reichte ihm ein Handtuch. »Für Ihre Haare.«
Ostermann lächelte und setzte seine beschlagene Brille ab.
»Das haben Sie nett gesagt.«
Ostermann hatte ein glattes, altersloses Gesicht, doch sein Schädel war nahezu kahl. Dabei war er vermutlich noch gar nicht so alt, Leo schätzte ihn auf Anfang vierzig. Als er sich trocken rieb, bemerkte sie, wie gepflegt seine Hände waren, die Nägel rosig und kurz geschnitten. Wenn Ostermann lächelte, wirkte er sehr sympathisch. Lächelte er nicht, hatten seine Augen einen leicht besorgten Ausdruck, als würde er sich ständig fragen, ob auch alles in Ordnung sei.
Ganz der freundliche Nachbar von nebenan, dachte Leo. Einer, dem man mit Freuden die Wohnungsschlüssel aushändigte, um unbesorgt in Urlaub zu fahren und der auch immer ausreichend Kaffee oder Zucker da hatte, wenn man mal gerade welchen brauchte. Ein schrecklich netter Typ eben. Der einem irgendwann furchtbar auf die Nerven ging, wenn er sich mitfühlend erkundigte, ob man schlecht schlief, weil das Licht die ganze Nacht brannte oder zum tausendsten Mal die Post mitbrachte – sehen Sie nur, meine Liebe, Tante Hilde hat Ihnen wieder geschrieben! –, weil der Briefträger ihm zufällig gerade begegnet war.
Ostermann setzte seine Brille wieder auf.
|48|»Es tut mir wirklich leid, dass Rufus Sie belästigt hat, und ich …«
»Ist gut jetzt, ich glaub’s Ihnen ja.«
Leo goss ihm einen Becher mit Tee ein und gab einen Schuss Rum dazu. »Hier, trinken Sie das. Das wärmt Sie auf.«
»Oh, danke.«
Sie bemerkte, wie aufmerksam er sich umsah, während sie nach einer Vase für die Blumen suchte. Es waren verschiedene Rosen in satten Gelb-, Rot- und Orangetönen.
»Wirklich schön. Vielen Dank.«
Sie stellte die Vase auf den kleinen Wohnzimmertisch und setzte sich. Ostermann nahm in einem der beiden Sessel ihr gegenüber Platz und blies in seinen dampfenden Becher.
»Nett haben Sie’s hier«, sagte er. »Aber insgesamt haben Sie nicht viel verändert, oder?« Er beugte sich ein Stück über den Tisch. »Um ehrlich zu sein – vorhin hatte ich für einen Moment das Gefühl, Professor Heller würde noch leben. Halten Sie mich bitte nicht für neugierig, aber …«
Für was denn sonst, dachte Leo.
»Haben Sie das alles hier übernommen?«
»Ja.«
Er wartete einen Augenblick. Leo sagte nichts weiter und Ostermann räusperte sich.
»Also … ich habe von Wang Li gehört, dass es gestern Ärger gab. Und heute Mittag war die Polizei bei mir. Der Tote vor Ihrer Tür muss ein grauenvoller Schock gewesen sein!«
»In der Tat recht unerfreulich.« Es bereitete Leo ein unerklärliches Vergnügen, ihn zappeln zu lassen.
»Kannten Sie Herrn Jablonsky?«, wollte Ostermann wissen.
»Nein. Sie?«
»Flüchtig. Ich war einige Male in seinem Antiquariat.«
»Ich nehme an, er wollte zu meinem Onkel.«
Ostermann war verblüfft. »Sie sind eine Verwandte von Professor Heller?«
»Die Nichte.«
|49|Leo hatte sich bislang nicht namentlich vorgestellt, und an ihrer Tür befand sich noch kein Schild. Allerdings hätte sie doch vermutet, dass zumindest gerüchteweise ihr Name im Haus schon einmal gefallen wäre.
»Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Ihr Onkel hat oft von Ihnen gesprochen. Er hat Sie sehr gern gehabt.«
Leo konnte es nicht ausstehen, wenn die Leute mehr über sie wussten als sie selbst über diese. Katie hätte das vermutlich als zwanghaften Wunsch nach Kontrolle bezeichnet, Professor Irschinger hätte ihr wohl zugestimmt. Leo konnte nichts Zwanghaftes daran finden. Sie wusste nur gern, woran sie war. Ostermann kam ihr jedenfalls merkwürdig vor, als ob er schauspielerte und den Unbefangenen zu geben versuchte; seine Vorstellung war bescheiden.
»Kannten Sie meinen Onkel gut?«
Ostermann nickte. »Ich konnte ihm einige Male bei seinen Forschungsarbeiten weiterhelfen. Ich arbeite im Archiv der Landesbibliothek – die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek am Waterlooplatz, Ihr Onkel hat sie vielleicht mal erwähnt … Nein? Wie auch immer, wenn Professor Heller besondere Fachliteratur benötigte, wandte er sich an mich. Ich habe die Fernbestellungen für ihn ausgeführt und Bücher und Dissertationen aus aller Welt besorgt. Es war immer sehr interessant. Und außerdem waren wir ja Nachbarn.«
»Ich wusste nicht, dass mein Onkel in letzter Zeit noch so viel gearbeitet hat«, sagte Leo überrascht.
»Doch, doch. Professor Heller war kein Mann, der untätig herumsitzen konnte. Zuletzt …« Ostermann stockte, bevor er weitersprach.
»Noch kurz vor seinem Tod erarbeitete er die neue Ausstellung, die im Wilhelm-Busch-Museum zu sehen ist. – Hätten Sie Lust, morgen mit mir dorthin zu gehen?« fragte er unvermittelt. »Ich würde Ihnen gerne alles zeigen.«
Leo fühlte sich überrumpelt. »Nein«, sagte sie forscher als nötig. |50|»Sie gehen morgen höchstens zum Arzt. Und ich bin sowieso den ganzen Tag unterwegs.«
Ostermann zog ein gebügeltes Taschentuch hervor und putzte sich umständlich die Nase, als wollte er seine Verlegenheit über die Abfuhr verbergen.
»Vielleicht ein anderes Mal«, fügte Leo etwas freundlicher hinzu. Selbstverständlich wollte sie Onkel Ludwigs letzte Arbeit sehen. Aber nicht morgen. Sie musste doch nach Wiedensahl. Ihr kam ein Gedanke.
»Wo ist das überhaupt, dieses Wilhelm-Busch-Museum?«
»Sie kennen es nicht? Dann müssen Sie mir aber wirklich versprechen, mit mir dorthin zu gehen! Es ist hier in der Stadt, im alten Wallmodenschlösschen mitten im Georgengarten, einem wunderbaren Landschaftspark aus dem 18. Jahrhundert.«
Schade. Es hätte so gut gepasst. Kommen Sie um fünfzehn Uhr ins Wilhelm-Busch-Museum in Wiedensahl, in die Cafeteria namens Backstube. Oder so ähnlich.
»Das Museum ist eines der bekanntesten für Karikatur in Europa und das einzige, in dem sich eine solche Zahl an Lebenszeugnissen und Originalwerken von Busch befindet«, erklärte Ostermann, dessen Stimme immer rauer wurde.
Leo war an etwas anderem interessiert. »Wenn Sie sich so gut auskennen – wissen Sie, ob noch ein zweites Busch-Museum existiert? Irgendwo in der Nähe vielleicht?«
Ostermann schüttelte den Kopf. »Es gibt kleine Gedenkstätten und Heimatmuseen in den Orten, in denen Busch gelebt hat. In seinem Geburtsort Wiedensahl zum Beispiel oder in Ebergötzen, wo er seine Jugend verbracht hat. Aber ein größeres Museum? Ich glaube nicht. Weshalb fragen Sie?«
»Ach, nur so«, wich Leo aus. »Bei Gelegenheit werde ich mir ansehen, womit mein Onkel sich so befasst hat.«
Hoffentlich gab Ostermann sich damit zufrieden. Vorläufig war es besser, nichts über das Geheimprojekt Backstube zu erzählen.
|51|Bedächtig stellte Ostermann seinen Teebecher ab und heftete seinen Blick auf Leo.
»Ich war es, der Ihren Onkel gefunden hat. Hat man Ihnen das gesagt?«
Leo schüttelte erstaunt den Kopf. Sie hatte allerdings auch nicht danach gefragt.
Er verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Als er wieder aufsah, glänzten seine Augen verdächtig, was offensichtlich nicht nur am Fieber lag.
»Wussten Sie, dass Ihr Onkel eine zahme Krähe hatte?«
Leo nickte. »Einen Raben. Hans. Ich habe davon gehört.« Bei einem ihrer seltenen Telefonate hatte Ludwig seinen gefiederten Hausgenossen erwähnt.
»Hans Huckebein, genau wie bei Wilhelm Busch«, sagte Ostermann. »Ihr Onkel hat ihn gefunden. Kennen Sie die Geschichte? – Nein? – Eines Tages lag Hans mit gebrochenem Flügel auf dem Hof. Er war noch sehr jung, hatte noch nicht mal fliegen gelernt. Der Professor hat den Flügel geschient und den Vogel wieder aufgepäppelt. Als er ihn wieder in die Freiheit entlassen wollte, weigerte Hans sich. Er ließ sich einfach nicht vertreiben; am Ende durfte er bleiben. Wenn der Professor auf Reisen war, kümmerte ich mich um den Vogel. Ihr Onkel hatte extra einen großen Käfig für diese Gelegenheiten gekauft. Hier in der Wohnung durfte Hans frei herumhüpfen, aber bei mir musste er zur Sicherheit in den Käfig.«
Er warf ihr einen verlegenen Blick zu. »Wegen Rufus.«
Leo spähte zur Dachterrasse. Der Käfig befand sich immer noch dort draußen. Von dem riesigen Gitterwerk, das gut einen Meter in der Breite und noch etwas mehr in der Höhe maß, waren in der Dunkelheit nur schwarze Umrisse zu erkennen.
Ostermann hustete. Seine Stimme war noch rauer und tiefer geworden.
»Vor drei Wochen hatte ich Hans das letzte Mal in Pflege. Gleich an dem Abend, als der Professor zurückkam, brachte ich ihn |52|hinauf. Ihr Onkel …« Wieder ein rascher Blick zu Leo. »Tut mir leid, wenn ich das so direkt sage, aber er war ziemlich betrunken. So kannte ich ihn gar nicht. Er ließ den Vogel gleich aus dem Käfig. Keiner von uns beiden achtete auf die Terrassentür, die nur angelehnt war. Und da ist es passiert. Während wir uns unterhielten, entwischte Hans nach draußen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir das bemerkten. Hans hockte auf dem Sims über dem Badezimmerfenster und beobachtete die ganze Aufregung ungerührt.«
Ostermann schüttelte den Kopf. »Der Professor lockte und rief ihn, aber Hans blieb stur auf dem Sims. Ihr Onkel versuchte ihn zu fangen und kletterte auf die Brüstung, bevor ich ihn davon abhalten konnte. Es war nass draußen, es hatte geregnet. Die Steine auf der Terrasse und der Mauer waren glatt. Er muss einfach ausgerutscht sein.«
Ostermann sah zu Boden und versank in Schweigen.
»Und dann?«
»Bin ich nach unten gerannt, aber Wang Li war schon bei ihm. Der Notarzt kam …«
»So schnell?«
»Einer von Wang Lis Leuten muss sofort angerufen haben. Aber es war trotzdem zu spät. Der Professor kam nicht mehr zu Bewusstsein.
»Und der Vogel?«
Ostermann sah verwirrt auf.
»Haben Sie ihn gefangen?«, fragte Leo.
Er schüttelte den Kopf. »Hans ist verschwunden.«
Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach.
»Meine Schuld«, flüsterte Ostermann heiser.
»Reden Sie keinen Unsinn!«, sagte Leo gereizt. »Sie waren nicht Onkel Ludwigs Aufpasser. Steigern Sie sich da nicht in etwas hinein. Sie haben Fieber und gehören ins Bett.«
Das Lampenlicht spiegelte sich in Ostermanns Brillengläsern und Leo konnte nicht sehen, wie er auf den Anraunzer reagierte. Er stand auf.
|53|»Wahrscheinlich haben Sie recht. Es tut mir leid, wenn ich …«
»Und hören Sie um Himmels willen auf, sich ständig zu entschuldigen.« Mit jedem Wort, das er sagte, stieg ihre Gereiztheit und proportional dazu auch ihr schlechtes Gewissen.
»Nehmen Sie zwei Aspirin und ziehen Sie sich die Decke über die Ohren.«
»Mach ich.« Er rang sich ein Lächeln ab. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Danke für den Tee. Und wenn ich was für Sie tun kann – sagen Sie es mir bitte. Jederzeit!«
»Danke, Herr Ostermann.«
»Paul.«
»Also dann, gute Besserung, Paul.« Leo gab ihm die Hand und registrierte seinen kräftigen Händedruck.
Leo wartete, bis Ostermanns Schritte auf der Treppe verklangen und ein Stockwerk tiefer die Wohnungstür geschlossen wurde. Dann schaltete sie das Licht aus und ging durch die dunkle Wohnung zur Terrasse. Der schwache Lichtschein aus der Küche reichte gerade, um die Hindernisse auf dem Weg dorthin zu erhellen. Der Regen hatte aufgehört, die Luft war kalt und schwer. Leo roch die Abgase von Autos und Schornsteinen und einen schwachen Dunst von Bratöl, der von Wang Lis Küche hochstieg. In Ostermanns Wohnung ging das Licht an. Sein Balkon mit dem Zugang zur Feuerleiter lag direkt unterhalb ihrer Dachterrasse. Sie betrachtete das kleine Tor, das am linken Ende der Brüstung schief in den Angeln hing. Die Eisenstäbe waren rostig. Es quietschte leise, als sie es bewegte. Unten wurde die Balkontür geöffnet und wieder geschlossen. Eine Jalousie ratterte herunter.
Die Fliesen auf dem Boden und der Brüstung glänzten feucht vom Regen. Wie in der Nacht von Onkel Ludwigs Sturz, dachte Leo. Sie beugte sich über den Rand, sah hinab in den Hof und versuchte, die Höhe abzuschätzen. Drei Stockwerke. Fünfzehn Meter, vielleicht auch etwas mehr. Nicht überwältigend hoch, wenn man von unten hinauf sah, aber brutal tief, wenn man hinunterstürzte.
Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Dann sah sie sich |54|die Wände an den Enden der Terrasse genauer an. Rechter Hand befand sich eine Dachgaube mit dem Schlafzimmerfenster. Auf der linken Seite gab es eine zweite Gaube, die vom Bad abführte. Was Paul Ostermann als Sims bezeichnet hatte, war vermutlich das spitze Gaubendach. Wenn Leo sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie das obere Ende gerade eben erreichen.
Niemand in ihrer Familie war besonders groß gewesen, Onkel Ludwig auch nicht. Aber er war nicht so klein wie sie. Er hätte nicht unbedingt auf die Brüstung steigen müssen, um den verdammten Raben zu fangen. Warum hatte er nur so einen Blödsinn gemacht? Weil er betrunken war? Konnte ein Betrunkener wirklich so schnell klettern, dass es unmöglich war, ihn zurückzuhalten?
Noch etwas beschäftigte sie. Paul Ostermann hatte erzählt, dass Ludwig Heller verreist war. Leo wusste, dass ihr Onkel es gehasst hatte, ohne Not den Aufenthaltsort zu wechseln. Er verabscheute Züge, Koffer und Hotels. Wo war er gewesen?
***
|55|Wiedensahl, den 20 ten Mai 1853
Ich bin so in Sorge! Keine Nachricht mehr, seit Wilhelm nach Antwerpen gereist ist, um an der Königlichen Akademie der Künste zu studieren. Bald ein Jahr ist vergangen, und nun höre ich das Gerücht, er sei an Typhus erkrankt. Ich bete, es möge nur dummes Geschwätz sein. Den Waschweibern gefällt es, mich in Aufregung zu sehen.
Ach, es ist ein Fluch, ein Weib zu sein! Wäre ich ein Mannsbild, könnte ich unbehelligt durch die Welt reisen, müßte nicht zu Hause sitzen und auf Nachricht von draußen warten! Es macht mich wahnsinnig, Wilhelm in der fremden Stadt zu wissen, Krankheit hin oder her. Die niederländischen Mädchen seien drall und lebenslustig, heißt es, und fänden Gefallen daran, abends auf den Straßen zu flanieren. Ich frage mich, was er jetzt gerade treibt.
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Noch vor der Morgendämmerung brach Leo auf. Als sie an der Wohnung im zweiten Stock vorbeikam, meldete sich die Bulldogge mit einem kurzen Bellen. Hoffentlich weckte das Viech nicht das ganze Haus auf.
Draußen war alles ruhig. Durch den Dunstschleier der Stadt sah der Himmel aus wie ein gigantischer Saphir, den jemand leicht angehaucht hatte. Leo zog ihren Schal enger. Es war so kalt, dass ihr Atem weiß in der Luft stand.
Das Fahrrad wartete wie ein treuer Gaul in seinem Stall unter der Feuertreppe. Leo schnürte die Gepäcktaschen fest und zog die Plastiktüte vom Sattel. Aus dem Haus erklang leise und fragend der dünne Jammerlaut eines Babys. Das Weinen steigerte sich zu einem empörten Schreien, als niemand reagierte. In einem Fenster im ersten Stock ging schließlich das Licht an und der Umriss einer jungen Frau erschien. Das Baby verstummte.
Leo schob ihr Rad durch den Torbogen zur Linde. Der Lieferwagen parkte auf der anderen Straßenseite. Sie tätschelte den |56|Lindenstamm und flüsterte dem Baum ein paar aufmunternde Worte zu.
Am östlichen Horizont verfärbte sich der Himmel allmählich rötlich. Leo fuhr in ruhigem, gleichmäßigem Tempo und dachte an nichts. Während ihr Weg sie nach Westen führte, ging in ihrem Rücken die Sonne auf. Auf der dunklen Erde lag Nebel, den die ersten Sonnenstrahlen in einen goldenen Schleier verwandelten. Leo nahm das Blinklicht ab und radelte weiter.
Der Verkehr wurde lebhafter, ungeduldige Berufspendler und Lieferwagen überholten. Leo näherte sich der Autobahn, die schon zu hören war, lange bevor sie in Sichtweite kam; ein stetiges dumpfes Rauschen in der Morgenluft. Eine Brücke schleuste die Blechkarawane über die Landstraße hinweg, Metall glitzerte in der Sonne. Leo raste unter der Brücke hindurch und strampelte auf der anderen Seite wieder hoch, froh über jeden Meter Entfernung, den sie zwischen sich und die A 2 legte.
Ihr wurde warm; sie zog die Mütze vom Kopf und schob sie in eine Jackentasche. Bei Bad Nenndorf machte sie die erste Pause und sah auf der Karte nach. Die Hälfte der Strecke hatte sie geschafft. Sie trank Pfefferminztee aus der Thermoskanne und aß einen Riegel Schokolade, Leos Geheimwaffen gegen alles. Geballte Ladungen davon hatten ihr durch die harten Zeiten bei »Gartenbau-Meyer u. Sohn« geholfen.
Ihr letzter Job in Hamburg war ein ziemlicher Albtraum gewesen. Neugestaltung des Klinikparks am Eichfeld: Drei-Mann-Unternehmen zieht Großauftrag an Land! So hatte die Schlagzeile im Hamburger Abendblatt gelautet. Sie schufteten Tag für Tag, am Wochenende und auch in der Nacht. Während normale Menschen in ihren Betten schlummerten, rodete Leo im grellen Licht von Bauscheinwerfern Bäume, grub Wurzeln aus, schleppte Säcke voll mit Torfmull und musste nebenbei noch dumme Sprüche und peinliche Annäherungsversuche vom pickligen Meyer junior kontern. So etwas stand man nur mit Pfefferminztee und Schokolade |57|durch; sehr viel Schokolade. Und dem einen oder anderen Schuss Rum im Tee.
Es verschaffte Leo eine gewisse Genugtuung, Meyer junior eines Tages mit einer Ladung Hanfpflanzen zu erwischen. Sein Vater war zwar Chef, aber nur mangelhaft über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Cannabis sativa informiert. Im Übrigen hätte er Hanf nicht von Gurkendill unterscheiden können. Sehr gut unterscheiden konnte er dagegen zwischen guter und schlechter Publicity, und ein Auftritt der örtlichen Polizei auf seinem Gelände hätte ihm mit Sicherheit keine Freude bereitet. Unter diesen Umständen fiel es Leo nach ihrer Kündigung (denn wie sich herausstellte, hatte Meyer sie nur angeheuert, um den Klinikpark zu bewältigen) relativ leicht, Senior zum Sponsoring der Fortbildung am Bodensee und Junior zur aktiven Umzugshilfe zu überreden. Mit dem »Heinz Meyer u. Sohn, Gartenbau«-Lieferwagen und einem in die Hanfsache verwickelten Kumpel erledigte Junior die Schlepperei an einem einzigen Tag.
Das war noch nicht einmal eine Woche her.
Und was tat sie hier jetzt? Radelte an einem lausig kalten Novembermorgen stundenlang durch die Gegend, um einen ominösen Treffpunkt aufzusuchen und Onkel Ludwigs Geheimnis zu lüften.
Falls er eines hatte.
Anscheinend brannte Kommissar Sandved darauf, ihrem Onkel irgendwelche kriminellen Verwicklungen nachzuweisen. Das würde Leo nicht zulassen.
Im Süden tauchten die Ausläufer des Bückebergs auf. Bei Beckedorf quälte sich Leo über die lange Steigung und schoss auf der anderen Seite wieder hinunter, wobei sie höllisch aufpassen musste, den Autos nicht zu nahe zu kommen. Seit zweieinhalb Stunden war sie nun unterwegs und wurde langsam müde.